Ralph Rudolph, Uwe Markus, Verlorene Schlacht

Verlorene Schlacht
Im Kampf um die strategisch wichtige Stadt Debalzewe haben
die Milizen der Volksrepubliken im Donbass Kiew eine
Niederlage beigebracht.
Ralf Rudolph/Uwe Markus
In der Anfang Januar eskalierten militärischen Auseinandersetzung im ostukrainischen
Bürgerkriegsgebiet hat die ukrainische Armee eine Niederlage einstecken müssen. Sie beugte sich
in der belagerten Stadt Debalzewe den Volksmilizen. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko
räumte am Mittwoch ein, dass sich die Armee aus der Stadt zurückziehe. In einer Videobotschaft
sagte er, vier Fünftel der Soldaten hätten den strategisch wichtigen Ort verlassen. Weitere Einheiten
würden folgen. Von einer Einkreisung seiner Truppen wollte er allerdings nach wie vor nichts
wissen. Seinen Angaben zufolge verließen die Soldaten Debalzewe mit ihren Waffen und Munition.
Der Schlüssel für die Einschätzung der derzeitigen militärischen Situation im Donbass liegt in der
Vergangenheit: Die ukrainische Militärführung hatte im Sommer 2014 den Versuch unternommen,
durch eine Zangenoperation die Territorien der »Volksrepublik Donezk« (Donezka Narodna
Respublika, DNR) und der »Volksrepublik Lugansk« (Luganska Narodna Respublika, LNR)
voneinander zu trennen, um danach die Volksmilizen dort einzeln zerschlagen zu können. Der von
Süden vorgetragene Vorstoß der ukrainischen Armee endete im Spätsommer kläglich im Kessel von
Ilowaisk. Mehr als 5.000 Soldaten wurden dort durch die Volksmilizen eingekesselt und
kampfunfähig gemacht.
Doch durch den bereits im Juli 2014 vom Norden aus geführten Vorstoß der ukrainischen Truppen
war ein Keil von 30 Kilometern Tiefe und zehn Kilometern Breite zwischen die Gebiete der DNR
und der LNR getrieben worden, der eine permanente Bedrohung des operativen Hinterlandes der
Volksmilizen darstellte und erhebliche Kräfte band. Auf Grund des Minsker Waffenstillstandes vom
September 2014 blieb dieses Gebiet von Truppen der Kiewer Regierung besetzt. Der strategisch
wichtigste Ort in diesem Gebiet ist die 70 Kilometer nordöstlich von Donezk liegende, 25.000
Einwohner zählende Kleinstadt Debalzewe, ein wichtiger Verkehrsnotenpunkt. Hier gabelt sich die
Eisenbahnlinie, die aus Moskau (über Charkiw) in Richtung Süden nach Rostow am Don, nach
Mariupol und nach Taganrog führt. Diese Trasse wird durch die Regionalbahnlinie von Donezk
nach Lugansk gekreuzt. Außerdem kreuzen sich in Debalzewo die Fernstraßen M-04 von Donezk
nach Luganzk und M-02 von Moskau über Charkow nach Rostow am Don. Zwar hatten die
Volksmilizen bereits im September wiederholt gemeldet, dass man die ukrainischen Truppen im
Raum Debalzewe eingeschlossen habe, doch das war offenkundig nie vollständig gelungen. Damit
bestand die Gefahr, dass die ukrainische Militärführung aus diesem Keil heraus weitere
Offensivoperationen vorantreiben könnte. Denn trotz der Vereinbarungen von Minsk verstärkte
Kiew seit Oktober 2014 ihre dort stationierten Einheiten mit schwerer Technik und Personal. Das
besetzte Gebiet wurde zum Bereitstellungsraum für neue Angriffe in die Richtungen Donezk und
Lugansk. Im Januar 2015 befanden sich ca. 8.000 ukrainische Soldaten in Debalzewo und den
umliegenden Ortschaften. Seit Oktober 2014 wurden zudem die an den Rändern des Keils liegenden
Ortschaften der DNR und LNR mit schwerer Artillerie und Raketenwerfern beschossen.
