Utopie, Wunschdenken und Wirklichkeit Barrierefreiheit in Kärntens Gemeinden 2016? Text: Hans Steiner1 2015 endete die letzte Übergangsfrist im Bundesbehindertengleichstellungsgesetz (BGStG), die noch eine eingeschränkte Beurteilung baulicher Anlagen bezüglich ihrer Barrierefreiheit zuließ. Was dies für Gemeinden konkret bedeutet, wird jetzt mit unterschiedlichen Ansätzen erhoben. Die Bandbreite reicht von geforderten detaillierten Mängellisten, aus denen hervorgeht, wie Menschen in den Kärntner Gemeinden diskriminiert werden, bis zu grundsätzlichen und ganzheitlichen Überlegungen der weiteren Entwicklung der gebauten Umwelt. Die emotional geführten Forderungen nach umfassender Barrierefreiheit kommen in der Realität der Liegenschaftsverwaltung an. Die Utopie ist ein Ort, den es noch nicht gibt2. So wie barrierefreie Gemeinden. Dennoch ist es rechtlich und faktisch reines Wunschdenken sich die direkte Umsetzung der umfassenden Barrierefreiheit im Sinne der Staatsvertrages3 über die Rechte von Menschen mit Behinderung in den einzelnen Gemeinden zu erwarten. Die BürgermeisterInnen und ihre Gemeinderäte sind in einem Dilemma gefangen. Tun sie zu wenig, diskriminieren sie Menschen mit Behinderung. Tun sie (ohne ausreichende rechtliche Grundlage) zu viel, laufen sie Gefahr, den Pfad der Zweckmäßigkeit, Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zu verlassen und damit ihr Amt zu missbrauchen, wofür sie dann einer immer gnadenloseren Verfolgung4 ausgesetzt sind. Für Sachverständige für barrierefreies Bauen scheint die Rolle anfänglich einfach angelegt zu sein. Sobald eine baubewilligungspflichtige Maßnahme ergriffen wird, gilt in Kärnten K‐BV5 §39 in Verbindung mit der OIB Richtlinie 4:2011 und Teilen der ÖNORM B 1600 einschließlich so genannter Erleichterungen für Umbauten, die festlegen, wie gebaut werden muss. Wir finden hier ca. 50 Seiten geltender einzelner Bestimmungen. 1 Prof. DI Dr. Hans Steiner ist Baumeister und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger für barrierefreies Bauen. Seit über 20 Jahren berät er Landes‐ und Bundesstellen sowie Organisationen zu diesem Thema. 2 Steiner/Jernej, Strategie für den Blick auf das Ganze, 2014 Steiner & Partner Schriften 1 3 BGBl. III Nr.155‐2008 4 Diskriminierungen durch MitarbeiterInnen sind bundes‐ und landesgesetzlich jetzt schon dienst‐ und disziplinarrechtlich zu verfolgen. 5 Kärntner Bauvorschriften Ob und in welchem Umfang bauliche Barrierefreiheit in den Gemeinden umzusetzen sein wird, erschließt sich derzeit indirekt. Wenn sich Gemeinden dem Thema überhaupt nicht stellen, kann das definitiv zu Diskriminierung führen und das ist verboten. Die wirtschaftliche Zumutbarkeit (haushaltsrechtliche Frage) und der Umfang der notwendigen Maßnahmen (AGO und ob zweckmäßig, sparsam und wirtschaftlich) sind aus dieser Sicht in Kärnten nicht ausreichend geklärt. Auch der LEP (Landesetappenplan, von dem man hört, dass er sich bis 2020 hinziehen wird) gibt noch nichts her6. Wenn der Gemeinderat also nicht diskriminieren will, kann er derzeit nur "Umbau" beschließen und der ist in der Regel wieder bewilligungspflichtig ‐ das im vollen Umfang ‐ baurechtlich (K‐BV) und diskriminierungstechnisch (Regeln der Technik im Sinne des BGStG). Davon ausgehend lassen sich Gebäude und Außenanlagen bereits mit wenigen Kenndaten der Bauprojektentwicklung für eine erste Entscheidungsgrundlage quantifizieren. Typische Kärntner Gemeinden haben ein nicht barrierefreies Gemeindeamt, mindestens eine Volksschule (manche haben 5), eine Musikschule, Kindergärten und Kinderbetreuungseinrichtungen, Kulturhäuser, Sportstätten, Friedhöfe und Feuerwehrhäuser. Sobald diese öffentlich zugänglich sind, ist bauliche Barrierefreiheit zu erwarten. Die Reduktion auf einzelne „Mindestbereiche“, wie zentrale Bürgerbüros, lässt sich eigentlich nicht rechtssicher darstellen. Man kommt in der Praxis auch schnell darauf, dass Überlegungen zur Barrierefreiheit mit Generalsanierungsmaßnahmen zu verbinden sein werden und Barrierefreiheit (nur) Teil des richtigen und guten Bauens wird. Man kommt in der Praxis schnell darauf, dass die bereits bekannten Kennwerte (zB vorgetragen in einer Präsentation beim Kärntner Gemeindebund im Herbst 2015) in einer praktikablen Bandbreite stimmen. Diese liegen zwischen € 100,‐‐ bis € 500,‐‐ pro Quadratmeter Bruttogrundfläche BGF des Gebäudes (diese Daten hat jede Liegenschaftsverwaltung). Wie man sich zwischen diesen Werten bewegt, kann man leicht und genau genug mit etwas Erfahrung auf Objektebene abschätzen. Die Summen der Objekte zeigen dann die gesamte Dimension deutlich. Hier drei Beispiele: Fall € 100,‐‐/m² BGF: Maßnahmenbündel bei „schon relativ gut zugänglichen“ kleineren und mittelgroßen Gebäuden. Fall € 250,‐‐/m² BGF: „Beseitigung Zugangsbarriere, Aufzug und geringe bauliche Veränderungen plus Maßnahmenbündel“ bei kleineren und mittelgroßen Gebäuden Fall € 500,‐‐/m² BGF: „Beseitigung Zugangsbarrieren und umfangreiche bauliche Eingriffe plus Maßnahmenbündel“ bei kleineren und mittelgroßen Gebäuden Das konkrete Modell kann natürlich die Einschätzung noch vielschichtiger vornehmen. Die Methode hat sich in der Vergangenheit bei über 500 Objekten als geeignet erwiesen, die auf Basis dieser Einschätzungen zielsicher abgewickelt werden konnten. Will sich eine Gemeinde dem Thema stellen, sind genau diese ganzheitlichen Grundlagen notwendig. Sie zeigen die Dimensionen der Entscheidung und notwendigen Beschlüsse. Diese Grundlagen könnten, mit wenig Hilfe, von den Gemeinden selbst erarbeitet werden. Einzeldetailerhebungen in Gemeinden durch externe Sachverständige sind in dieser ersten Entscheidungsphase zu aufwendig. Kolportiert wurden Kosten von € 5.000,‐‐ bis € 20.000,‐‐ € pro Gemeinde. Dadurch wird bei 130 6 Seit dem ersten Quartal 2015 wurde kein Fortschritt publiziert (https://www.ktn.gv.at/42109_DE‐ktn.gv.at‐ THEMEN.?detail=514) vom 16.03.2016 Kärntner Gemeinden in Summe die Millionengrenze wahrscheinlich überschritten werden. Für welchen Erkenntnisgewinn? Eine Millionenfrage? Dass man eigentlich alles umbauen müsste?7 Aus konkreten Auswertungen in Gemeinden, die das Schätzungsmodell wieder bestätigen, kann hochgerechnet werden, dass in Kärntner Gemeinden (ohne Städte und Landesgebäude) mit Errichtungskosten von wahrscheinlich € 350,000.000,‐‐ für die Barrierefreimachung des Hochbaus zu rechnen sein wird. Kommen Adaptierungen im Tiefbau (Straßen, Plätze) und sonstigen Außenanlagen (zB Spielplätze) dazu, wird die Dimension € 500,000.000,‐‐ betragen – natürlich noch in einer zu berücksichtigenden Schwankungsbreite (+/‐ 30 %). Gemessen an der Kärntner Realität dürfte dies Wunschdenken für die Mittelbereitstellung durch die öffentliche Hand sein. Das Korsett der Zweckmäßigkeit, Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit erhält hier ebenfalls eine neue Dimension. Der Versuch ohne ausreichende rechtliche Grundlage nur auf Gemeindeebene zu erheben und zu priorisieren, wird Chaos und Diskriminierung bringen, ist weiter weder zweckmäßig, sparsam noch wirtschaftlich. Unvernetzte Situationsanalysen bringen lediglich enorme Listen und kein Gefüge und führen zu falschen Zielbeschreibungen8. Wie wichtig wäre ein taugliches Orientierungsgerüst für das ganze Land! Zum Beispiel ein Landesetappenplan, der genau diese Anliegen konkret beantworten kann und den Regelungsbedarf in den einzelnen Landesgesetzen und Verordnungen zeigt (AGO, Schulbau, Kinderbetreuung, Feuerwehrwesen,…), wie es dem Sinn des genannten Staatvertrages9 und der Gewährleistungsverpflichtung aus dem Art. 7 B‐VG10 entspricht. Dann wäre auch klar, in welchem Umfang sich Gemeinden rechtssicher zu barrierefreien Gemeinden entwickeln müssen, sollen und dürfen. 2016‐03‐18 7 ist meistens auf den ersten Blick klar S. Dietrich Dörner, Die Logik des Misslingens in F. Vester, Die Kunst vernetzt zu denken. 9 Bei allem Respekt, diese Verpflichtung hätte bereits seit 2008 umgesetzt werden können. 10 Bundesverfassungsgesetz 8
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