1 Freitag, 09.12.2016 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Jörg Lengersdorf Ein Hauch Hollywood – hinreißend Joseph Jongen Symphonie Concertante op. 81 Passacaglie et Gigue op. 90 • Sonata Eroica op. 94 Christian Schmitt Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern Martin Haselböck cpo 777 593-2 Klug zusammengestellt JOHANNES BRAHMS STRING QUARTET NO. 3 OP. 67 • LIEDER SCHOENBERG STRING QUARTET NO. 2 OP. 10 KUSS QUARTET Mojca Erdmann onyx 4166 Höllisch schnelle Finger Édouard LALO Symphonie espagnole Joan MANÉN Concierto español Tianwa Yang, Violin Barcelona Symphony Orchestra Darrell Ang NAXOS 8.573067 Fegefeuer der Eitelkeiten ORA REFUGE FROM THE FLAMES ORA 906103 (harmonia mundi) Virtuos und kundig musiziert Johann Wenzel Kalliwoda Orchestral works Daniel Sepec, Violino Pierre-André Taillard, Clarinetto Hofkapelle Stuttgart Frieder Bernius Carus 83.289 Packend, berührend Frode Haltli … AIR … Bent Sørensen … Hans Abrahamsen Arditti Quartet … Trondheim Soloists ECM 2496 Keine neuen Ideen DANIEL BARENBOIM ON MY NEW PIANO SCARLATTI • BEETHOVEN • CHOPIN • WAGNER • LISZT DG 479 67248 2 Signet „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“ … heute mit Jörg Lengersdorf. Vor 150 Jahren im Winter, Dezember 1866, starb ein Komponist auf jenem Territorium, das man heutzutage das klassische Sendegebiet von SWR2 nennt. 40 Jahre lang war Johann Wenzel Kalliwoda, gebürtig in Prag, Hofkapellmeister in Donaueschingen. Im Schlosspark des Fürstenberger Hofes steht noch heute Kalliwodas Denkmal, an seinem Sterbehaus in Karlsruhe kann man immerhin eine Gedenktafel finden. Der Tonträgermarkt hat 2016 das Kalliwoda-Gedenkjahr weitgehend ignoriert. Umso schöner, dass das Label Carus nun doch noch zum Ende des Jahres eine CD mit Kalliwoda-Orchesterwerken auf den Markt bringt. Die habe ich ins Studio mitgebracht. Außerdem gibt es heute in Treffpunkt Klassik neue Aufnahmen des Kuss Quartett, der Geigerin Tianwa Yang, des Akkordeonisten Frode Haltli und vom Vokalensemble ORA. Des Pianisten Daniel Barenboims selbst entworfenes neues Lieblingsgerät, seinen neuen Konzertflügel, ein Instrument mit angeblich unerhörten Spielmöglichkeiten hören wir kurz vor Ende der Sendung. Was jetzt aber sofort zu Anfang wuchtig und festlich die Tore aufstößt, ist Musik von Joseph Jongen: Joseph Jongen: Symphonie concertante op. 81, 4. Satz 5:45 Die Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern, Dirigent Martin Haselböck und Organist Christian Schmitt mit einer Toccata, die einem buchstäblich die Ohren wegbläst. Das ist einmal wirklich frischer Wind auf dem CD-Markt. Komponist Joseph Jongen hatte noch das Glück, Johannes Brahms persönlich kennen gelernt zu haben, wurde kurzzeitig Chordirektor der Bayreuther Festspiele und emigrierte während des Ersten Weltkrieges nach England. Und er kannte als Organist die großen Cavaillé-Coll-Orgeln, die in Frankreich der Orgelmusik ganz neue klangliche Räume eröffneten. Tatsächlich sitzt Jongens Musik irgendwie zwischen den nationalen Stühlen. Man hört britischen Pomp, schweren Pariser Orgelduft in luftig impressionistischem Umfeld, Wagnersches Pathos und Ironie à la Richard Strauss. Und da Jongen auch für die pompösen Wanamaker Orgeln in den USA schrieb, schwingt da manchmal sogar ein Hauch Hollywood mit. Hinreißend. Joseph Jongen: Passacaglia et Gigue op. 90, Gigue 7:35 Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern unter Dirigent Martin Haselböck mit der Gigue aus op. 90 vom belgischen Komponisten Joseph Jongen. Wer hätte bei Erstkontakt mit einer neuen Jongen-CD an schlagerverdächtige Ohrwürmer gedacht? Ich jedenfalls nicht, lasse mich nun aber gern eines Besseren belehren. Organist Christian Schmitt spielt Joseph Jongens Orgelwerke mit rhythmisch unerhörtem Zug. Die Orgel der Philharmonie Luxemburg vereint aufs glücklichste Eigenschaften französischer und angelsächsischer Orgelbautraditionen, Dirigent Martin Haselböck, selbst Organist, legt sich mit brennendem Enthusiasmus für diese Musik ins Zeug. Orgelmusik von Joseph Jongen, erschienen beim Label Carus, das ist klanglicher Hochdruck im schönen Sinn des Wortes. Da wirkt die nächste CD beinahe beschaulich, jedenfalls vordergründig volkstümlich. Johannes Brahms, gespielt vom Kuss Quartett: Johannes Brahms: Streichquartett Nr. 3 op. 67, 4. Satz 9:35 Oft wirken Brahms„ Streichquartette so, als hätte der Meister Furcht davor gehabt, nach Beethovens späten Quartetten noch etwas Unkompliziertes zu schreiben. Tatsächlich 3 können Brahms-Quartette sperrig daherkommen. Oft – aber keineswegs immer. Im dritten Brahms-Quartett gibt es da zum Beispiel den gerade vom Kuss Quartett gehörten Finalsatz, dessen Thema ganz unverhohlen volksmusikalisch daherkommt, auf Tanzfüßen, die schon ein paar Blasen haben. Das Kuss Quartett spielt den Satz dennoch vor allem am Anfang zerbrechlich, verwundbar, als würde die Tänzerin erröten wegen ihres groben Tanzkleides. Dass dieser Brahms auf der Suche bleibt, nie ganz auf sicherem Boden steht, wird wunderbar schlüssig, wenn man die ganze CD durchhört. Wie immer beim Kuss Quartett ist auch das Programm dieser CD wieder ungeheuer klug zusammengestellt. Auf Brahms folgt Schönbergs zweites Streichquartett mit Singstimmen: „Dann seh„ ich, wie sich duftige Nebel lupfen …“ Arnold Schönberg: Streichquartett Nr. 2 op. 10, 4. Satz (Ausschnitt) 1:30 Nachdem sich Brahms einer untergehenden Welt der Romantik schon nicht mehr sicher ist in seinen Quartetten, wittert Arnold Schönberg 40 Jahre später ein neues Klanguniversum am Horizont. „Ich fühle Luft von anderem Planeten“ singt Mojca Erdmann im Text von Stefan George, der Arnold Schönbergs Aufbruch in diesem zweiten Streichquartett ankündigt. Seit dem tumultartigen Skandal der Uraufführung im Dezember 1908 war im Streichquartettspiel eine neue Zeitrechnung angebrochen, von hier an würde nichts mehr so sein, wie es vorher war. Die musikalische Welt war nachhaltig erschüttert. Da ist es schon ein unverschämt kluges Moment dieser CD, wenn nach Schönbergs zweitem Streichquartett wieder Brahms erklingt. Brahms erstes Lied aus op. 85 beginnt mit einer kurzen harmonischen Irritation. „Wohin?“ scheint es zu fragen … Johannes Brahms: Sommerabend op. 85 Nr. 1 2:15 Mojca Erdmann und das Kuss Quartett im ersten der Brahms-Lieder aus op. 85: Sommerabend. Seit Mojca Erdmann 2009 und 2010 in Opern von Wolfgang Rihm bei den Salzburger und den Schwetzinger SWR Festspielen debütiert hat, gilt sie als Spezialistin für zeitgenössische Musik in den oberen Regionen des Sängerhimmels, da, wo die Luft dünn wird für Konkurrenz. Mojca Erdmann will mehr. Das weiß man nicht nur seit ihren gefeierten Mozart-Aufnahmen, sondern auch seit ihrem etwas schrägen Auftritt beim Eurovision Song Contest 2013 vor einem ziemlich klassikfernen Publikum inmitten von Popsternchen. Dem stets klug programmierenden Kuss Quartett ist es nun gelungen, Mojca Erdmann wieder dahin zu holen, wo sie am besten ist. Der Beginn des Schlusssatzes von Schönbergs Quartett mit Sopranstimme ist selten so durchsichtig luftig gelungen, die Kombination mit Brahms ist in dieser Zusammenstellung genial naheliegend. Eine intelligente Produktion im besten Sinne, erschienen beim Label onyx. „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“, das ist Musik des vergessenen Geigenvirtuosen Juan Manén: Joan Manén: Concierto español, 3. Satz 7:45 Tianwa Yang, Violine, begleitet vom Sinfonieorchester Barcelona unter Darrell Ang mit dem Finalsatz des Violinkonzerts von Joan Manén, einem 1971 verstorbenen Supervirtuosen. Man glaubt es nach diesem Violinfeuerwerk kaum, aber Manén soll als Kind, Ende des 19. Jahrhunderts, die Übungsstunden mit der Geige gehasst haben. Mit drei Jahren schon hatte er Musikunterricht vom Vater bekommen, die tägliche Klavierstunde liebte er, das Kratzen auf der Geige war sein Alptraum. Und so war Manén zunächst einmal ein fulminanter Pianist, beherrschte bereits ein Chopin-Konzert als Dreikäsehoch, spielte beim Debüt mit sieben Jahren aber trotzdem beide Instrumente. Es wundert kaum, dass der kleine Manén mit zehn Jahren dann sein erstes Orchester dirigierte. Richtig aufgeblüht sei der Junge aber erst, als sein tyrannischer Vater 1908 starb, das liest man im extrem klein gedruckten, dafür aber äußerst informativen NAXOS-Booklet zur CD, die die Geigen- 4 supertechnikerin Tianwa Yang für das Label eingespielt hat. Nachdem Tianwa Yang in den letzten Jahren sämtliche Violinwerke von Pablo des Sarasate aufgenommen hat, setzt sie jetzt folgerichtig ihre Serie mit spanischer Musik fort. Sie macht dabei nicht nur Entdeckungen im unbekannten Repertoire, wie im Falle Juan Manéns, sondern spielt auch einen ewigen Hit des spanischen Repertoires: Édouard Lalos „Symphonie espagnole“. Édouard Lalo: Symphonie espagnole, 2. Satz 4:05 Es blitzt und blinkt im biegsamen Geigenton, die Rutscher bleiben elegant, landen punktgenau und haarscharf auf der guten Seite der Grenze zum Schmalz. Genauso will man das haben, denn natürlich gehört auch die parfümierte Opulenz zu diesem Repertoire. Wo, wenn nicht hier, darf man als Geiger noch so richtig fett auftragen!? Tianwa Yangs Ton könnte man sich allerdings in der Tat noch kalorienreicher und dicker wünschen, aber dafür verfügt sie über extrem fixe Reflexe und höllisch schnelle Finger. Natürlich wird mancher Geigenfanatiker hier die stolze Eleganz und den verführerischen Schmelz der Referenzeinspielung mit Jascha Heifetz aus den 50er Jahren vermissen. Diese ewige Höchstleistung des Geigenspiels überbietet auch Tianwa Yang nicht. Dafür spielt sie den gerade gehörten Satz immerhin noch ein paar Sekunden schneller als der heilige Heifetz, und der Rekord sei ihr gegönnt. Den eigentlichen Pluspunkt dieser CD heimsen Tianwa Yang und das Label NAXOS mit der Wiederentdeckung des hinreißenden Violinkonzerts von Joan Manén ein. Dafür lohnt der Griff zur CD unbedingt. „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“. Geistliche Vokalmusik liegt jetzt auf: Anonymus: Ecce quomodo moritur 1:45 Alte Musik, die um die noch älteren Worte kreist, die Girolamo Savonarola ein halbes Jahrhundert vorher geschrieben hatte. Der revolutionäre Bußprediger Savonarola hatte Ende des 15. Jahrhunderts nicht nur die Bewohner von Florenz zur Vertreibung der Medici aufgestachelt, sondern 1497 auch eine Horde von religiös eifernden Jugendlichen dazu gebracht, marodierend durch die Stadt zu ziehen, um irdische Besitztümer und gotteslästerlichen Tand der Bewohner zu verbrennen. Savonarolas „Fegefeuer der Eitelkeiten“ schaffte es als geflügeltes Wort bis in die Literatur der heutigen Gegenwart. Die visionäre Gewalt von Savonarolas Reden, Schriften und politischen Taten wurde von den einen als heilsbringend begrüßt, von den anderen als Teufelswerk verdammt. Der zornig besessene Büßer brachte nicht nur die städtische Ordnung in Florenz durcheinander, sondern auch die Kulturgeschichte danach. Für Goethe war Savonarola ein fratzenhaftes Ungeheuer, Thomas Mann widmete Savonarola immerhin sein einziges Theaterstück. Ein Leben wie dieses konnte nur durch einen Märtyrertod gekrönt werden, im Gipfel eifernden Fanatismus: Savonarola wurde 1498 in Florenz erst gehängt, dann verbrannt. In den zwei Wochen vor der Hinrichtung schrieb Savonarola noch im Foltergefängnis viele der Texte, die das Vokalensemble ORA auf einer neuen CD in verschiedenen Vertonungen aufgreift: Traurigkeit bedrückt mich, mit einem starken Heere hat sie mich umzingelt: „Tristitia obsedit me”. Claude Le Jeune: Tristitia obsedit me, magno 5:00 „Ich sagte: Was soll ich rufen? Rufe, sagte er, mit Zuversicht und von ganzem Herzen.“ So heißt es im oft vertonten Text von Girolamo Savonarola, den er kurz vor seiner Hinrichtung im Foltergefängnis mit jener Hand schrieb, die die Schergen absichtlich unversehrt ließen, in der Hoffnung, Savonarola würde damit sein Geständnis schreiben. 5 Man darf es vielleicht sogar ironisch nennen, dass so viele Komponisten Texte Savonarolas nach dessen Tod mehrstimmig vertont haben. Savonarola hatte in seinen Predigten aufs heftigste gegen die gottlose Mehrstimmigkeit gewettert, die den Text vergessen ließe. Und so lässt die CD des Vokalensembles ORA auf den tröstlichen Gedanken kommen, dass selbst ultrareligiöse Eiferei, die an Wahnwitz grenzt, wie bei Savonarola, im Laufe der Jahrhunderte doch in etwas Fruchtbares und Schönes verwandelt werden kann – wenn man Kunst und Kultur ihren Lauf lässt. Das stelle ich mir gerne vor, kurz vor dem Fest der Liebe. Die CD ist erschienen beim Label ORA im Vertrieb von harmonia mundi. Sie hören „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“, ich bin Jörg Lengersdorf, das ist Musik von Johann Wenzel Kalliwoda: Johann Wenzel Kalliwoda: Concertino Nr. 1 E-Dur op. 15, 3. Satz 6:20 Ein Beitrag zum Kalliwoda-Jahr 2016. Ja, man hört richtig. 2016 ist Kalliwoda-Jahr, auch wenn einem das bisher viel zu selten gesagt worden ist. Daniel Sepec, begleitet von der Hofkapelle Stuttgart unter Frieder Bernius, mit dem Finalsatz aus Johann Wenzel Kalliwodas Violinconcertino in E-Dur. 1866, im Winter vor 150 Jahren, starb der Komponist in Karlsruhe, mit 65 Jahren. Anderthalb Jahrhunderte hatte die Musikgeschichte also Zeit, sich mit dem Nachlass des Mannes zu beschäftigen, der fast 50 Jahre lang die Musik des Fürstenberghofes in Donaueschingen bestimmte. Wenn Donaueschingen noch heute ein klingender Name in der Musikszene ist, dann liegt das eben auch an jener Tradition, die Johann Wenzel Kalliwoda aus Prag dort so gut gepflegt hat. Neue Musik in Donaueschingen, das war vor knapp zwei Jahrhunderten häufig Kalliwoda-Musik. Nicht einmal zehn CDs mit Werken von Kalliwoda bekommt man derzeit problemlos auf dem Tonträgermarkt, aber immerhin bringt das Label Carus nun, pünktlich zum 150. Todestag, eine Produktion heraus. Kalliwodas Violinconcertino ist durchaus hinreißende Musik, virtuos und im historischen Kontext kundig musiziert von Geiger Daniel Sepec. Aber man ahnt auch, warum der reisefaule Kalliwoda, der den Donaueschinger Hof selten verließ, mit solchen Stücken keinen umwälzenden Einfluss auf die Historie genommen hat: Das Concertino ist auf Sicherheit komponiert, gefällig. Das darf man natürlich trotzdem attraktiv finden. Revolutionäres Potenzial ist ja kein ästhetisches Muss. Donaueschinger Biedermeier, könnte man sagen, wenn das Konzert nicht in Prag uraufgeführt worden wäre. Sturm und Drang-Wolken der etwas düstereren, aufregenderen Art ziehen aber auf in Kalliwodas erster Sinfonie von 1825. Johann Wenzel Kalliwoda: Sinfonie Nr. 1 f-Moll op. 7, 4. Satz 5:30 Irgendwie erinnert das an Mendelssohn. Es ist aber vom Donaueschinger Hofkapellmeister Johann Wenzel Kalliwoda, genauer: dessen erste Sinfonie von 1825. Kalliwoda war 24 Jahre alt und hatte nicht lange vorher die Stelle am Fürstenberger Hof angetreten, die er fast bis zum Lebensende behalten sollte. Hofmusik war Anfang des 19. Jahrhunderts bereits schwer aus der Mode, das Bürgertum drängte in die kulturelle Führungsrolle. Und so blieb auch Kalliwodas Musik immer irgendwie ein Schattengewächs, obwohl sie durchaus erfolgreich auch in Leipzig oder Prag aufgeführt wurde. Eine CD mit Kalliwodas erstem Violinconcertino, einem späteren Variationenwerk für Klarinette und dessen erster Sinfonie ist zum 150. Todestag des Komponisten beim Label Carus herausgekommen. Sammler und Sucher musikalischer Kleinode werden daran sicher ihre Freude haben. 6 „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“. Das Folgende ist „Schmerz, der langsam eine weiße Wand hinab fließt“, „It is Pain Flowing Down Slowly on a White Wall“ von Komponist Bent Sørensen: Bent Sørensen: It is Pain Flowing Down 3:20 Ein Zuschauer aus Ungarn kam eines Tages nach einem Konzert zum Komponisten Bent Sørensen und bemerkte, seine Musik klinge wie Schmerz, der eine weiße Wand hinunter rinne. Und so kam diese schöne mit Neuer Musik-CD zu ihrem Titel „It is Pain Flowing Down Slowly on a White Wall“. Nun hat diese Überschrift zweifellos auch eine augenzwinkernde Komponente, denn vom englischen „Pain“, „Schmerz“, ist das Wort „Wandfarbe“, „Paint“ nur einen Buchstaben entfernt. Ein Eimer voll Schmerz und eine leere Wand. Was kann man daraus alles machen. Und was hier alles gemacht wird: Man erlebt wechselnde Visionen auf einer blütenreinen Klangfläche, manchmal einsamen Tango, manchmal schreiende Agonie. Die Instrumentation mit Solo-Akkordeon und Streichorchester entfaltet dabei eine ungeheure Wirkung. Während die Streicher gleißend leuchten, oszillieren, bringt das Akkordeon jene dunkle, einsame Melancholie, die nur ein Akkordeon nun einmal hat. Ein Schelm, wer an Schifferklavier dabei denkt, aber es ist eben genau jenes Spiel mit dem clichéhaften Abgrund von rauschduseliger Wehmut, der die neue CD des Akkordeonisten Frode Haltli so unwiderstehlich macht: Kein Akkordeon ohne „Humtata“, und das wird hier genüsslich zerfetzt: Hans Abrahamsen: Three Little Nocturnes 2:35 Die zweite der drei kleinen Nocturnes für Akkordeon und Streichquartett von Komponist Hans Abrahamsen. Wunderbar schräge Musik, dieser Satz klingt mitunter, als sei es auf dem letzten Feuerwehrball etwas spät geworden, das stampfende Akkordeon gerät ins Wanken, ein schrilles Stimmengewirr der Streicher schneidet die dicke Luft, und am Schluss tröpfelt ein verirrter Trommelrhythmus über dem Wegdämmern der Szene. Kein Stück auf der CD des Akkordeonisten Frode Haltli ist älter als ein Dutzend Jahre, man findet eine gute Dreiviertelstunde Klänge des 21. Jahrhunderts, die sofort fesseln können. Und wer das Akkordeon bisher für uncool oder bieder hielt, wird hier auf wirklich packende, berührende Weise eines besseren belehrt. Die CD ist erschienen bei ECM. Der letzte vorzustellende Tonträger kommt von der ehrwürdigen Deutschen Grammophon. Pianist und Dirigent Daniel Barenboim hat sich verliebt und hat das in vielen Statements auch landauf, landab kundgetan: verliebt in seinen neuen Flügel. Auf dem spielt er zum Beispiel Liszts Mephisto Walzer: Franz Liszt: Mephisto Walzer Nr. 1 1:50 Mephisto Walzer. Seit Daniel Barenboim 2011 auf einem restaurierten Originalflügel von Franz Liszt gespielt hatte, träumte er davon, einen ganz neuen Flügel zu erfinden. Ein Instrument, das die klangliche Stabilität moderner Steinway Flügel verbinde mit der Transparenz historischer Instrumente. Und weil zwar sicher viele Leute aus der historisch informierten Aufführungspraxis einen ganz ähnlichen Traum haben, und auch mit Instrumentenbauern zusammen am Traum arbeiten, Maestro Barenboim aber nun einmal Maestro Barenboim ist, macht die Deutsche Grammophon daraus eine riesige Publicityblase. Richtig ist: Daniel Barenboim hat in Kooperation mit einem ausgesprochen versierten Klavierbauer einen Flügel konzipiert. Und tatsächlich: Dieser Flügel hat die sonoren Bässe moderner Steinways, eine etwas obertonreichere offene Mittelage und klingt oben im Diskant 7 mitunter wirklich wie ein ganz alter Bechstein Flügel vor 150 Jahren geklungen hat. Es ist offenbar tatsächlich eine klangliche Alternative zu dem doch sehr vereinheitlichten Standardklang moderner Konzertsäle: Gleiche Durchschlagskraft bei mehr Patina – eine schöne Vision. Wenn nun aber eine Plattenfirma wie die Deutsche Grammophon tatsächlich eine ganze CD mit Barenboim herausbringt unter dem Titel „On My New Piano“, dann müsste ja auch der Pianist durch das inspirierende Instrument zu neuen Ideen gekommen sein. Sonst könnte man ja auch jeden Monat Aufnahmen in anderen Sälen machen und anschließend am laufenden Band CDs herausbringen: „In My New Acoustics“, mit neuem Nachhall. Wie frisch klingt nun Daniel Barenboim auf seiner neuen Liebe? Frédéric Chopin: Ballade g-Moll (Ausschnitt) 2:10 Seien wir ehrlich, in dieser Schlusspassage von Chopins g-Moll-Ballade leistet sich Daniel Barenboim Dinge, die man keinem Nachwuchspianisten durchgehen lassen würde: Da werden Töne weggelassen, andere kaum getroffen. Geschenkt: Auch der Altmeister Vladimir Horowitz hat diese Passage mal in den Sand gesetzt, und trotzdem andere Stellen so magisch gespielt, dass man ihm jeden falschen Ton verziehen hat. Und genau auf diese Magie hatte man ja auch gehofft bei der neuen Barenboim-CD, schließlich spielt der ja wirklich in jeder Hinsicht verdienstvolle Meister auf seinem neuen Flügel. Aber irgendwie mag diese neue Liebe keine akustischen Funken zünden. Der Flügel mag fantastische neue Möglichkeiten haben. Aber man hatte erwartet, mehr davon zu hören. Diese CD voller kompositorisch virtuoser Schlachtrösser und poetischer Edelsteine ist eben weder besonders virtuos noch besonders poetisch, schade. Damit ist „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“ für heute zu Ende gegangen. Die Sendung steht, wie immer, eine Woche lang zum Nachhören bereit unter swr2.de, dort findet man auch Informationen zu allen gespielten Stücken und das Manuskript zum Nachlesen. Hier folgt jetzt gleich der „Kulturservice“, anschließend „Aktuell“ mit den Nachrichten. – Am Mikrofon verabschiedet sich Jörg Lengersdorf.
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