Und auch an anderer Stelle waren die ukrainischen Streitkräfte bemüht, günstige
Ausgangspositionen für zukünftige Angriffsoperationen zu sichern. Insbesondere die am Flughafen
von Donezk und in den umliegenden Ortschaften dislozierten Einheiten sorgten mit
Artillerieschlägen gegen zivile Ziele dafür, dass die Bevölkerung der Großstadt in permanenter
Angst lebte. Der völlig zerstörte Flughafen hatte zwar nach Aussagen ukrainischer Strategen keine
unmittelbare militärische Bedeutung mehr, doch abgesehen von der psychologischen Wirkung des
Artillerieterrors gegen die Zivilbevölkerung konnte man Kräfte der Volksmilizen binden, die somit
für den Einsatz etwa im Raum Debalzewe nicht zur Verfügung standen.
Kiew war in dieser Phase des Krieges weiterhin von der Möglichkeit eines militärischen Sieges
überzeugt und nutzte die in Minsk ausgehandelte Waffenruhe nur als Atempause. Das Abkommen
vom September 2014 trug so schon bei seiner Unterzeichnung den Keim des Scheiterns in sich.
Keine der beiden Konfliktparteien wollte mit dem darin festgeschriebenen Status quo auf Dauer
leben.
Strategische Fehleinschätzung
Im Januar 2015 war der brüchige Waffenstillstand im Donbass Geschichte. Die Lage verschärfte
sich nämlich, als Anfang Januar die ukrainische Armee damit begann, den umkämpften Flughafen
von Donezk zu stürmen. Damals verkündete der Chef des Generalstabes, Viktor Muchenk: »Die
ukrainische Armee hat genug Mittel und Kräfte, um den Separatisten den endgültigen Stoß zu
versetzen.« Diese Überheblichkeit wurde bald bestraft. Nach harten Kämpfen und der Einkesselung
des Gegners durch die Volksmilizen wurden am Abend des 4. Februar nur noch 20 ukrainische
Kämpfer auf dem Gelände des Flugplatzes ausgemacht, die jedoch bis zum Abend des 5. Februar
vertrieben wurden. Sofort wurde mit der Räumung von Minen und Blindgängern begonnen. Durch
die Besetzung des Flughafens von Donezk und die Verdrängung der Einheiten Kiews aus den
umliegenden Dörfern lagen die nordwestliche Stadtteile von Donezk nicht mehr in Reichweite ihrer
Artillerie. Daher setzte die ukrainische Armee seit Anfang Februar verstärkt Raketenwerfer, welche
die doppelte bis vierfache Reichweite von Geschützen haben, zur Beschießung von Donezk und
anderen Städten ein.
Im Zuge dieser Entwicklung eskalierten auch die Kämpfe im Raum Debalzewe. Seit Anfang Januar
2015 versuchten die Volksmilizen die dortigen gegnerischen Einheiten endgültig einzuschließen.
Sie zogen den Ring um die ca. 8.000 Soldaten immer enger. Mitte Januar war der Kessel jedoch
noch nicht geschlossen. Nachdem der Ort Uglegorsk Ende Januar von den Volksmilizen
eingenommen worden war, verschlechterte sich jedoch die Lage der ukrainischen Truppen. Nach
Meinung von Militärexperten hatte Kiew die strategische Bedeutung des 8.000 Einwohner
zählenden Uglegorsk falsch eingeschätzt und sie daher nicht angemessen gesichert. Ukrainische
Generäle bestätigten, dass die Volksmilizen in den westlichen Außenbereich des Ortes mit nur einer
Schützenkette und zwei Panzern eindringen konnten. Dort selbst verteidigten sich nur kleine
Einheiten der Nationalgarde und Teile des Bataillons »Donbass«, verstärkt durch eine
Panzerabwehrbatterie der Armee. Die Einheiten der Volksmiliz drängten diese Kräfte nach Osten in
Richtung Debalzewe hinaus.
Am 30. Januar hatten die Volksmilizen große Teile von Uglegorsk unter ihre Kontrolle gebracht,
und die ukrainische Armee begann damit, den Ort mit Raketenwerfern zu beschießen, was zu seiner
fast vollständigen Zerstörung führte. Die Führer der Volksmiliz vereinbarten daher mit der
gegnerischen Seite am 3. Februar eine Feuerpause zur Evakuierung der Einwohner. Das Kommando
der ukrainischen Streitkräfte stimmte der Feuereinstellung bis 14.00 Uhr zu. 3.000 Menschen
verließen die Stadt in Richtung Donezk. Die Volksmilizen hatten Busse für ältere Leute und Kinder
bereitgestellt. Wer nicht bei Verwandten Quartier fand, wurde vorübergehend in der Stadt
Makejewka in Pensionen untergebracht.
