DAS GANZE INTERVIEW mit dem BIZEPS-Leiter und Menschenrechtsbeirat Martin Ladstätter Das Interview führten Markus Drechsler und Günter Schwedt. Martin Ladstätter, Gründungsmitglied geb. von 1966, ist BIZEPS Journalist und (Zentrum für Selbstbestimmtes Leben), einem - seit zwei Jahrzehnten bestehenden - Behindertenberatungszentrum in Wien. Weiters ist er Mitglied des Menschenrechtsbeirats der Volksanwaltschaft und im Monitoringausschuss. BIZEPS hat gemeinsam mit HOSI und ZARA den Klagsverband zur Durchsetzung der Rechte von Diskriminierungsopfern gegründet, bei dem er seit elf Jahren im Vorstand gewesen ist. Interview Herr Ladstätter, gibt es eine allgemein gültige Definition zu „Menschen mit Behinderungen“? Ab wann gilt ein Mensch als „Mensch mit Behinderung“? Eine eindeutige Definition von „Mensch mit Behinderung“ gibt es im österreichischen Recht de facto nicht. Behinderung ist schwierig zu definieren. Manche Gesetzte sprechen davon, wenn es einen gewissen Zeitraum umfasst. Wenn man zum Beispiel eine Treppe hinunterfällt es aber absehbar ist, dass man nach zwei Monaten wieder „geheilt“ ist, ist man zwar während dieser Zeit beeinträchtigt, aber nicht behindert. Ich habe als Mitarbeiter der Bundesregierung in einer Arbeitsgruppe an der Definition im Bundesbehindertengleichstellungsgesetz mitgearbeitet. Es waren monatelange Diskussionen nötig und wir entschieden uns, keine fixe Definition zu nehmen, damit sich jeder auf dieses Gesetz berufen kann wenn es nachvollziehbar ist. Es gibt die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Wird diese in Österreich gut umgesetzt, oder sehen Sie noch Handlungsbedarf? Nein. Österreich ist im Unterschreiben von Konventionen extrem schnell. Wir haben die Konvention als weltweit erster Staat 2007 unterschrieben. Ratifiziert wurde diese 2008, allerdings im Bewusstsein, alles darin Enthaltene schon umgesetzt zu haben. In den erläuternden Bemerkungen steht auch sogar darin, dass alles umgesetzt wurde. Das stimmt natürlich nicht. Wirklich spannend war die erste Staatenprüfung Österreichs im September 2013 in Genf. Da musste Österreich einen schriftlichen Bericht zum Umsetzungsstand einreichen. Der Fachausschuss hat dann in Genf - nach einer zweitägigen Prüfung und Gesprächen mit der Zivilgesellschaft - die Bemerkungen der UNO dazu verfasst. Wir haben damals versucht das Thema breit zu streuen. Dabei haben wir es auf Deutsch, in Österreichische Gebärdensprache und „Leichter Lesen“ übersetzt. In diesem Bericht steht ganz klar drin, was in Österreich noch nicht funktioniert, und das ist erschreckend viel. Wo sehen Sie den größten Nachholbedarf bei den Rechten von Menschen mit Behinderungen? Beispielsweise im Bildungsbereich. Österreich hat ein aussonderndes Bildungssystem. Behinderte Menschen werden zu einem sehr hohen Anteil in Sonderschulen ausgesondert. Aber auch Menschen mit Migrationshintergrund sind davon betroffen: Ein Drittel aller Sonderschüler in Wien hat „als Behinderung“ ausschließlich einen Migrationshintergrund. Hier werden Schülerinnen und Schüler die schwierig sind ausgesondert. Und das ist ein Grundprinzip unserer Gesellschaft an dem wir arbeiten müssen. Die Abschaffung dieser Sonderschulen muss passieren! Nur diese Diskussion ist in Österreich höchst umstritten. Unser Schulsystem, neben dem in Deutschland und der Schweiz, basiert auf gesonderter Förderung. Der inklusive Charakter wurde nie verstanden und daher gibt es jetzt massive