1 Freitag, 09.12.2016 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs

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Freitag, 09.12.2016
SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Jörg Lengersdorf
Ein Hauch Hollywood – hinreißend
Joseph Jongen
Symphonie Concertante op. 81
Passacaglie et Gigue op. 90 • Sonata Eroica op. 94
Christian Schmitt
Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern
Martin Haselböck
cpo 777 593-2
Klug zusammengestellt
JOHANNES BRAHMS
STRING QUARTET NO. 3 OP. 67 • LIEDER
SCHOENBERG
STRING QUARTET NO. 2 OP. 10
KUSS QUARTET
Mojca Erdmann
onyx 4166
Höllisch schnelle Finger
Édouard LALO
Symphonie espagnole
Joan MANÉN
Concierto español
Tianwa Yang, Violin
Barcelona Symphony Orchestra
Darrell Ang
NAXOS 8.573067
Fegefeuer der Eitelkeiten
ORA
REFUGE FROM THE FLAMES
ORA 906103 (harmonia mundi)
Virtuos und kundig musiziert
Johann Wenzel Kalliwoda
Orchestral works
Daniel Sepec, Violino
Pierre-André Taillard, Clarinetto
Hofkapelle Stuttgart
Frieder Bernius
Carus 83.289
Packend, berührend
Frode Haltli … AIR … Bent Sørensen … Hans Abrahamsen
Arditti Quartet … Trondheim Soloists
ECM 2496
Keine neuen Ideen
DANIEL BARENBOIM
ON MY NEW PIANO
SCARLATTI • BEETHOVEN • CHOPIN • WAGNER • LISZT
DG 479 67248
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Signet „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“ … heute mit Jörg Lengersdorf.
Vor 150 Jahren im Winter, Dezember 1866, starb ein Komponist auf jenem Territorium, das
man heutzutage das klassische Sendegebiet von SWR2 nennt. 40 Jahre lang war Johann
Wenzel Kalliwoda, gebürtig in Prag, Hofkapellmeister in Donaueschingen. Im Schlosspark
des Fürstenberger Hofes steht noch heute Kalliwodas Denkmal, an seinem Sterbehaus in
Karlsruhe kann man immerhin eine Gedenktafel finden. Der Tonträgermarkt hat 2016 das
Kalliwoda-Gedenkjahr weitgehend ignoriert. Umso schöner, dass das Label Carus nun doch
noch zum Ende des Jahres eine CD mit Kalliwoda-Orchesterwerken auf den Markt bringt.
Die habe ich ins Studio mitgebracht.
Außerdem gibt es heute in Treffpunkt Klassik neue Aufnahmen des Kuss Quartett, der
Geigerin Tianwa Yang, des Akkordeonisten Frode Haltli und vom Vokalensemble ORA. Des
Pianisten Daniel Barenboims selbst entworfenes neues Lieblingsgerät, seinen neuen
Konzertflügel, ein Instrument mit angeblich unerhörten Spielmöglichkeiten hören wir kurz vor
Ende der Sendung.
Was jetzt aber sofort zu Anfang wuchtig und festlich die Tore aufstößt, ist Musik von Joseph
Jongen:
Joseph Jongen: Symphonie concertante op. 81, 4. Satz
5:45
Die Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern, Dirigent Martin Haselböck
und Organist Christian Schmitt mit einer Toccata, die einem buchstäblich die Ohren
wegbläst. Das ist einmal wirklich frischer Wind auf dem CD-Markt. Komponist Joseph
Jongen hatte noch das Glück, Johannes Brahms persönlich kennen gelernt zu haben, wurde
kurzzeitig Chordirektor der Bayreuther Festspiele und emigrierte während des Ersten
Weltkrieges nach England. Und er kannte als Organist die großen Cavaillé-Coll-Orgeln, die
in Frankreich der Orgelmusik ganz neue klangliche Räume eröffneten.
Tatsächlich sitzt Jongens Musik irgendwie zwischen den nationalen Stühlen. Man hört
britischen Pomp, schweren Pariser Orgelduft in luftig impressionistischem Umfeld,
Wagnersches Pathos und Ironie à la Richard Strauss. Und da Jongen auch für die
pompösen Wanamaker Orgeln in den USA schrieb, schwingt da manchmal sogar ein Hauch
Hollywood mit. Hinreißend.
Joseph Jongen: Passacaglia et Gigue op. 90, Gigue
7:35
Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern unter Dirigent Martin Haselböck mit der
Gigue aus op. 90 vom belgischen Komponisten Joseph Jongen. Wer hätte bei Erstkontakt
mit einer neuen Jongen-CD an schlagerverdächtige Ohrwürmer gedacht? Ich jedenfalls
nicht, lasse mich nun aber gern eines Besseren belehren. Organist Christian Schmitt spielt
Joseph Jongens Orgelwerke mit rhythmisch unerhörtem Zug. Die Orgel der Philharmonie
Luxemburg vereint aufs glücklichste Eigenschaften französischer und angelsächsischer
Orgelbautraditionen, Dirigent Martin Haselböck, selbst Organist, legt sich mit brennendem
Enthusiasmus für diese Musik ins Zeug. Orgelmusik von Joseph Jongen, erschienen beim
Label Carus, das ist klanglicher Hochdruck im schönen Sinn des Wortes.
Da wirkt die nächste CD beinahe beschaulich, jedenfalls vordergründig volkstümlich.