Beide Seiten versuchten in der Folge, Verstärkung für den Kampf am östlichen Ausgang von
Uglegorsk bereitzustellen. Über Gorlowka und Enakijewo führten die Volksmilizen Panzer und
Mannschafts-Kfz heran. Von Debalzewe setzte die ukrainische Führung ein Bataillon motorisierte
Schützen und ca. 20 gepanzerte Fahrzeuge in Marsch, um die in den östlichen Vororten von
Uglegorsk noch kämpfenden eigenen Einheiten zu unterstützen. Die Volksmilizen konnten sich
jedoch durchsetzen und erlangten am 4. Februar die vollständige Kontrolle über den Ort.
Schwache Kampfmoral
Die Einnahme von Uglegorsk war für die Volksmilizen eine entscheidende Voraussetzung für die
Fortführung ihrer Angriffsoperation gegen die gegnerische Gruppierung im Raum Debalzewe. Auf
den Hügeln in der Nähe der Fernstraße (M-04) von Uglegorsk nach Debalzewe hatten sich Kiewer
Truppen mit einer Stärke von ca. 5.000 Soldaten und bis zu 30 gepanzerten Fahrzeugen festgesetzt.
Im Kampf um diese Höhen sollen nach Angaben der Volksmilizen die ukrainischen Einheiten
innerhalb von 24 Stunden 117 Soldaten durch Tod, Verwundung und Gefangennahme neun Panzer
sowie sieben Schützenpanzer BMP verloren haben.
Am 7. Februar waren die Volksmilizen bis zum Fernstraßenkreuz am westlichen Stadtrand von
Debalzewe vorgedrungen. Die Straße war gesäumt von zerstörten Panzern und Schützenpanzern
beider Seiten. Auf einigen waren noch die rot-blauen Fahnen der DNR und auf anderen die Losung
des militärischen Gegners »Ruhm der Ukraine – Den Helden sei Ruhm« zu erkennen. Der
Checkpoint am Fernstraßenkreuz vor Debalzewo war von der ukrainischen Armee in eine Festung
verwandelt worden. Große Betonblöcke, Panzersperren und schwere gepanzerte Fahrzeuge
sicherten ihre MG-Nester.
Am 2. Februar flogen die Milizen der Lugansker Volksrepublik ihren ersten Luftangriff auf eine
Fahrzeugkolonne der ukrainischen Armee, die auf der M-02 unterwegs war. Nach dem Einsatz
kehrte das bereits im Juli 2014 erbeutete Kampfflugzeug des Typs SU-25 zum Flugplatz der
Fliegerhochschule Lugansk zurück. Teile der Fernstraße M-02 von Debalzewe nach Norden über
Swetlodarsk zur Stadt Artjomowsk werden bereits seit dem 28. Januar von den Volksmilizen
kontrolliert. Aus Debalzewe wurden auf der M-02 nach Norden von den Milizen Sanitätsfahrzeuge
der ukrainischen Armee durchgelassen, die verletzte Soldaten nach Artjomowsk brachten. Das
Feuer wurde nicht auf sie eröffnet, obwohl nach Angaben der Aufklärungskräfte der Volksmilizen
im Rahmen dieser Kolonnen auch Vertreter des Stabes der ukrainischen Streitkräfte evakuiert
wurden. Überhaupt scheint die Kampfmoral und Durchhaltefähigkeit ihrer Kommandeure teilweise
recht begrenzt zu sein. So meldete am 1. Februar das 25. Bataillon der Territorialverteidigung
»Kiewer Rus« in Debalzewe, dass der Befehlshaber der Panzerabwehreinheit seine Kameraden
betrogen habe und desertiert sei. Insbesondere die Freikorpskommandeure neigen dazu, sich in
schwierigen Gefechtssituationen abzusetzen. Sobald die Dinge an der Front schlecht stehen,
erleiden viele derer, die ihren Heldennimbus pflegen, plötzlich »Verwundungen leichten Grades«,
die es ihnen erlauben, die kämpfende Truppe zu verlassen, während die Unterstellten ihrem
Schicksal überlassen werden. Der Befehlshaber des ukrainischen Freiwilligenbataillons »Donbass«
und Abgeordnete der Obersten Rada, Semjon Semjontschenko, beispielsweise wurde in Uglegorsk
wieder leicht verletzt und wie schon im Verlauf der Kesselschlacht von Ilowaisk in Sicherheit
gebracht.
Die Volksmilizen versuchten seit Anfang Februar mittels schwerer Artillerie und Raketenwerfern
die durch die intensiven Kampfhandlungen geschwächten Verbände der ukrainischen Armee in
Debalzewe zur Aufgabe zu zwingen. Die Stadt stand unter ständigem Beschuss. Einwohner
versuchten, über die M-02 nach Norden und Osten zu flüchten. Bisher konnten sich mehr als 2.100
Zivilisten, darunter 600 Kinder, in Sicherheit bringen. Wem das nicht gelang, der suchte in Kellern
Schutz. In einigen Teilen der Stadt gibt es seit dem 23. Januar kein Wasser und keinen Strom mehr.
Die 13 städtischen Wasserhandpumpen standen unter ständigem Beschuss.
Beschuss von Flüchtlingen
Kiew hatte am Abend des 5. Februar den Vorschlag der DNR angenommen, zwei Korridore zur
Evakuierung der Bürger von Debalzewe einzurichten. Sie sollten selbst entscheiden können, ob sie
in die von der ukrainischen Armee besetzte Stadt Artjomowsk im Norden oder nach Donezk
evakuiert werden wollen. Laut Vereinbarung konnte der Weg nach Norden auch von sich
zurückziehenden ukrainischen Soldaten benutzt werden, wenn sie ihre Waffen nicht mitführten. Am
6. Februar von 8 Uhr bis 17 Uhr sollten die Waffen an den Korridoren ruhen. Die Kiewer Seite
verlangte von den Flüchtlingen Gebühren, was viel über das Menschenbild der Verantwortlichen
sagt. Und eine Evakuierung in Richtung Donezk fand nicht statt, weil die Information über diese
Möglichkeit von den ukrainischen Truppen nicht kommuniziert wurde. Am 6. Februar um 15 Uhr
kehrten somit die 20 von der DNV bereitgestellten Busse ohne Flüchtlinge nach Donezk zurück.
Außerdem standen Debalzewe sowie die Ortschaften Troizkoe, Redkodub, Sanscharowka, Mius
und Tschernuchino, den ganzen Tag unter Beschuss der ukrainischen Armee mit Minenwerfern,
Granatwerfern und Artillerie. Auch sonst praktiziert sie mittlerweile eine Taktik der verbrannten
Erde: Die Kampftruppe etwa, die sich Ende Januar in Tschernuchino, acht Kilometer südöstlich von
Debalzewe befand und Einheiten des Bataillons »Aidar« (Rechter Sektor) sowie Söldner aus dem
Kaukasus, aus Belgien und aus Polen im Bestand hatte, führte zielgerichtete Aktionen gegen die
Bevölkerung durch. Die Brunnen in dem Ort wurden mit Salzlösung und Maschinenöl unbrauchbar
gemacht und die Straßen des Ortes vermint sowie die Evakuierung der Einwohner verweigert. Alle
Transportmittel wurden konfisziert, um sie für den eigenen Rückzug zu sichern. Trotzdem wurde
am 31. Januar mit Unterstützung der LNR und nach Absprache mit der ukrainischen Armee damit
begonnen, ca. 200 Menschen, darunter 40 Kinder, aus Tschernuchino herauszuführen. Aber noch
während der Evakuierung begannen die Kämpfer des Bataillons »Aidar«, die wahrscheinlich nicht
durch die ukrainischen Streitkräfte kontrolliert werden können, die Flüchtlinge mit Granatwerfern
zu beschießen. Die Evakuierung musste abgebrochen werden. Tschernuchino konnte jedoch am 9.
Februar unter Kontrolle der Volksmilizen gebracht werden. Zur gleichen Zeit wurden die
ukrainischen Truppen aus der Ortschaft Nishneje Losowoje, fünf Kilometer nördlich von
Debalzewe hinausgedrängt. Damit schloss sich der Ring um die umkämpfte Stadt immer mehr.
Am 9. Februar konnten die Volksmilizen die M-02 zwischen Artjomowsk und Debalzewo unter ihre
Kontrolle bringen. Nachdem eine taktisch wichtige Höhe (zwei Kilometer nordwestlich der
Ortschaft Losowoje) und die Ortschaft Logwinowo, die unmittelbar an dieser Straße in Richtung
Norden liegt, eingenommen wurden, waren die ukrainischen Verbände von jeglichem Nachschub
abgeschnitten. Damit wurde am Nachmittag des 9. Februar der sogenannte Debalzewe-Kessel
endgültig geschlossen.
Seither versuchen Kiews Streitkräfte immer wieder, entlang der M-02 nach Norden
durchzubrechen. Aber die feuertechnische Überlegenheit der Einheiten der Volksmiliz im Bereich
des Ortes Logwinowo verhinderte das bisher. Auch verzweifelte Versuche ersterer, mit
Panzerverbänden Uglegorsk und Losowoje zurückzuerobern, wurden durch Gruppierungen letzterer
am 10. Februar 2014 gestoppt.
Nach Angaben von gefangengenommenen ukrainischen Soldaten der 25. Brigade hatte die Führung
der in Debalzewe stationierten Einheit den Befehl erteilt, die gesamte Eisenbahninfrastruktur dort
zu verminen, um die Wiederaufnahme des Zugverkehrs zwischen Donezk und Lugansk nach Abzug
der Kiewer Gruppierungen zu verzögern. Auch städtische Pump- und Trafostationen sollen vermint
worden sein. Das wird bestritten: »Die Streitkräfte der Ukraine und andere militärische
Formationen (…) vernichten keine Infrastrukturobjekte, beschießen keine friedlichen Ortschaften,
selbst dann nicht, wenn wir wissen, dass dort Kämpfer und Militärtechnik sind (…) Es gibt
keinerlei Befehl zur Verminung irgendwelcher Infrastrukturobjekte«, erklärte der Leiter des
ukrainischen Pressezentrums.
Gescheiterte Mobilmachung
Nach Angaben der Aufklärung der Volksmilizen waren Anfang Februar folgende ukrainische
Einheiten im Gebiet von Debalzewe und nordöstlich von Gorlowka stationiert: Je eine operativtaktische Gruppe der 25. Dnjepropetrowsker Luftlandebrigade, der 92. Charkower und der 128.
Mukatschewsker Mot.-Schützenbrigade. Hinzu kamen ein Panzerbataillon der 1. Tschernigower
Panzerbrigade, eine Panzerkompanie der 17. Kiewer Panzerbrigade sowie drei Artilleriedivisionen.
Außerdem sollen sich dort fünf neu formierte Bataillone der Territorialverteidigung (das 13., 17.,
20. und 42.) und nicht weniger als vier Bataillone der Nationalgarde des Innenministeriums und der
Freiwilligenverbände befunden haben.
Die meisten Kommandeure und der Einsatzstab hatten sich schon vor Tagen abgesetzt. »Es gibt
keinen Kessel um Debalzewo, das sind Erfindungen derer, die das gerne möchten. Die Einheiten in
Debalzewo und Umgebung werden mit Munition versorgt. Es gibt eine
Kommunikationsverbindung und ein taktisches Zusammenwirken«, hatte der ukrainische
Verteidigungsminister Stepan Poltorak noch am 11. Februar vor Journalisten behauptet.
Gerade angesichts des Zeitdrucks vor Beginn der in Minsk vereinbarten Waffenruhe war die
ukrainische Führung bemüht, die Einschließung ihrer Truppen aufzubrechen. So rang man am 13.
Februar den ganzen Tag darum, den Kessel sowohl von außen als auch von innen zu sprengen.
Ohne Erfolg. Insbesondere ein Versuch, den Ring an der M-02 bei Logwinowo mit einem massiven
Angriff von zwei Seiten aufzubrechen, endete mit großen Verlusten an Soldaten und Technik. Alle
aus Debalzewe oder aus Swetlodarsk anrückenden ukrainischen Verbände wurden sofort von dem
von der Volksmiliz beherrschten Höhenzug aus unter niederhaltendes Artilleriefeuer genommen.
Alle Gegenattacken der ukrainischen Streitkräfte wurden unterbunden. Der Kessel war zu. Die
eingeschlossenen ukrainischen Soldaten erhielten von ihrer Führung derweil die Weisung, sich nicht
zu ergeben und bis zu 15 Stunden nach Inkrafttreten des Waffenstillstandes zu warten. Sie sollten
dann mit Hilfe der OSZE herausgeholt werden. Und während man in Kiew zunächst weiterhin die
Einschließung bestritt, meldeten am 17. Februar die Nachrichtenagenturen, dass nach Angaben des
Kommandos der Volksmilizen die Stadt Debalzewe unter ihrer Kontrolle ist, was nunmehr auch die
ukrainische Militärführung nicht mehr leugnen konnte. Vorangegangen waren dieser Einnahme der
Stadt schwere Häuserkämpfe mit vielen Toten und Verwundeten. Hunderte ukrainische Soldaten
seien durch die Volksmilizen gefangengenommen worden. Seit Anfang Januar sollen die
ukrainischen »Antiterrorverbände« nach Angaben der Donezker Volksrepublik 136 Panzer, 110
Schützenpanzer und Panzerwagen, 58 Kraftfahrzeuge, 80 Artillerie- und Granatwerfersysteme
sowie 1569 Mann verloren haben.
Weil die militärische Lage für Kiew offenbar verzweifelt ist, wurde per Regierungsdekret
festgelegt, dass die Kampfmoral der Soldaten und Freikorpssöldner durch Geldprämien gefestigt
werden soll. Zum Beispiel werden für jedes abgeschossene Kampfflugzeug 121.000 Griwna (etwa
7.260 Dollar), für die Vernichtung eines Mehrfachraketenwerfers 60.000 Griwna, für von taktischen
Raketensystemen 54.000 Griwna, für jeden zerstörten Panzer 48.000 Griwna, für
Artilleriegeschütze und Schützenpanzer 42.000 Griwna und für jedes zerstörte tragbare
Flugabwehrraketensystem 30.000 Griwna ausgezahlt. Jeder, der an der sogenannten
Antiterroroperation teilnimmt, erhält doppelten Sold. Pro Kampftag bekommt jeder
Militärangehörige, ob Soldat oder General, zusätzlich 1.000 Griwna (etwa 62 Dollar) – so die
Verlautbarung des Pressedienstes von Premier Arseni Jazenjuk. Eine Brigade erhält bei
erfolgreicher Aufgabenerfüllung zusätzlich 365.000 Griwna (mehr als 22.000 Dollar), ein Regiment
243.000 Griwna (ca. 15.000 Dollar), ein Bataillon 121.000 Griwna, eine Kompanie 60.000 Griwna.
Die Ukraine, deren Repräsentanten nicht müde werden, ihr Land als Opfer einer ausländischen
Aggression darzustellen, muss also die wehrfähigen Bürger mittels Zielprämien zur Erfüllung ihrer
patriotischen Pflicht motivieren. Ein Staat, der zu solchen Mitteln greifen muss, ist moralisch,
politisch und militärisch am Ende.
Den Offenbarungseid leistete ungewollt Verteidigungsminister Poltorak, als er erklärte, dass es im
Rahmen der landesweiten Mobilmachung lediglich gelungen sei, 20 Prozent der für den
Kriegseinsatz vorgesehenen Wehrpflichtigen zu rekrutieren. 80 Prozent der Einberufenen wollen
nicht an die Front. Viele Ukrainer versuchten, der Mobilisierung zu entgehen und sich dem
Kriegsdienst durch Grenzübertritt zu entziehen. Daher wurde nun die Ausreise aller Männer
zwischen 18 und 60 Jahren eingeschränkt.
Und am 5. Februar verabschiedete das ukrainische Parlament ein Gesetz, das es den
Kommandeuren der Streitkräfte erlaubt, desertierende Soldaten zu erschießen. Vor dem gezielten
Schuss sollen Deserteure mündlich und durch einen Schuss in die Luft gewarnt werden. Das Gesetz
sollen auch die Kommandeure der Freikorpsbataillone anwenden.
Verwendete Quellen:
Kanal 5 (ukrainischer TV-Sender im Besitz des Präsidenten Poroschenko), UNIAN (ukrainischer
Nachrichtensender), Krasnaja Swesda (russische Armeezeitung), RIA Nowosti (russische
Nachrichtenagentur), Interfax (russische Nachrichtenagentur), 112 Ukraine (ukrainischer TV-
Sender), Oruschie Rossia.ru (russisches Internetportal), Rossia 24.ru (russisches Nachrichtenportal),
Alternative Presseschau.
Ralf Rudolph/Uwe Markus: Kriegsherd Ukraine. Phalanx – Edition Militärgeschichte und
Sicherheitspolitik, Berlin 2015, 269 Seiten, 16,95 Euro (auch im jW-Shop erhältlich)
http://www.jungewelt.de/2015/02-19/006.php