Probleme um das System umzustellen. Ich würde die Schaffung der gemeinsamen Schule begrüßen, der SPÖ muss man aber noch erklären, dass das auch die behinderten Kinder mit umfasst. Das ist nicht ganz so leicht. Ein anderer Bereich ist die Heimunterbringung. Eigentlich liest man in der Konvention bei Artikel 19, dass das Leben in Gesellschaft garantiert sein soll. Das spielt es allerdings in der Praxis nicht. Immer mehr Menschen in Österreich kommen in Heime. Es gibt von jeder Partei auch Behindertensprecher. Sehen Sie sich von diesen politisch gut vertreten? Nein. Die SPÖ hat es bis jetzt noch nicht geschafft eine behinderte Person zum Behindertensprecher zu ernennen. Es gibt momentan drei behinderte Abgeordnete im Parlament. Franz-Joseph Huainigg von der ÖVP, Helene Jarmer von den Grünen und Norbert Hofer von den Freiheitlichen nach seinem Sturz. Es macht aber nicht nur die Anzahl aus sondern die Aktivitäten und die Wichtigkeit in einer Partei. Wir sind untervertreten und auch an den falschen Positionen. Wobei man sagen muss, der Abgeordnete Hofer ist dritter Nationalratspräsident, eine wichtige Funktion. Aber die Behindertensprecherinnen der SPÖ sind nett, aber schlicht und ergreifend extrem unbedeutend. Und das Gleiche passiert in den Bundesländern. In fast keinen der Landtage gibt es behinderte Abgeordnete. In Wien beispielsweise gab es noch nie einen behinderten Abgeordneten. Nicht einmal bei den Grünen. Und das fällt nicht einmal jemandem auf. Unvorstellbar, aber es ist leider so. Welche konkreten Beeinträchtigungen im Alltag bestehen für Menschen mit Behinderungen? Das ist eine schwierige Frage, die nur leicht aussieht. Das Ziel muss die Inklusion sein, dann müsste man diese Frage nicht mehr stellen. Wie kommt man aber dort hin? Das wird für jeden behinderten Menschen etwas anderes sein. Wenn man beispielsweise eine Lernschwierigkeit hat, dann fühlt man sich extrem ausgesondert weil man nicht versteht was in diversen Unterlagen steht, die aber wichtig sind. Wenn jemand blind ist, ist es extrem störend, dass sehr viele Internetseiten nicht zugänglich sind. Wenn jemand gehörlos ist, stört es von der Kommunikation sehr stark ausgesondert zu sein, weil sehr wenig Gebärdensprache angeboten wird. Wenn jemand körperbehindert ist und einen E-Rolli benützt, stören die vielen vorhandenen Stufen und nicht nutzbare Infrastruktur wie jetzt eben die Toilettanlagen der Wiener Linien die einfach aus Jux und Tollerei alle barrierefreien Toiletten zugesperrt haben, weil sie diese nicht säubern wollen. Wenn plakatiert wird „Die Stadt gehört Dir“ als Werbeslogan, möchte ich meine Toiletten offen haben. Die Toiletten die im Eigentum der Stadt Wien waren, sind in das Eigentum unserer Verkehrsbetriebe gewandert. Als Kunde ist mir das egal, denn die Stadt gehört mir also auch die Verkehrsbetriebe. Es gab im April eine entbehrliche Aussage von Landeshauptmann Pröll in der ORF-Pressestunde zur Barrierefreiheit von niederösterreichischen Gasthäusern. Glauben Sie, gibt es noch viele Menschen die eine derartige Einstellung zur Barrierefreiheit haben? Ja und Nein. Der Landeshauptmann Erwin Pröll hat mit seiner Aussage einen Punkt getroffen, der in seiner Generation sehr häufig anzutreffen ist: Wer braucht eigentlich Barrierefreiheit? Was er unterschätzt hat ist, dass er das nicht 1985 gesagt hat sondern 2015. Und der Unterschied ist, dass man heute sowieso davon ausgegangen wäre, dass die Barrierefreiheit in einem