Johannes Brahms, gespielt vom Kuss Quartett:
Johannes Brahms: Streichquartett Nr. 3 op. 67, 4. Satz
9:35
Oft wirken Brahms„ Streichquartette so, als hätte der Meister Furcht davor gehabt, nach
Beethovens späten Quartetten noch etwas Unkompliziertes zu schreiben. Tatsächlich
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können Brahms-Quartette sperrig daherkommen. Oft – aber keineswegs immer. Im dritten
Brahms-Quartett gibt es da zum Beispiel den gerade vom Kuss Quartett gehörten Finalsatz,
dessen Thema ganz unverhohlen volksmusikalisch daherkommt, auf Tanzfüßen, die schon
ein paar Blasen haben. Das Kuss Quartett spielt den Satz dennoch vor allem am Anfang
zerbrechlich, verwundbar, als würde die Tänzerin erröten wegen ihres groben Tanzkleides.
Dass dieser Brahms auf der Suche bleibt, nie ganz auf sicherem Boden steht, wird
wunderbar schlüssig, wenn man die ganze CD durchhört. Wie immer beim Kuss Quartett ist
auch das Programm dieser CD wieder ungeheuer klug zusammengestellt. Auf Brahms folgt
Schönbergs zweites Streichquartett mit Singstimmen: „Dann seh„ ich, wie sich duftige Nebel
lupfen …“
Arnold Schönberg: Streichquartett Nr. 2 op. 10, 4. Satz (Ausschnitt)
1:30
Nachdem sich Brahms einer untergehenden Welt der Romantik schon nicht mehr sicher ist
in seinen Quartetten, wittert Arnold Schönberg 40 Jahre später ein neues Klanguniversum
am Horizont. „Ich fühle Luft von anderem Planeten“ singt Mojca Erdmann im Text von Stefan
George, der Arnold Schönbergs Aufbruch in diesem zweiten Streichquartett ankündigt. Seit
dem tumultartigen Skandal der Uraufführung im Dezember 1908 war im Streichquartettspiel
eine neue Zeitrechnung angebrochen, von hier an würde nichts mehr so sein, wie es vorher
war. Die musikalische Welt war nachhaltig erschüttert. Da ist es schon ein unverschämt
kluges Moment dieser CD, wenn nach Schönbergs zweitem Streichquartett wieder Brahms
erklingt. Brahms erstes Lied aus op. 85 beginnt mit einer kurzen harmonischen Irritation.
„Wohin?“ scheint es zu fragen …
Johannes Brahms: Sommerabend op. 85 Nr. 1
2:15
Mojca Erdmann und das Kuss Quartett im ersten der Brahms-Lieder aus op. 85:
Sommerabend. Seit Mojca Erdmann 2009 und 2010 in Opern von Wolfgang Rihm bei den
Salzburger und den Schwetzinger SWR Festspielen debütiert hat, gilt sie als Spezialistin für
zeitgenössische Musik in den oberen Regionen des Sängerhimmels, da, wo die Luft dünn
wird für Konkurrenz. Mojca Erdmann will mehr. Das weiß man nicht nur seit ihren gefeierten
Mozart-Aufnahmen, sondern auch seit ihrem etwas schrägen Auftritt beim Eurovision Song
Contest 2013 vor einem ziemlich klassikfernen Publikum inmitten von Popsternchen. Dem
stets klug programmierenden Kuss Quartett ist es nun gelungen, Mojca Erdmann wieder
dahin zu holen, wo sie am besten ist. Der Beginn des Schlusssatzes von Schönbergs
Quartett mit Sopranstimme ist selten so durchsichtig luftig gelungen, die Kombination mit
Brahms ist in dieser Zusammenstellung genial naheliegend. Eine intelligente Produktion im
besten Sinne, erschienen beim Label onyx.
„SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“, das ist Musik des vergessenen Geigenvirtuosen
Juan Manén:
Joan Manén: Concierto español, 3. Satz
7:45
Tianwa Yang, Violine, begleitet vom Sinfonieorchester Barcelona unter Darrell Ang mit dem
Finalsatz des Violinkonzerts von Joan Manén, einem 1971 verstorbenen Supervirtuosen.
Man glaubt es nach diesem Violinfeuerwerk kaum, aber Manén soll als Kind, Ende des
19. Jahrhunderts, die Übungsstunden mit der Geige gehasst haben. Mit drei Jahren schon
hatte er Musikunterricht vom Vater bekommen, die tägliche Klavierstunde liebte er, das
Kratzen auf der Geige war sein Alptraum. Und so war Manén zunächst einmal ein
fulminanter Pianist, beherrschte bereits ein Chopin-Konzert als Dreikäsehoch, spielte beim
Debüt mit sieben Jahren aber trotzdem beide Instrumente. Es wundert kaum, dass der kleine
Manén mit zehn Jahren dann sein erstes Orchester dirigierte. Richtig aufgeblüht sei der
Junge aber erst, als sein tyrannischer Vater 1908 starb, das liest man im extrem klein
gedruckten, dafür aber äußerst informativen NAXOS-Booklet zur CD, die die Geigen-
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supertechnikerin Tianwa Yang für das Label eingespielt hat. Nachdem Tianwa Yang in den
letzten Jahren sämtliche Violinwerke von Pablo des Sarasate aufgenommen hat, setzt sie
jetzt folgerichtig ihre Serie mit spanischer Musik fort. