SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Wissen Der Alpenkrieg 1915 - 1918 Von Stefan Wimmer Erst-Sendung: Dienstag, 8. September 2015, 8.30 Uhr Wiederholung: Freitag, 30. Dezember 2016, 8.30 Uhr Redaktion: Gábor Paál Regie: Günter Maurer Produktion: SWR 2015 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Wissen können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml Die Manuskripte von SWR2 Wissen gibt es auch als E-Books für mobile Endgeräte im sogenannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. 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Sapelza, ein Endvierziger mit markantem Gesicht, deutet über das ehemalige Frontgebiet und erläutert den tragischen Aspekt dieses Kriegs: OT Paul Sapelza: Vor dem Krieg war das die Landesgrenze zwischen Italien und Österreich. Des waren ja freundliche, friedliche Nachbarn, die seit Jahrhunderten zusammenarbeiteten, die mal rüber, mal rüber machten. Es gibt ja auch Verwandtschaftssituationen hier und da an der Grenze, und plötzlich mussten die sich bekämpfen. Deswegen gibt es auch viele Erzählungen von sehr kameradschaftlichen Aktionen am Berg, z.B. Winter- oder Weihnachts-Aktionen, wo die gemeinsam das Weihnachtslied gesungen haben oder sich gegenseitig mit Zigaretten ausgeholfen. Also nicht nur Mann gegen Mann, sondern auch Gemeinsamkeiten. Erzähler: Zum ersten Mal hörte Paul Sapelza vom Alpenkrieg als kleiner Junge – von seinem Großvater, der kein Militarist war, aber dennoch wie besessen immer von jenem Krieg sprach und sich noch im Alter von 84 genau an Dutzende von geographischen Gebietskoordinaten erinnern konnte, die den Artilleristen die Schussgenauigkeit erleichterten. OT Paul Sapelza: Da sieht man mal, wie eindrücklich dieser Krieg gewesen sein muss und wie traumatisiert dann auch die Soldaten dann sind. Man muss bedenken, dass diese ganze Generation von Soldaten keine Behandlung gehabt haben, die sind dann später zurück in ihre Familien, in ihre Dörfer und haben nichts gehabt, also so gesehen wird das schon bedeutsam, wenn wir uns erinnern. 2 Die Erkenntnisse des Ersten Weltkrieges, vor allem im Gebirge, sind, dass man im Gebirge keinen Krieg führen kann, man kann vor allem keinen Krieg gewinnen. Weil das ist einfach aussichtslos! Aber das wusste man damals nicht, auch die Italiener haben da überhaupt keine Erfahrung gehabt, zu Tausenden sind die gegen Maschinengewehre losgerannt und stecken geblieben. Grausam. Die wollten ja nicht Helden sein, die mussten einfach los Sprecherin: Dass die ehemaligen Nachbarn – Österreicher und Italiener – aufeinander losgehen, liegt nicht so sehr an menschlicher Schlechtigkeit, als an den Machenschaften der Großmächte und ihrer Geheimdiplomatie: Italien ist eigentlich mit Österreich-Ungarns verbündet, wird dann aber von England und Frankreich angestachelt, aus dem Bund auszutreten und seinem ehemaligen Partner Österreich den Krieg zu erklären. Für diesen Schritt werden Italien immense Gebietsgewinne im Fall eines Siegs versprochen: Istrien, Dalmatien und ganz Südtirol. Für Österreich ist der Seitenwechsel Italiens eine Katastrophe. Der Großteil der Soldaten ist weit weg und kämpft im fernen Galizien gegen die Russen. Nun plötzlich dieser neue Feind Italien, der unverbraucht ist und Österreich militärisch überlegen. Anfang Mai 1915 besetzen Italiens Regimenter mit den Rufen „Avanti Ragazzi!“ und „Evviva Savoia“ die ersten Bergstellungen in den Alpen und bereitet das Eindringen nach Österreich vor. Erst 14 Tage später folgt die offizielle Kriegserklärung. Österreich muss sich rasch etwas einfallen lassen. Hastig werden sogenannte Standschützen-Regimenter ausgehoben, Gruppen von meist bergerfahrenen, älteren oder sehr jungen Ortsansässigen, die noch nicht zur Front eingezogen wurden. Diese versuchen in nächtlichen Aktionen den Italienern vorzugaukeln, dass die Grenze besser geschützt sei als sie es in Wirklichkeit ist. Die Aktionen kosten viel Kraft und sind gefährlich. Einer jener Standschützen der ersten Kriegswochen ist der 51-jährige Hüttenwirt und Bergführer Sepp Innerkofler, aufgrund seiner vielfachen alpinistischen Erstbegehungen und Neurouten rund um den Dreizinnen-Stock bereits damals eine Legende. Paul Sapelza hat Innerkoflers Routen alle selbst durchgeklettert: OT Paul Sapelza: Er war sehr, sehr mutig und ein sehr, sehr guter Alpinist – und was der da geleistet hat, mit seiner fliegenden Patrouille in der Nacht von Gipfel zu Gipfel geeilt, um diese Präsenz vorzutäuschen! Er hat dabei irrsinnige Sachen geleistet, er hat dann bei der Gelegenheit manchmal eine Gams geschossen und die dann von den feindlichen Linien wieder in der Nacht zurückgebracht. Erzähler: Dabei ist Sepp Innerkofler durchaus kein Militarist, Kadavergehorsam und Duckmäusertum sind ihm fremd. OT Paul Sapelza: Er war kein regelrechter Soldat. Er war eigentlich für untauglich befunden worden, hat dann aber über die Standschützen erreichen können, dass er auch in den Krieg zieht. Aber es hat diese klassische Dissonanz gegeben, im österreichischen k.u.k.Heer, die Dissonanz zwischen unteren Dienstgraden und Berufsoffizieren, und aufgrund dieser Dissonanz gibt es auch immer sehr viel Misserfolg im Kriegsgeschehen. 3 Sprecherin: Dies ist auch der Grund, warum Sepp Innerkoflers berühmter Plan – die Stürmung des 2744 Meter hohen Paternkofel – scheitert. Die Alpini – die italienischen Gebirgsjäger – haben den steilen Berg trotz Sepp Innerkoflers Warnungen an seine Vorgesetzten schon frühzeitig besetzt und zu einem Kontrollpunkt ausgebaut. Atmo Stollengeräusche Erzähler: Wir stehen vor der ersten Kaverne auf dem Weg zum Paternkofel. Ein niedriger, modriger Bunker mit Schießscharten, von dessen Decke Wasser tropft. Am Eingang prangt noch das pompöse steinerne Siegel der italienischen Mineur-Abteilung. OT Paul Sapelza: Wir stehen jetzt am Eingang der Kaverne, oberhalb des Paternkofelsattels. Dort waren Scharfschützen postiert, die haben eingewirkt auf den Feind, man konnte sich nie frei bewegen. Ein paar Scharfschützen haben da genügt, um den ganzen Frontabschnitt zu kontrollieren. Du wusstest immer: Überall lauert ein Scharfschütze. Und die konnten schießen. Sprecherin: Innerkofler bekommt den Befehl zum Sturm erst, als der Gipfel bereits gut gesichert und mit Brustwehren ausgebaut ist. Am 3. Juli 1915 steigt er mit fünf Kameraden den Nordgrat auf, um die Italiener zu überrumpeln, wird dabei jedoch von eigener Infanterie und Artillerie beschossen. Kurz unterm Gipfel, in der Nordwandrinne, tötet ihn eine Maschinengewehr-Garbe seiner eigenen Einheit, die ein Kilometer entfernt am Innichriedel sitzt und über die Aktion von der Truppenleitung nur unzureichend informiert wurde. Atmo Musik OT Paul Sapelza: Dass das Ganze schlecht ausgehen könnte, hat der Sepp Innerkofler schon im Vorfeld gemeint, also hat er bei diesem ersten Mal seine Söhne unten gelassen und hat gesagt: „Es ist genug, wenn die Mutter um einen von uns weinen muss.“ Mit der Mutter hat er natürlich die Frau gemeint. Sprecherin: Diese tragischen Verstrickungen im Alpenkrieg gibt es überall – nicht nur in den Patrouillenkämpfen der unzugänglichen Dolomiten-Felstürme, sondern auch in den berüchtigten Materialschlachten der Sieben Gemeinden in der heutigen italienischen Provinz Vicenza. Hier, auf der Hochfläche von Folgaria-Lavarone, wird in den ersten Kriegstagen wahrscheinlich am erbittertsten gekämpft. Die österreichische Generalität hat bereits zehn Jahre vor dem Krieg ein ganzes System von Festungen anlegen lassen – große Verteidigungsbauten aus meterdickem Eisenbeton, mit gewaltigen Kuppel-Haubitzen, Kanonen, MG-Ständen und Scheinwerfern. Wie riesige steinerne Schlachtschiffe liegen diese Anlagen in der Landschaft. Gleich zu Beginn des Krieges versuchen die Italiener sie zu zerstören – mit zigtausenden Artilleriegeschossen, zehntausend allein auf die Wehranlage in Verle. Der damalige 4 Fähnrich und spätere Schriftsteller Fritz Weber, schildert den wochenlangen Beschuss so: Zitator: Jeder schwere Einschlag hat die Wirkung eines kräftigen Faustschlags über den Kopf. Die Ohren sausen, die Adern in den Pupillen platzen, Blut tritt aus den Augen. Hin und wieder wird einem übel und man muss Rum trinken, um es weiter auszuhalten. Sechs Stunden in der Kuppel sind die angemessene Buße für alle Sünden, die ein Durchschnittsmensch überhaupt begehen kann. Sprecherin: Der Beschuss wird schließlich so massiv, dass der Kommandant die Nerven verliert, sich absetzt und seiner Mannschaft, darunter Weber, die Verteidigung alleine überlässt. Irgendwann setzt der Artilleriebeschuss aus, die Italiener versuchen, die Anlage zu stürmen. Sie werden von den Maschinengewehren niedergeschossen. Fritz Weber erinnert sich. Zitator: Ich lehne an der Kuppelwand, die eine Hand noch immer am Griff des MGs, die andere im feuchten Haar vergraben. Meine Augen suchen den Jammer dort unten, schließen sich schaudernd wieder, aber es hilft nichts, ich sehe auch hinter den geschlossenen Lidern die hingeworfenen Menschen, ich sehe sie zucken und sich winden. Da schreit es durch die Finsternis, schreit hundertstimmig, gellend, fürchterlich. „O, Sono morto!“, klagt die Stimme langgezogen. „O mamma mia.“ Blei hagelt ins Hindernis, gottseidank, er ist erlöst, der Einsame dort unten zwischen Draht und Trichter. Doch da gellt es wieder, grässlicher als vorhin: „Sono morto! …. Sono moooorto! Mamma mia!“ Sucht ihn, sucht ihn, es ist nicht auszuhalten! Kauert er nicht in dem Loch dort unten?! Schießt ihn nieder! Werft eine Handgranate hinunter! Sprecherin: Fritz Webers realistische Chronik der ersten Kriegsmonate ist glaubwürdig – allein schon deshalb, weil seine Ausführungen durch den Erlebnisbericht eines Kameraden bestätigt sind, der zusammen mit Weber in Verle stationiert war und später ein berühmter Bergsteiger werden sollte: Der 23-jährige Artilleriefähnrich Luis Trenker hat in Verle die Berge in Flammen gesehen. Er nennt Verle das „Betonverließ“. Atmo Musik Sprecherin: Noch verbissener als auf der Hochebene von Lavarone wird jedoch in einem anderen Frontabschnitt gekämpft: am Isonzo – dem heutigen Grenzfluss zwischen Italien und Slowenien in den Julischen Alpen. Die italienische Generalität ist überzeugt davon, dass hier der Durchbruch am leichtesten zu schaffen ist. Denn die österreichischen Truppen befinden sich regelrecht auf einem Präsentierteller. „Menschenmühle“ wird der Frontabschnitt am Isonzo genannt, wegen der Opferzahlen. Das Gelände ist steil, reicht bis auf 2.300 Höhenmeter hinauf. Aufgrund 5 der Karst-Geologie in den Dolomiten ist der Untergrund porös, das hat die die Erschütterungen durch die Granaten-Einschläge waren um ein Vielfaches verstärkt. Selbst die Versorgung mit Wasser wird hier zum tödlichen Vorgang: Zitator: Wurde Schnee zum Trinken benötigt, mussten Scharfschützen und ein Maschinengewehr erst dafür sorgen, dass durch Dauerfeuer der Gegner 20 bis 30 Sekunden niedergehalten wurde und am Beobachten gehindert wurde. Dann sprangen zehn bis fünfzehn Mann mit Kübeln und Essschalen zu den Schneelöchern und rannten wieder in Deckung. So mancher musste das mit dem Leben bezahlen. Sprecherin: In elf Isonzo-Schlachten rennen die Italiener permanent gegen die österreichischen Stellungen an – und verlieren dabei zu Tausenden ihr Leben. Die Soldaten kämpfen mit allem, was sie haben – Gewehrkolben, Bajonetten, Fäusten, Eispickeln, Messern, Steinen, zugeschliffenen Spaten, mit Nägeln gespickten Sturmkeulen. 200.000 Soldaten fallen in elf Schlachten – und das für nur zehn Kilometer Bodengewinn. Ein Kämpfer berichtet: Zitator: Um gegen den Gestank der Leichen vorzugehen, hatte man Naphta aus den Stellungen gespritzt und angezündet, sowie Karbolsäure über die Leichen gegossen. Umsonst. Jedesmal, wenn nach Regentagen wieder die Sonne kam, wehte der Pesthauch herüber. Sprecherin: So können die Österreicher, wie durch ein Wunder diesen Frontabschnitt gegen Italien halten, das nach wie vor an Ausrüstung und Soldaten überlegen war, erläutert der Augsburger Historiker Günther Kronenbitter: OT Günther Kronenbitter: Während die Habsburger Armeen gegen Russland oder auch gegen Serbien für Offensiv-Operationen sich im Jahr 1914 als schlecht vorbereitet erweisen und ziemlich schlimm scheitern, unter sehr hohen Verlusten, bewähren sie sich tatsächlich ganz ausgesprochen in den Abwehrkämpfen an der Isonzo-Front. Sprecherin: Ihre fast unglaublichen Erfolge in der Verteidigung lassen die Österreicher Anfang 1916 übermütig werden. Eben noch mit Müh und Not einem militärischen Debakel entronnen, schmieden sie nun Pläne für eine Offensive. In einem eng begrenzten Vorstoß wollen sie die italienische Front durchbrechen, ins venezianische Tiefland vordringen und die Isonzo-Truppen einkesseln: OT Günther Kronenbitter: Wenn man sich jetzt mal die Lage – Anfang 1916 – vor Augen hält, an der Front, aus österreichischer Perspektive, kann man sagen: Man hat sich erfolgreich verteidigt, zugleich ist 1915 die russische Gefahr einigermaßen eingedämmt worden, und im Herbst 1915 wird auch Serbien erobert, mit bulgarischer und deutscher Unterstützung. Im Grunde ist 1916 damit jetzt einigermaßen Ruhe auf dem Balkan, und es ist ganz interessant zu beobachten, dass sowohl die Deutschen wie auch die 6 Österreicher die gleiche Idee haben: Beide wenden sich nun wieder ihrem Lieblingsfeind zu: die Deutschen den Franzosen und nebenbei den Engländern, und auf der österreichischen Seite gibt‘s das Pendant, weil man ja schon immer davon geträumt hat, die Italiener so richtig militärisch zu besiegen und sich nicht nur zu verteidigen. OT Günther Kronenbitter: Das war im Grunde dann gedacht als die definitive Abreibung, die man den Italienern geben wollte, als Strafe für den Verrat von 1915. Das Dumme war nur, das Ganze beruhte auf mindestens zwei Annahmen, die man nicht so ganz in der Hand hatte. Sprecherin: Da war zunächst einmal das Wetter. Die österreichische Generalität legt als Angriffszeitpunkt den April 1916 fest – das Ende eines der schneereichsten Winter aller Zeiten. Schon März 1916 werden unter allergrößter Geheimhaltung die bewährtesten Truppen von der russischen Front abgezogen und über kuriose Umwege in die Alpen transportiert. Befehlshaber Franz Conrad von Hötzendorf – ein notorischer Italienerhasser – träumt bereits von der Eroberung Venedigs, Paduas und Vicenzas, um … Zitator: ...diese Hunde endlich anzugreifen! Sprecherin: Doch am Tag des Angriffs, dem 15. April, schneit es erneut, gut zweieinhalb Meter. Die Truppen bleiben im meterhohen Schnee stecken. Der österreichische Generalstab verschiebt den Angriffszeitpunkt wieder und wieder – so oft, dass sich die Italiener durch Überläufer Einblick in die Pläne verschaffen können. Die „geheime“ Offensive ist bald so wenig geheim, dass selbst Kaiser Franz Joseph I. im fernen Wien verlautbaren lässt, die ganze Stadt spreche von einem Großangriff, nur er wisse nichts davon. Dann, am 15. Mai 1916 greifen die österreichischen Truppen an, durchstoßen die italienischen Stellungen. Doch der Angriff gerät ins Stocken, die Geländegewinne sind aufgrund der Versorgungsschwierigkeiten kaum zu halten. Außerdem erfahren England und Frankreich vom drohenden Durchbruch der Österreicher und setzen umgehend Russland unter Druck, Österreich von Osten her ebenfalls anzugreifen und dadurch Italien zu entlasten. Das gelingt, die Österreicher blasen ihre Pläne ab schicken das Gros ihrer Truppen an die Ostfront zurück. Doch da waren schon 30.000 Soldaten in dieser vergeblichen Offensive dieser kurzen Frühlingswochen gefallen. Atmo Musik Sprecherin: Nach den unsäglichen Verlusten auf beiden Seiten drängt sich den Kämpfenden immer stärker die Frage auf, wozu dieser Krieg eigentlich gut sein soll. Vor allem in Italien kommt es im Verlauf des Jahres 1916 und 1917 zunehmend zu pazifistischen Massen-Kundgebungen, an der Front desertieren immer mehr Soldaten. Angriffe fußen auf einem ausgeklügelten System, das es den Befehlshabenden ermöglicht, zaudernde Soldaten sofort wegen Befehlsverweigerung erschießen zu lassen, doch nun werden die Italiener rabiater. 7 OT Günther Kronenbitter: Desertionen sind natürlich Gradmesser der Loyalität, der Belastbarkeit der Truppe und damit haben die Italiener sehr stark zu kämpfen gehabt mit dem Problem und sind besonders hart gegen alle Gefahren der Desertion vorgegangen. Sprecherin: Sie wenden sowohl bei ihren Truppen als auch bei slowenischen Zivilisten die sogenannte Dezimation an – die Erschießung eines jeden Zehnten, um Ungehorsam zu bestrafen. OT Günther Kronenbitter: Das ist im Fall der k.u.k.-Armee nicht so grundsätzlich anders, aber hier sollte man eines hervorheben, was die Forschung lange übersehen hat: Die Loyalität und letzten Endes auch die Kampfbereitschaft der Truppen der k.u.k.-Armee war fast bis zum Schluss des Krieges ganz erstaunlich hoch. Wenn man sich überlegt, dass Österreich-Ungarn in den Krieg eingetreten ist bzw. ihn entfesselt hat, 1914, aus Angst davor, dass früher oder später die Verlässlichkeit der eigenen Soldaten – mit diesen vielen verschiedenen Nationalitäten – nicht mehr gewährleistet sein würde, wenn man sich das vor Augen hält, ist es geradezu eine tragische Ironie, dass sich im Krieg erwies, wie haltbar, wie belastbar eigentlich diese k.u.k.-Armee gewesen ist. Sprecherin: Mitte September 1917, nach der elften Isonzo-Schlacht, ist Österreich mit seiner Kraft am Ende – zu hoch sind die bisherigen Verluste. In dieser schicksalhaften Lage kommt dem wankenden Gegner das Deutsche Reich zur Hilfe. Es schickt – unter dem Decknamen „Waffentreue“ – mehrere Divisionen deutscher Truppen, u.a. das Deutsche Alpenkorps. So werden unter größter Geheimhaltung über Wochen hinweg Geschütze, Granaten und Soldaten zur Isonzo-Front transportiert. Vor allem aber: Zugladungen von Giftgas. Auch die anderen kriegsführenden Nationen experimentieren mit dieser neuen Waffe herum, doch die Deutschen – nicht zuletzt durch Pionierarbeiten von Wissenschaftlern der Bayer AG – sind Vorreiter. Sie entwickeln im Verlauf des Kriegs eine Technik, die sich „Buntschießen“ nennt: das tückische Kombinieren verschiedener Chemikalien, die die herkömmlichen Gasmasken austricksen und ihre Filter nutzlos machen. Beispielsweise die Mischung von Chlor-Arsen und Phosgen. Chlor-Arsen ruft einen unerträglichen Juckreiz hervor und bringt den Angegriffenen dazu, sich die Maske herunterzureißen. Phosgen wiederum reagiert beim Kontakt mit Körperflüssigkeit zu Salzsäure. Innerhalb von zwei Stunden zerfrisst es das Lungengewebe eines Menschen – bei vollem Bewusstsein. Mitentwickelt haben diese Technik zwei Chemiker, die viele Jahre später mit dem Nobelpreis ausgezeichnet werden: Fritz Haber und Otto Hahn. Sie sind nun an der Isonzo-Front vor Ort, um den Gas-Angriff zu koordinieren. Die italienischen Soldaten, die nur mit den veralteten Gas-Gemischen der k.u.k. Armee vertraut sind, ahnen nicht, was auf sie zukommt. Am 24. Oktober 1917 verschießen deutsche Pionier-Abteilungen ab 2 Uhr nachts 70.000 Grün- und Blaukreuzgranaten auf die italienischen Stellungen. Ein überlebender Italiener erinnert sich: Zitator: Tiefe Stille, nichts zu hören. Wir wollten gerade von der Patrouille zurückkehren, um zwei Uhr nachts, plötzlich ein Knall! Vier Schritte von mir entfernt explodierte eine Granate. Es traf mich nur der Luftdruck, sonst nichts. Ein Feuergewitter aus 8 Geschützen aller Kaliber kam über uns. Es sah aus, als ob vor unserer Kaverne die Hölle ihre Tore öffnen würde. Dann die Schreie „Gas! Gas!“ und ein seltsamer Geruch nach fauler Erde und Mandeln. Sprecherin: Es gelingt, womit niemand gerechnet hat: Die anstürmenden österreichischen Truppen schaffen den Durchbruch. Als „Wunder von Karfreit“ geht der Angriff der 12. Isonzo-Schlacht in die Geschichte ein, die Italiener nennen den Tag „die Katastrophe von Caporetto“. Die Dolomiten-Front jedenfalls bricht wie ein Kartenhaus zusammen, und der Giftgas-Spezialist Otto Hahn resümiert in seinen Aufzeichnungen befriedigt: Zitator: Die Italiener saßen hier am Isonzo einer so guten Position, dass sie mit normalen Mitteln nicht zu vertreiben gewesen wären. Nach dem Beschuss aus unseren Gaswerfern stießen die deutschen und die österreichischen Truppen auf keine Gegenwehr. Den Angriff selbst erlebte ich schon nicht mehr, denn neue Aufgaben harrten meiner an der Westfront. OT Günther Kronenbitter: Also, sicherlich ein Teil des Erfolgsrezeptes war, dass hier – im Grund genommen zum ersten Mal – Truppen aus dem Bereich der Westfront von den Deutschen miteingesetzt wurden, die über eine andere Art von Kriegserfahrung verfügten als sowohl die Österreicher als auch die Italiener an der Isonzo-Front. Atmo Musik OT Günther Kronenbitter: Die klassische Form des Kämpfens in gebirgigen Räumen war, dass man die Höhen sichert – also die Gipfelpunkte, von denen aus man die Kontrolle über die Täler haben würde, sobald man da oben Artillerie stationiert. Hier, bei Caporetto, wird darauf nun bewusst verzichtet, man spricht da vom Talstoß, weil im Grunde genommen die Angreifer in den Tälern vorpreschen und keine Rücksicht nehmen, ob auf den Höhen noch feindliche Positionen übrigbleiben, im Rücken eigentlich der eigenen Kommunikationswege, der eigenen Verbindungswege. Sprecherin: So verlagert sich nach dem Zusammenbruch der italienischen Stellungen die Front ans Tiefland des Flusses Piave, kurz vor Venedig – in eine bäuerliche Gegend, die in diesen Jahren regelmäßig von Überschwemmungen und Malaria heimgesucht ist. Wie ein österreichischer Beobachter feststellt: Zitator: Der Landstrich ist so unsagbar öde, trostlos und armselig, dass – säße der Tod hier leibhaftig auf der Straße – man es selbstverständlich finden würde. Sprecherin: Hier – am westlichen Piave-Ufer – haben sich die italienischen Truppen erneut gesammelt, und es innerhalb weniger Tage geschafft, neue Stellungen aus dem Boden zu stampfen. Vom Isonzo kommend, gelangen die Österreicher an den Piave, und erleben eine Front, die für eine Verteidigung wie geschaffen ist. Die Italiener 9 werden zudem unterstützt von englischer und französischer Seite, die Österreicher dagegen sind überfordert. Ohne ausreichende Munition, miserabel ernährt und ausgelaugt, versuchen sie in immer neuen Aktionen, den Piave mit Schiffen und Pontons – also Schwimmkörpern – zu überqueren. Ganze Regimenter werden bei diesen Einsätzen verpulvert, wie der Historiker Peter Schubert berichtet: Zitator: Das Artilleriefeuer zerschlug sie. Die einschlagenden Granaten rissen meterhohe Fontänen empor. Die Schotterbänke wurden aufgewühlt. Die Soldaten ruderten verzweifelt um ihr Leben. Boote kippten, wurden von den Fontänen hochgerissen, führerlose Pontons rissen andere in die Strömung. Sprecherin: Ein hoher österreichischer Offizier fasst die Lage seiner Soldaten so zusammen: Zitator: Was nicht tot ist, ist erschöpft. Was nicht erschöpft ist, ist irrsinnig. Sprecherin: So dämmert es der k.u.k. Armee spätestens Ende 1917, dass es langsam dem Untergang entgegengeht. OT Günther Kronenbitter: Jedenfalls, das Ende vom Lied 1917 war: Die Deutschen verlieren letztlich das Interesse daran, sich jetzt noch weiter mit vielen Soldaten zu engagieren, brauchen diese Soldaten für die letzte große Offensive 1918 an der Westfront, so bleibt die Front am Piave stehen, und sie bleibt da wirklich fix stehen. Und ab da war eigentlich die k.u.k. Armee – man könnte sagen – stehend K.O., zu eigenständigen Operationen war diese Armee nicht mehr in der Lage. Sprecherin: Österreichs Piave-Front bricht schließlich zusammen – und mündet in einen chaotischen Rückzug. Panisch fliehen alle noch nicht in Kriegsgefangenschaft geratenen k.u.k.-Soldaten zurück nach Österreich oder in die nun aus der gerade zerfallenden Donaumonarchie neu entstehenden Länder wie die Republik Ungarn, ins Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. Zitator: Ein Schlachtende, das es in der Weltgeschichte noch nie gegeben hatte. Sprecherin: Schreibt der Militärhistoriker Peter Schubert. Für Südtirol brechen nun finstere Zeiten an, denn der Sieg Italiens begünstigt vor allem die dortigen extremen Nationalisten: Männer wie Benito Mussolini und Gabriele D'Annunzio, die selbst längere Zeit an der Isonzofront gekämpft haben. Diese betreiben jetzt im Zuge des aufkommenden Faschismus die totale „Italienisierung“ der Südtiroler Gebiete: mit Zwangsumsiedlungen, politischer Entmachtung, grotesken Umbenennungen aller Ortsnamen, Verbot des Namens „Südtirol“ und zeitweise sogar einem Einreiseverbot für deutschsprachigen Besucher. 10 Atmo Alm Erzähler: Die Sonne kommt aus den Wolken, und der kalte Spätherbst-Tag wird fast ein wenig sommerlich. Eine Schar von Dohlen kreist um die steilen Kanten des Paternkofels, und Paul Sapelza resümiert: OT Paul Sapelza: Die Erkenntnisse, wenn so will, des Ersten Weltkrieges, sind, dass man im Gebirge keinen Krieg führen kann, man kann vor allem keinen Krieg gewinnen. Weil das ist einfach aussichtslos! **.**.** 11
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