Die Partizipation von Selbstvertretern des

DAS GANZE INTERVIEW
mit dem BIZEPS-Leiter und Menschenrechtsbeirat
Martin Ladstätter
Das Interview führten Markus Drechsler und Günter Schwedt.
Martin
Ladstätter,
Gründungsmitglied
geb.
von
1966,
ist
BIZEPS
Journalist
und
(Zentrum
für
Selbstbestimmtes Leben), einem - seit zwei Jahrzehnten
bestehenden
-
Behindertenberatungszentrum
in
Wien.
Weiters ist er Mitglied des Menschenrechtsbeirats der Volksanwaltschaft und im
Monitoringausschuss. BIZEPS hat gemeinsam mit HOSI und ZARA den
Klagsverband zur Durchsetzung der Rechte von Diskriminierungsopfern
gegründet, bei dem er seit elf Jahren im Vorstand gewesen ist.
Interview
Herr Ladstätter, gibt es eine allgemein gültige Definition zu „Menschen mit
Behinderungen“? Ab wann gilt ein Mensch als „Mensch mit Behinderung“?
Eine eindeutige Definition von „Mensch mit Behinderung“ gibt es im österreichischen Recht
de facto nicht. Behinderung ist schwierig zu definieren. Manche Gesetzte sprechen davon,
wenn es einen gewissen Zeitraum umfasst. Wenn man zum Beispiel eine Treppe hinunterfällt
es aber absehbar ist, dass man nach zwei Monaten wieder „geheilt“ ist, ist man zwar während
dieser Zeit beeinträchtigt, aber nicht behindert. Ich habe als Mitarbeiter der Bundesregierung
in einer Arbeitsgruppe an der Definition im Bundesbehindertengleichstellungsgesetz
mitgearbeitet. Es waren monatelange Diskussionen nötig und wir entschieden uns, keine fixe
Definition zu nehmen, damit sich jeder auf dieses Gesetz berufen kann wenn es
nachvollziehbar ist.
Es gibt die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.
Wird diese in Österreich gut umgesetzt, oder sehen Sie noch Handlungsbedarf?
Nein. Österreich ist im Unterschreiben von Konventionen extrem schnell. Wir haben die
Konvention als weltweit erster Staat 2007 unterschrieben. Ratifiziert wurde diese 2008,
allerdings im Bewusstsein, alles darin Enthaltene schon umgesetzt zu haben. In den
erläuternden Bemerkungen steht auch sogar darin, dass alles umgesetzt wurde. Das stimmt
natürlich nicht. Wirklich spannend war die erste Staatenprüfung Österreichs im September
2013 in Genf. Da musste Österreich einen schriftlichen Bericht zum Umsetzungsstand
einreichen. Der Fachausschuss hat dann in Genf - nach einer zweitägigen Prüfung und
Gesprächen mit der Zivilgesellschaft - die Bemerkungen der UNO dazu verfasst. Wir haben
damals versucht das Thema breit zu streuen. Dabei haben wir es auf Deutsch, in
Österreichische Gebärdensprache und „Leichter Lesen“ übersetzt. In diesem Bericht steht ganz
klar drin, was in Österreich noch nicht funktioniert, und das ist erschreckend viel.
Wo sehen Sie den größten Nachholbedarf bei den Rechten von Menschen mit
Behinderungen?
Beispielsweise im Bildungsbereich. Österreich hat ein aussonderndes Bildungssystem.
Behinderte Menschen werden zu einem sehr hohen Anteil in Sonderschulen ausgesondert.
Aber auch Menschen mit Migrationshintergrund sind davon betroffen: Ein Drittel aller
Sonderschüler in Wien hat „als Behinderung“ ausschließlich einen Migrationshintergrund.
Hier werden Schülerinnen und Schüler die schwierig sind ausgesondert. Und das ist ein
Grundprinzip unserer Gesellschaft an dem wir arbeiten müssen. Die Abschaffung dieser
Sonderschulen muss passieren! Nur diese Diskussion ist in Österreich höchst umstritten.
Unser Schulsystem, neben dem in Deutschland und der Schweiz, basiert auf gesonderter
Förderung. Der inklusive Charakter wurde nie verstanden und daher gibt es jetzt massive
Probleme um das System umzustellen. Ich würde die Schaffung der gemeinsamen Schule
begrüßen, der SPÖ muss man aber noch erklären, dass das auch die behinderten Kinder mit
umfasst. Das ist nicht ganz so leicht.
Ein anderer Bereich ist die Heimunterbringung. Eigentlich liest man in der Konvention bei
Artikel 19, dass das Leben in Gesellschaft garantiert sein soll. Das spielt es allerdings in der
Praxis nicht. Immer mehr Menschen in Österreich kommen in Heime.
Es gibt von jeder Partei auch Behindertensprecher. Sehen Sie sich von diesen
politisch gut vertreten?
Nein. Die SPÖ hat es bis jetzt noch nicht geschafft eine behinderte Person zum
Behindertensprecher zu ernennen. Es gibt momentan drei behinderte Abgeordnete im
Parlament. Franz-Joseph Huainigg von der ÖVP, Helene Jarmer von den Grünen und Norbert
Hofer von den Freiheitlichen nach seinem Sturz. Es macht aber nicht nur die Anzahl aus
sondern die Aktivitäten und die Wichtigkeit in einer Partei. Wir sind untervertreten und auch
an den falschen Positionen. Wobei man sagen muss, der Abgeordnete Hofer ist dritter
Nationalratspräsident, eine wichtige Funktion. Aber die Behindertensprecherinnen der SPÖ
sind nett, aber schlicht und ergreifend extrem unbedeutend. Und das Gleiche passiert in den
Bundesländern. In fast keinen der Landtage gibt es behinderte Abgeordnete. In Wien
beispielsweise gab es noch nie einen behinderten Abgeordneten. Nicht einmal bei den Grünen.
Und das fällt nicht einmal jemandem auf. Unvorstellbar, aber es ist leider so.
Welche konkreten Beeinträchtigungen im Alltag bestehen für Menschen mit
Behinderungen?
Das ist eine schwierige Frage, die nur leicht aussieht. Das Ziel muss die Inklusion sein, dann
müsste man diese Frage nicht mehr stellen. Wie kommt man aber dort hin? Das wird für jeden
behinderten Menschen etwas anderes sein. Wenn man beispielsweise eine Lernschwierigkeit
hat, dann fühlt man sich extrem ausgesondert weil man nicht versteht was in diversen
Unterlagen steht, die aber wichtig sind. Wenn jemand blind ist, ist es extrem störend, dass sehr
viele Internetseiten nicht zugänglich sind. Wenn jemand gehörlos ist, stört es von der
Kommunikation sehr stark ausgesondert zu sein, weil sehr wenig Gebärdensprache angeboten
wird. Wenn jemand körperbehindert ist und einen E-Rolli benützt, stören die vielen
vorhandenen Stufen und nicht nutzbare Infrastruktur wie jetzt eben die Toilettanlagen der
Wiener Linien die einfach aus Jux und Tollerei alle barrierefreien Toiletten zugesperrt haben,
weil sie diese nicht säubern wollen. Wenn plakatiert wird „Die Stadt gehört Dir“ als
Werbeslogan, möchte ich meine Toiletten offen haben. Die Toiletten die im Eigentum der Stadt
Wien waren, sind in das Eigentum unserer Verkehrsbetriebe gewandert. Als Kunde ist mir das
egal, denn die Stadt gehört mir also auch die Verkehrsbetriebe.
Es gab im April eine entbehrliche Aussage von Landeshauptmann Pröll in der
ORF-Pressestunde
zur
Barrierefreiheit
von
niederösterreichischen
Gasthäusern. Glauben Sie, gibt es noch viele Menschen die eine derartige
Einstellung zur Barrierefreiheit haben?
Ja und Nein. Der Landeshauptmann Erwin Pröll hat mit seiner Aussage einen Punkt getroffen,
der in seiner Generation sehr häufig anzutreffen ist: Wer braucht eigentlich Barrierefreiheit?
Was er unterschätzt hat ist, dass er das nicht 1985 gesagt hat sondern 2015. Und der
Unterschied ist, dass man heute sowieso davon ausgegangen wäre, dass die Barrierefreiheit in
einem viel größerem Ausmaß passt als damals. Wir haben uns zuerst wahnsinnig geärgert über
die Aussage, dass die Kultur der niederösterreichischen Wirtshäuser beeinträchtigt wird, wenn
man ihnen Vorschriften macht, die sie nicht einhalten können. Erstens stimmt das nicht, denn
das Bundesbehindertengleichstellungsgesetz hat eine Zumutbarkeitsbestimmung enthalten,
die aussagt, dass Barrierefreiheit jene schaffen müssen, die es machen können. Nicht, dass es
alle machen müssen. Unsere Erfahrung zeigt, dass die Bevölkerung den Stand und die
Notwendigkeit der Barrierefreiheit noch viel höher ansetzt. Zum Beispiel als wir um
barrierefreie Autobusse gekämpft haben und Busse besetzt haben, hatten wir die Angst, dass
die Fahrgäste auf uns sauer sind. Ganz was anderes ist passiert. Die Fahrgäste sind aber auf
uns zugekommen und dachten, dass die Busse bereits für alle zugänglich sind. Genau das
passiert auch bei der Barrierefreiheit. Die Bevölkerung erwartet heute, dass ein hoher Standard
an Barrierefreiheit vorhanden ist - wissend, dass das noch nicht überall umgesetzt ist - aber
entsetzt, wenn das nicht passiert. Das wurde vom Landeshauptmann unterschätzt. Jetzt bin
ich ihm sogar dafür dankbar, dass er den Blödsinn so formuliert hat, weil die Diskussion
dadurch wieder aufgekommen ist. Es kann aber sein, dass die Regierung aus Kurzsichtigkeit
wieder Unsinnigkeiten beschließt. Im April hat der Landtag in der Steiermark beschlossen, die
Maßnahmen der Barrierefreiheit zu verschlechtern. Die Pflicht bei Neubauten ab wann ein
Aufzug einzubauen ist, wurde um ein Stockwerk hinaufgesetzt. Erst ab dem 4. Stock ist es nun
vorgeschrieben, was natürlich ein Unsinn ist. Jeder von uns weiß, dass die Bevölkerung
überaltert. Was passiert mit Menschen die alt sind und im 3. Stock ohne Aufzug leben? Sie
kommen relativ schnell in ein Heim. Das ist viel teurer, als in den eigenen Wohnungen.
Außerdem wollen 80% der Menschen zuhause alt werden und nicht in einem Pflegeheim.
Zur Arbeit: es gab die Problematik, dass behinderte Menschen schwieriger durch
den Dienstgeber gekündigt werden können. Wie ist derzeit die Situation und was
sollte noch geändert werden?
Wir haben eine Regelung gehabt, die besagte, dass „begünstigte Behinderte“ gemäß
Behinderteneinstellungsgesetz einen erhöhten Kündigungsschutz genießen. Es gab in
Österreich nie einen total Kündigungsschutz. Konkret musste der Dienstgeber am
Bundessozialamt einen Antrag stellen, ob er den Dienstnehmer entlassen kann. Ein Ausschuss
hat dann darüber entschieden. Man hat dann 2011 versucht die Wirtschaft zu ködern und
weichte die Regelung total auf, damit mehr Menschen mit Behinderung eingestellt werden. Es
hat überhaupt nichts gebracht. Die Arbeitslosenzahlen der Menschen mit Behinderungen sind
dramatisch gestiegen. Wir haben Jahr für Jahr Steigerungen bei der Arbeitslosenquote von
Menschen mit Behinderungen von plus 15% und mehr. Es explodiert fürchterlich. Dem
Ministerium ist das bereits auch schon aufgefallen und es gab eine Evaluierung der
Gesetzesnovelle 2011. Die Ergebnisse sind katastrophal, aber es wird nichts unternommen.
Der jetzige Minister ist nicht unbedingt dafür bekannt, dass er sich im Bereich Menschen mit
Behinderungen aktiv einsetzt. Ich bin jedenfalls gespannt, wie lange es dauern wird, bis etwas
unternommen wird.
Was müsste man denn Ihrer Meinung nach konkret ändern?
Die Arbeitslosenzahlen bei Menschen mit Behinderungen müssen runter. Das ist das Ziel, die
Zwischenschritte sind vielfältig. Ein Schritt, den wir fordern, ist die Erhöhung der
Ausgleichstaxe. Wenn ein Unternehmen 25 Menschen beschäftigt, muss auch eine Person
eingestellt werden, die „begünstigt behindert“ mit mehr als 50% ist. Wenn das nicht passiert,
ist eine Ausgleichstaxe zu bezahlen. Dieser Betrag ist derzeit sehr gering. In mehreren Stufen
beginnt es bei circa 230 Euro. Das sind also für ein Unternehmen in etwa 10 Euro pro
Mitarbeiter und Monat, wird also aus der Portokasse bezahlt. Es sollte so sein, dass wenn das
Unternehmen keinen Menschen mit Behinderung beschäftigt, dass trotzdem ein volles
Kollektivvertrag-Gehalt bezahlt werden muss. Dann würden sich die Unternehmen überlegen,
dass wenn sie die Person sowieso bezahlen muss, eine Einstellung besser wäre. Das wird
allerdings
nicht
möglich
sein.
Die
Wirtschaft
und
der
Verfassungsdienst
des
Bundeskanzleramtes sind dagegen, weil es als ein zu großer Eingriff in die Unternehmen
gesehen wird.
Eine zweite Forderung ist die zielgerichtetere Verwendung der „Behindertenmilliarde“. Das
war ein Programm zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen. Damals natürlich
noch in Schilling gerechnet. Da fließt nach wie vor ziemlich viel Geld hinein, allerdings nicht
sehr effizient. Das ist ähnlich wie bei den AMS-Schulungen. Da wird auch sehr viel Geld
hineingepulvert, aber ohne effizienten Output. Die meisten Beschäftigten in Projekten der
„Behindertenmilliarde“ sind grundsätzlich nicht behindert, denn es sind die Trainer und
Beschäftigten. Die Zielsetzung stimmt, aber effizient ist es nicht. Ich erwarte mir, dass auch
Menschen mit Behinderungen als Trainer und Mitarbeiter in den Organisationen
vorgeschrieben werden. Viele dieser Organisationen erfüllen selbst nicht einmal die
Beschäftigungspflicht. Die Caritas zum Beispiel erfüllt sie nicht, obwohl sie einer Nutznießer
der „Behindertenmilliarde“ ist. Man muss das ansprechen! Es wurde 2006 bereits evaluiert,
wie viele Standorte der „Behindertenmilliarde“-Projekte barrierefrei erreichbar sind. Es waren
nur knapp mehr als die Hälfte. Da läuteten alle Alarmglocken und es hat sich deutlich
verbessert, aber es ist peinlich, dass es überhaupt zu so einer Situation kam.
Die Diskussionen um Menschen mit einer Lernbehinderung sind kaum
wahrnehmbar. Was wird konkret unternommen um diesen Menschen zu helfen?
Wir von BIZEPS sind Anhänger der Theorie, dass betroffene Menschen sich selbst äußern und
selbst
vertreten.
Kritisch
gesagt
hat
die
Selbstvertretung
von
Menschen
mit
Lernbehinderungen ein Problem. Die Lebenshilfe als Trägerverein gibt vor sie zu vertreten.
Das ist ein gesellschaftliches und historisches Problem. Es wird aber besser, weil immer mehr
Menschen mit Lernbehinderung in die Öffentlichkeit treten. Allerdings gibt es kaum
strukturelle Ressourcen. Das muss ausgebaut werden, denn es kann nicht sein, dass sich die
Lebenshilfe mit Millionenverträgen ausstattet, damit sie Betreuungsleistungen anbietet. Ich
habe gestern von einer Abgeordneten in Salzburg gehört, dass es den Wunsch gibt, „Leichter
Lesen“ zu forcieren. Dort haben zwei Menschen mit Lernschwierigkeiten den Abgeordneten
erklärt warum das für sie wichtig ist. ExpertInnen in eigener Sache müssen das erklären. Die
FPÖ hat dagegen gestimmt, denn sie wollen, dass die Ausländer Deutsch lernen. Das ist ein
Unsinn denn natürlich sollen Menschen mit Migrationshintergrund Deutsch lernen, aber
„Leichter Lesen“ bringt ja allen etwas - nicht nur Menschen mit Lernschwierigkeiten. Es gibt
immer wieder Initiativen in den Ministerien, aber auch in den Ländern. Die letzte große
Initiative war in Oberösterreich. Bescheide werden dort - wenn man das möchte - in „Leichter
Lesen“ ausgestellt und das umzusetzen ist nicht einfach. Juristische Texte in „Leichter Lesen“
zu bringen ist schwierig, aber der Kunde hat ein Recht darauf zu verstehen was die Behörden
ihm schreiben.
Kommen wir zum Maßnahmenvollzug. Sie haben gemeinsam mit Marianne
Schulze vor einigen Monaten Untergebrachte in der Justizanstalt Mittersteig
besucht. Was ist Ihnen davon im Gedächtnis geblieben, welche Erinnerung aus
den Gesprächen ist am Nachhaltigsten?
Ich habe eine Vielzahl von Erinnerung an diesen Besuch. Es war nicht das erste Mal, dass ich
so etwas gemacht habe. Was mich persönlich am meisten schockiert, ist die strukturierte
Hilflosigkeit des Systems. Das betrifft Jene die es verwalten und Jene die darunter leiden
müssen. Außerdem schockiert mich das gesellschaftliche Wegschauen um das System zu
stabilisieren. Wenn ein gesellschaftlicher Konsens vorhanden wäre um dieses hilflose System
auf Beine zu stellen die menschenrechtlich fundiert wären, wäre es ein anderes System. Das
Wegschauen aber stabilisiert es. Das ist nicht nur im Maßnahmenvollzug so, das ist auch bei
Pflegeheimen und bei Behinderteneinrichtungen genauso. Durch meine Arbeit sehe ich die
Parallelen die es gibt. Es ist eine Aussonderung von Menschen die man nicht in der
Gesellschaft haben will. Der Ansatz, in Bezug auf die UN-Konvention für die Rechte von
Menschen mit Behinderungen Artikel 19, wäre „Leben in der Gesellschaft“. Das wird im
Maßnahmenvollzug 2015 so nicht gelebt. Denn dann wäre es anders und das wissen wir auch.
Es gibt
Reformbestrebungen des Ministers den
Maßnahmenvollzug zu
reformieren. Wären Sie zufrieden, wenn die Vorschläge der Arbeitsgruppe
umgesetzt werden würden?
Viel wichtiger wäre es, wenn Sie zufrieden wären. Das ist der von mir erwähnte
Selbstvertretungsanspruch. Wenn ich als Außenstehender glaube, dass es passt, ist es vielleicht
eine interessante Einzelmeinung, aber viel relevanter ist die Meinung derjenigen die hier
arbeiten und hier untergebracht sind. Es ist schade, dass mit den Partnern, die für eine
Transformation dieses Systems notwendig sind, überhaupt nicht gesprochen wurde. Ich habe
auch gehört, dass mit den Bundesländern überhaupt nicht strukturiert verhandelt wurde.
Wenn man das System aus dem haftähnlichen Charakter raushole und in ein anderes System
transferiert, ist man sehr schnell im Verantwortungsbereich der Bundesländer. Vielleicht
fehlen mir da auch Informationen, aber was ich bisher gehört habe, sind die Bundesländer
nicht bereit hier einen wertvollen Beitrag leisten zu wollen. Sie waren auch in der
Arbeitsgruppe nicht vertreten und ich habe bereits gehört, dass die Bereitschaft nur dann
besteht, wenn der Bund das finanziert. Die ganze Reform des Maßnahmenvollzuges gelingt
oder scheitert an den Verhandlungen zum Finanzausgleich die jetzt beginnen. Hier müssen
klar die Aufgaben verteilt werden. Wenn da nicht enthalten ist, dass die Bundesländer dafür
zuständig sind und daher Ausgleichszahlungen erhalten, wird es nicht funktionieren.
Es sind aber auch interessante Aspekte in den Reformvorschlägen der Arbeitsgruppe
enthalten, man sieht aber auch was sie sich nicht trauten anzugreifen. Der Mut war
endenwollend dieses System komplett umzubauen. Zwischen Revolution und Evolution sind
noch ein paar Schritte. Zudem kommen noch die ganzen strukturellen Probleme des
Maßnahmenvollzugs.
Sehen Sie es als wichtig, dass auch im Maßnahmenvollzug Selbstvertreter
geschaffen werden?
Nein, das ist keine Wichtigkeit, das ist eine absolute Notwendigkeit. Wir haben ganz bewusst
Selbstvertreter des Maßnahmenvollzugs in einer Kampagne unterstützt an die Öffentlichkeit
zu treten. Aus der Überlegung heraus, dass man nicht für Selbstbestimmung eintreten kann
und dann aber doch die Meinung vertritt besser zu wissen was für andere gut ist und was man
zu wollen hat. Diese Partizipation von Selbstvertretern des Maßnahmenvollzugs in der
Arbeitsgruppe zur Reform hat aber nicht stattgefunden. Das wäre aber eine absolute
Notwendigkeit gewesen. Es wäre die Gelegenheit gewesen, dass die Teilnehmer erfahren
hätten wie es wirklich ist und nicht nur eine akademische Haltung zu vertreten mit der Ansicht
„Ich kann mir vorstellen was dort läuft“, sondern so wie der Alltag der Beschäftigten und der
Untergebrachten tatsächlich verläuft. Das hat leider gefehlt.
Wir haben die gleiche Diskussion jetzt gerade zwischen Bund und Ländern. Sie vereinbaren
die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention umsetzen und haben in der ersten Sitzung
beschlossen die Betroffenen nicht einzuladen. Partizipation ist in Österreich sehr
unterentwickelt und darum muss man kämpfen. Selbstbestimmung muss man in allen
Bereichen ernst nehmen und alle Bereiche heißt nun mal ALLE Bereiche.
Sehen Sie das Inhaftieren von Menschen nach dem Strafende aus präventiven
Gründen als menschenrechtlich vertretbar? Vertreter des Systems sehen das
Inhaftieren nicht als Strafe sondern als Therapie - ähnlich die Argumentation
Deutschlands am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - und halten das
auch für menschenrechtlich unbedenklich.
Das hat mir so noch niemand erklären können. Wenn man sagt, dass man über die Strafe
hinaus angehalten wird, dann muss das sachlich rechtfertigbar sein. Sachlich gerechtfertigt ist
es aber nicht, wenn man Systeme, die für die Betroffenen besser wären, man sich die aber als
Gesellschaft nicht leisten will, nicht hat. Das Leben in der Gesellschaft kann auch anders sein,
das
muss
nicht
durch
Wegsperren
sein.
Das
kann
auch
durch
viel
mehr
Unterstützungsmaßnahmen sein.
Spiegelt das einfache Wegsperren nicht unser heutiges Gesellschaftsbild wieder?
Natürlich, und da sind wir dann wieder bei den Parallelen. Wir kämpfen sehr intensiv für die
„Persönliche Assistenz“, das bedeutet, dass Menschen mit Behinderungen individuelle
Unterstützungen bekommen. Das kostet viel Geld, ich zum Beispiel bekomme von der Stadt
Wien 5.000 Euro, damit ich Unterstützungen zukaufen und MitarbeiterInnen anstellen kann,
damit ich am Leben in der Gesellschaft teilnehmen kann. Die Stadt Wien kann auch sagen,
dass das nicht notwendig ist und stattdessen einen Heimplatz schaffen. Dann wäre ich
allerdings eingesperrt mit exakt denselben Zuständen wie sie in Haftanstalten vorzufinden
sind. Da darf man dann am Dienstag und am Freitag duschen, egal ob im Winter oder Sommer
- als Begründung gibt es dann das Ressourcenproblem. Will ich als Gesellschaft die
Menschenrechte des Einzelnen umsetzen oder mache ich eine Mangelverwaltung? Es gibt
Gruppen in der Gesellschaft, die meinen, dass ist der Einzelne nicht wert. Ich bin in der
Volksanwaltschaft im Menschenrechtsbeirat und darf daher nur relativ wenige Details
erzählen. Ich sehe durch die Prüfberichte aber was in Altenheimen passiert, zum Beispiel der
nun in den Medien diskutierte Medikamentenmissbrauch damit die Menschen dort um sechs
Uhr im Bett sind und schlafen.
Im Maßnahmenvollzug ist es das gleiche. Warum kann ich jemand nicht eine Betreuung zur
Seite stellen, damit er in einer eigenen Wohnung leben kann? Das ist natürlich derzeit noch
illusionär, aber meiner Meinung nach menschenrechtlich gefordert. Warum soll ich jemand
lebenslang wegsperren müssen, nur weil ich Angst habe? Natürlich muss es gewissen
Schutzmechanismen geben, aber die müssen nicht zwangsläufig hinter einer Mauer sein. Es
wird bei manchen extrem aufwendig sein, aber menschenrechtlich notwendig. Auch auf die
Gefahr hin, dass wir manchmal scheitern. Trotzdem hat jeder seine Menschenrechte. Wir
scheitern bei vielen Dingen, aber es nicht zu versuchen ist auch ein Scheitern mit der
Zusatzkomponente, dass ich jemanden damit die Menschenrechte verweigere und genau das
ist nicht verantwortbar. Ich verstehe auch, dass jedes Opfer einer Straftat höchst sensibilisiert
und verängstigt ist, aber dennoch hat die Gesellschaft eine Verantwortung für jedes Mitglied
seiner Gesellschaft. Auch bei den Mitgliedern, bei denen ich Vorsicht walten lassen muss, hat
die Gesellschaft trotzdem die Verantwortung, denn die Menschenrechte kann man nicht
verwirken.
Es ist auch ähnlich wie bei der Inklusion in der Schule. Bei vielen SchülerInnen wäre es
überhaupt kein Problem, bei manchen wäre es sehr herausfordernd und bei manchen fehlt uns
jetzt noch die Phantasie wie es realisierbar wäre.
Wenn Sie unbeschränkte Mittel und Möglichkeiten und Sie hätten die Macht drei
Wünsche umzusetzen, welche wären das?
Ich würde den Bundesländern die Gesetzgebungskompetenz wegnehmen, das wäre sehr
wichtig und man spart dabei noch. Zweitens würde ich ein Deinstitutionalsierungsprogramm
starten und Einrichtungen die Aussondern werden aufgelöst. Den dritten Wunsch hebe ich mir
auf, falls mir etwas einfällt.
Gibt es noch etwas, das Sie unseren Lesern mitteilen möchten?
In den Mühen des Alltages gibt es zwei Sprüche die mir viel bedeuten. Der eine heißt „Wenn
wir heute nichts tun, wird morgen wie gestern.“ Wir müssen aktiv bleiben, denn nur so
haben wir die Chance etwas zu ändern.
Der zweite ist von Ed Roberts, dem Gründer der internationalen Selbstbestimmt-LebenBewegung. Er hat gesagt: „Für mich ist der Zorn eines der wichtigsten Elemente in unserer
Bewegung.“ Vielleicht bedarf es dessen auch, um etwas zu ändern.
Wordrap
Behinderung - O.K.
Barrierefreiheit - Ganz wichtig für alle.
Menschenrechte - Werden in Österreich nicht richtig umgesetzt.
Selbstvertretung - Zu wenige werden gehört.
Maßnahmenvollzug - Kennt man in zwanzig Jahren nicht mehr.
Lieblingsbuch - Der kleine Prinz.
Lieblingsmusik - Die von Konstantin Wecker.
Drei Dinge für die einsame Insel - Einen Hubschrauber, weil ich es auf einer einsamen
Insel nicht aushalten würde. Auch das Internet und Menschen. Dann wäre es zwar nicht mehr
eine einsame Insel, aber ich bin bekannt dafür, dass ich Regeln, die mir nicht passen,
umformuliere.
Wir bedanken uns sehr herzlich bei Martin Ladstätter für die Gelegenheit zu
diesem sehr informativen und interessanten Interview!
Online erschienen auf www.blickpunkte.co im Mai 2015.
Originalartikel abrufbar unter www.blickpunkte.co/201505interview3.pdf