viel größerem Ausmaß passt als damals. Wir haben uns zuerst wahnsinnig geärgert über die Aussage, dass die Kultur der niederösterreichischen Wirtshäuser beeinträchtigt wird, wenn man ihnen Vorschriften macht, die sie nicht einhalten können. Erstens stimmt das nicht, denn das Bundesbehindertengleichstellungsgesetz hat eine Zumutbarkeitsbestimmung enthalten, die aussagt, dass Barrierefreiheit jene schaffen müssen, die es machen können. Nicht, dass es alle machen müssen. Unsere Erfahrung zeigt, dass die Bevölkerung den Stand und die Notwendigkeit der Barrierefreiheit noch viel höher ansetzt. Zum Beispiel als wir um barrierefreie Autobusse gekämpft haben und Busse besetzt haben, hatten wir die Angst, dass die Fahrgäste auf uns sauer sind. Ganz was anderes ist passiert. Die Fahrgäste sind aber auf uns zugekommen und dachten, dass die Busse bereits für alle zugänglich sind. Genau das passiert auch bei der Barrierefreiheit. Die Bevölkerung erwartet heute, dass ein hoher Standard an Barrierefreiheit vorhanden ist - wissend, dass das noch nicht überall umgesetzt ist - aber entsetzt, wenn das nicht passiert. Das wurde vom Landeshauptmann unterschätzt. Jetzt bin ich ihm sogar dafür dankbar, dass er den Blödsinn so formuliert hat, weil die Diskussion dadurch wieder aufgekommen ist. Es kann aber sein, dass die Regierung aus Kurzsichtigkeit wieder Unsinnigkeiten beschließt. Im April hat der Landtag in der Steiermark beschlossen, die Maßnahmen der Barrierefreiheit zu verschlechtern. Die Pflicht bei Neubauten ab wann ein Aufzug einzubauen ist, wurde um ein Stockwerk hinaufgesetzt. Erst ab dem 4. Stock ist es nun vorgeschrieben, was natürlich ein Unsinn ist. Jeder von uns weiß, dass die Bevölkerung überaltert. Was passiert mit Menschen die alt sind und im 3. Stock ohne Aufzug leben? Sie kommen relativ schnell in ein Heim. Das ist viel teurer, als in den eigenen Wohnungen. Außerdem wollen 80% der Menschen zuhause alt werden und nicht in einem Pflegeheim. Zur Arbeit: es gab die Problematik, dass behinderte Menschen schwieriger durch den Dienstgeber gekündigt werden können. Wie ist derzeit die Situation und was sollte noch geändert werden? Wir haben eine Regelung gehabt, die besagte, dass „begünstigte Behinderte“ gemäß Behinderteneinstellungsgesetz einen erhöhten Kündigungsschutz genießen. Es gab in Österreich nie einen total Kündigungsschutz. Konkret musste der Dienstgeber am Bundessozialamt einen Antrag stellen, ob er den Dienstnehmer entlassen kann. Ein Ausschuss hat dann darüber entschieden. Man hat dann 2011 versucht die Wirtschaft zu ködern und weichte die Regelung total auf, damit mehr Menschen mit Behinderung eingestellt werden. Es hat überhaupt nichts gebracht. Die Arbeitslosenzahlen der Menschen mit Behinderungen sind dramatisch gestiegen. Wir haben Jahr für Jahr Steigerungen bei der Arbeitslosenquote von Menschen mit Behinderungen von plus 15% und mehr. Es explodiert fürchterlich. Dem Ministerium ist das bereits auch schon aufgefallen und es gab eine Evaluierung der Gesetzesnovelle 2011. Die Ergebnisse sind katastrophal, aber es wird nichts unternommen. Der jetzige Minister ist nicht unbedingt dafür bekannt, dass er sich im Bereich Menschen mit Behinderungen aktiv einsetzt. Ich bin jedenfalls gespannt, wie lange es dauern wird, bis etwas unternommen wird. Was müsste man denn Ihrer Meinung nach konkret ändern? Die Arbeitslosenzahlen bei Menschen mit Behinderungen müssen runter. Das ist das Ziel, die Zwischenschritte sind vielfältig. Ein Schritt, den wir fordern, ist die Erhöhung der Ausgleichstaxe. Wenn ein Unternehmen 25 Menschen beschäftigt, muss auch eine Person eingestellt werden, die „begünstigt behindert“ mit mehr als 50% ist. Wenn das nicht passiert, ist eine Ausgleichstaxe zu bezahlen. Dieser Betrag ist derzeit sehr gering. In mehreren Stufen beginnt es bei circa 230 Euro. Das sind also für ein Unternehmen in etwa 10 Euro pro Mitarbeiter und Monat, wird also aus der Portokasse bezahlt. Es sollte so sein, dass wenn das Unternehmen keinen Menschen mit Behinderung beschäftigt, dass trotzdem ein volles Kollektivvertrag-Gehalt bezahlt werden muss. Dann würden sich die Unternehmen überlegen, dass wenn sie die Person sowieso bezahlen muss, eine Einstellung besser wäre. Das wird allerdings nicht möglich sein. Die Wirtschaft und der Verfassungsdienst des Bundeskanzleramtes sind dagegen, weil es als ein zu großer Eingriff in die Unternehmen gesehen wird. Eine zweite Forderung ist die zielgerichtetere Verwendung der „Behindertenmilliarde“. Das war ein Programm zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen. Damals natürlich noch in Schilling gerechnet. Da fließt nach wie vor ziemlich viel Geld hinein, allerdings nicht sehr effizient. Das ist ähnlich wie bei den AMS-Schulungen. Da wird auch sehr viel Geld hineingepulvert, aber ohne effizienten Output. Die meisten Beschäftigten in Projekten der „Behindertenmilliarde“ sind grundsätzlich nicht behindert, denn es sind die Trainer und Beschäftigten. Die Zielsetzung stimmt, aber effizient ist es nicht. Ich erwarte mir, dass auch Menschen mit Behinderungen als Trainer und Mitarbeiter in den Organisationen vorgeschrieben werden. Viele dieser Organisationen erfüllen selbst nicht einmal die Beschäftigungspflicht. Die Caritas zum Beispiel erfüllt sie nicht, obwohl sie einer Nutznießer der „Behindertenmilliarde“ ist. Man muss das ansprechen! Es wurde 2006 bereits evaluiert, wie viele Standorte der „Behindertenmilliarde“-Projekte barrierefrei erreichbar sind. Es waren nur knapp mehr als die Hälfte. Da läuteten alle Alarmglocken und es hat sich deutlich verbessert, aber es ist peinlich, dass es überhaupt zu so einer Situation kam. Die Diskussionen um Menschen mit einer Lernbehinderung sind kaum wahrnehmbar. Was wird konkret unternommen um diesen Menschen zu helfen? Wir von BIZEPS sind Anhänger der Theorie, dass betroffene Menschen sich selbst äußern und selbst vertreten. Kritisch gesagt hat die Selbstvertretung von Menschen mit Lernbehinderungen ein Problem. Die Lebenshilfe als Trägerverein gibt vor sie zu vertreten. Das ist ein gesellschaftliches und historisches Problem. Es wird aber besser, weil immer mehr Menschen mit Lernbehinderung in die Öffentlichkeit treten. Allerdings gibt es kaum strukturelle Ressourcen. Das muss ausgebaut werden, denn es kann nicht sein, dass sich die Lebenshilfe mit Millionenverträgen ausstattet, damit sie Betreuungsleistungen anbietet. Ich habe gestern von einer Abgeordneten in Salzburg gehört, dass es den Wunsch gibt, „Leichter Lesen“ zu forcieren. Dort haben zwei Menschen mit Lernschwierigkeiten den Abgeordneten erklärt warum das für sie wichtig ist. ExpertInnen in eigener Sache müssen das erklären. Die FPÖ hat dagegen gestimmt, denn sie wollen, dass die Ausländer Deutsch lernen. Das ist ein Unsinn denn natürlich sollen Menschen mit Migrationshintergrund Deutsch lernen, aber „Leichter Lesen“ bringt ja allen etwas - nicht nur Menschen mit Lernschwierigkeiten. Es gibt immer wieder Initiativen in den Ministerien, aber auch in den Ländern. Die letzte große Initiative war in Oberösterreich. Bescheide werden dort - wenn man das möchte - in „Leichter Lesen“ ausgestellt und das umzusetzen ist nicht einfach. Juristische Texte in „Leichter Lesen“ zu bringen ist schwierig, aber der Kunde hat ein Recht darauf zu verstehen was die Behörden ihm schreiben. Kommen wir zum Maßnahmenvollzug. Sie haben gemeinsam mit Marianne Schulze vor einigen Monaten Untergebrachte in der Justizanstalt Mittersteig besucht. Was ist Ihnen davon im Gedächtnis geblieben, welche Erinnerung aus den Gesprächen ist am Nachhaltigsten? Ich habe eine Vielzahl von Erinnerung an diesen Besuch. Es war nicht das erste Mal, dass ich so etwas gemacht habe. Was mich persönlich am meisten schockiert, ist die strukturierte Hilflosigkeit des Systems. Das betrifft Jene die es verwalten und Jene die darunter leiden müssen. Außerdem schockiert mich das gesellschaftliche Wegschauen um das System zu stabilisieren. Wenn ein gesellschaftlicher Konsens vorhanden wäre um dieses hilflose System auf Beine zu stellen die menschenrechtlich fundiert wären, wäre es ein anderes System. Das Wegschauen aber stabilisiert es. Das ist nicht nur im Maßnahmenvollzug so, das ist auch bei Pflegeheimen und bei Behinderteneinrichtungen genauso. Durch meine Arbeit sehe ich die Parallelen die es gibt. Es ist eine Aussonderung von Menschen die man nicht in der Gesellschaft haben will. Der Ansatz, in Bezug auf die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen Artikel 19, wäre „Leben in der Gesellschaft“. Das wird im Maßnahmenvollzug 2015 so nicht gelebt. Denn dann wäre es anders und das wissen wir auch. Es gibt Reformbestrebungen des Ministers den Maßnahmenvollzug zu reformieren. Wären Sie zufrieden, wenn die Vorschläge der Arbeitsgruppe umgesetzt werden würden? Viel wichtiger wäre es, wenn Sie zufrieden wären. Das ist der von mir erwähnte Selbstvertretungsanspruch. Wenn ich als Außenstehender glaube, dass es passt, ist es vielleicht eine interessante Einzelmeinung, aber viel relevanter ist die Meinung derjenigen die hier arbeiten und hier untergebracht sind. Es ist schade, dass mit den Partnern, die für eine Transformation dieses Systems notwendig sind, überhaupt nicht gesprochen wurde. Ich habe auch gehört, dass mit den Bundesländern überhaupt nicht strukturiert verhandelt wurde. Wenn man das System aus dem haftähnlichen Charakter raushole und in ein anderes System transferiert, ist man sehr schnell im Verantwortungsbereich der Bundesländer. Vielleicht fehlen mir da auch Informationen, aber was ich bisher gehört habe, sind die Bundesländer nicht bereit hier einen wertvollen Beitrag leisten zu wollen. Sie waren auch in der Arbeitsgruppe nicht vertreten und ich habe bereits gehört, dass die Bereitschaft nur dann besteht, wenn der Bund das finanziert. Die ganze Reform des Maßnahmenvollzuges gelingt oder scheitert an den Verhandlungen zum Finanzausgleich die jetzt beginnen. Hier müssen klar die Aufgaben verteilt werden. Wenn da nicht enthalten ist, dass die Bundesländer dafür zuständig sind und daher Ausgleichszahlungen erhalten, wird es nicht funktionieren. Es sind aber auch interessante Aspekte in den Reformvorschlägen der Arbeitsgruppe enthalten, man sieht aber auch was sie sich nicht trauten anzugreifen. Der Mut war endenwollend dieses System komplett umzubauen. Zwischen Revolution und Evolution sind noch ein paar Schritte. Zudem kommen noch die ganzen strukturellen Probleme des Maßnahmenvollzugs. Sehen Sie es als wichtig, dass auch im Maßnahmenvollzug Selbstvertreter geschaffen werden? Nein, das ist keine Wichtigkeit, das ist eine absolute Notwendigkeit. Wir haben ganz bewusst Selbstvertreter des Maßnahmenvollzugs in einer Kampagne unterstützt an die Öffentlichkeit zu treten. Aus der Überlegung heraus, dass man nicht für Selbstbestimmung eintreten kann und dann aber doch die Meinung vertritt besser zu wissen was für andere gut ist und was man zu wollen hat. Diese Partizipation von Selbstvertretern des Maßnahmenvollzugs in der Arbeitsgruppe zur Reform hat aber nicht stattgefunden. Das wäre aber eine absolute Notwendigkeit gewesen. Es wäre die Gelegenheit gewesen, dass die Teilnehmer erfahren hätten wie es wirklich ist und nicht nur eine akademische Haltung zu vertreten mit der Ansicht „Ich kann mir vorstellen was dort läuft“, sondern so wie der Alltag der Beschäftigten und der Untergebrachten tatsächlich verläuft. Das hat leider gefehlt. Wir haben die gleiche Diskussion jetzt gerade zwischen Bund und Ländern. Sie vereinbaren die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention umsetzen und haben in der ersten Sitzung beschlossen die Betroffenen nicht einzuladen. Partizipation ist in Österreich sehr unterentwickelt und darum muss man kämpfen. Selbstbestimmung muss man in allen Bereichen ernst nehmen und alle Bereiche heißt nun mal ALLE Bereiche. Sehen Sie das Inhaftieren von Menschen nach dem Strafende aus präventiven Gründen als menschenrechtlich vertretbar? Vertreter des Systems sehen das Inhaftieren nicht als Strafe sondern als Therapie - ähnlich die Argumentation Deutschlands am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - und halten das auch für menschenrechtlich unbedenklich. Das hat mir so noch niemand erklären können. Wenn man sagt, dass man über die Strafe hinaus angehalten wird, dann muss das sachlich rechtfertigbar sein. Sachlich gerechtfertigt ist es aber nicht, wenn man Systeme, die für die Betroffenen besser wären, man sich die aber als Gesellschaft nicht leisten will, nicht hat. Das Leben in der Gesellschaft kann auch anders sein, das muss nicht durch Wegsperren sein. Das kann auch durch viel mehr Unterstützungsmaßnahmen sein. Spiegelt das einfache Wegsperren nicht unser heutiges Gesellschaftsbild wieder? Natürlich, und da sind wir dann wieder bei den Parallelen. Wir kämpfen sehr intensiv für die „Persönliche Assistenz“, das bedeutet, dass Menschen mit Behinderungen individuelle Unterstützungen bekommen. Das kostet viel Geld, ich zum Beispiel bekomme von der Stadt Wien 5.000 Euro, damit ich Unterstützungen zukaufen und MitarbeiterInnen anstellen kann, damit ich am Leben in der Gesellschaft teilnehmen kann. Die Stadt Wien kann auch sagen, dass das nicht notwendig ist und stattdessen einen Heimplatz schaffen. Dann wäre ich allerdings eingesperrt mit exakt denselben Zuständen wie sie in Haftanstalten vorzufinden sind. Da darf man dann am Dienstag und am Freitag duschen, egal ob im Winter oder Sommer - als Begründung gibt es dann das Ressourcenproblem. Will ich als Gesellschaft die Menschenrechte des Einzelnen umsetzen oder mache ich eine Mangelverwaltung? Es gibt Gruppen in der Gesellschaft, die meinen, dass ist der Einzelne nicht wert. Ich bin in der Volksanwaltschaft im Menschenrechtsbeirat und darf daher nur relativ wenige Details erzählen. Ich sehe durch die Prüfberichte aber was in Altenheimen passiert, zum Beispiel der nun in den Medien diskutierte Medikamentenmissbrauch damit die Menschen dort um sechs Uhr im Bett sind und schlafen. Im Maßnahmenvollzug ist es das gleiche. Warum kann ich jemand nicht eine Betreuung zur Seite stellen, damit er in einer eigenen Wohnung leben kann? Das ist natürlich derzeit noch illusionär, aber meiner Meinung nach menschenrechtlich gefordert. Warum soll ich jemand lebenslang wegsperren müssen, nur weil ich Angst habe? Natürlich muss es gewissen Schutzmechanismen geben, aber die müssen nicht zwangsläufig hinter einer Mauer sein. Es wird bei manchen extrem aufwendig sein, aber menschenrechtlich notwendig. Auch auf die Gefahr hin, dass wir manchmal scheitern. Trotzdem hat jeder seine Menschenrechte. Wir scheitern bei vielen Dingen, aber es nicht zu versuchen ist auch ein Scheitern mit der Zusatzkomponente, dass ich jemanden damit die Menschenrechte verweigere und genau das ist nicht verantwortbar. Ich verstehe auch, dass jedes Opfer einer Straftat höchst sensibilisiert und verängstigt ist, aber dennoch hat die Gesellschaft eine Verantwortung für jedes Mitglied seiner Gesellschaft. Auch bei den Mitgliedern, bei denen ich Vorsicht walten lassen muss, hat die Gesellschaft trotzdem die Verantwortung, denn die Menschenrechte kann man nicht verwirken. Es ist auch ähnlich wie bei der Inklusion in der Schule. Bei vielen SchülerInnen wäre es überhaupt kein Problem, bei manchen wäre es sehr herausfordernd und bei manchen fehlt uns jetzt noch die Phantasie wie es realisierbar wäre. Wenn Sie unbeschränkte Mittel und Möglichkeiten und Sie hätten die Macht drei Wünsche umzusetzen, welche wären das? Ich würde den Bundesländern die Gesetzgebungskompetenz wegnehmen, das wäre sehr wichtig und man spart dabei noch. Zweitens würde ich ein Deinstitutionalsierungsprogramm starten und Einrichtungen die Aussondern werden aufgelöst. Den dritten Wunsch hebe ich mir auf, falls mir etwas einfällt. Gibt es noch etwas, das Sie unseren Lesern mitteilen möchten? In den Mühen des Alltages gibt es zwei Sprüche die mir viel bedeuten. Der eine heißt „Wenn wir heute nichts tun, wird morgen wie gestern.“ Wir müssen aktiv bleiben, denn nur so haben wir die Chance etwas zu ändern. Der zweite ist von Ed Roberts, dem Gründer der internationalen Selbstbestimmt-LebenBewegung. Er hat gesagt: „Für mich ist der Zorn eines der wichtigsten Elemente in unserer Bewegung.“ Vielleicht bedarf es dessen auch, um etwas zu ändern. Wordrap Behinderung - O.K. Barrierefreiheit - Ganz wichtig für alle. Menschenrechte - Werden in Österreich nicht richtig umgesetzt. Selbstvertretung - Zu wenige werden gehört. Maßnahmenvollzug - Kennt man in zwanzig Jahren nicht mehr. Lieblingsbuch - Der kleine Prinz. Lieblingsmusik - Die von Konstantin Wecker. Drei Dinge für die einsame Insel - Einen Hubschrauber, weil ich es auf einer einsamen Insel nicht aushalten würde. Auch das Internet und Menschen. Dann wäre es zwar nicht mehr eine einsame Insel, aber ich bin bekannt dafür, dass ich Regeln, die mir nicht passen, umformuliere. Wir bedanken uns sehr herzlich bei Martin Ladstätter für die Gelegenheit zu diesem sehr informativen und interessanten Interview! Online erschienen auf www.blickpunkte.co im Mai 2015. Originalartikel abrufbar unter www.blickpunkte.co/201505interview3.pdf
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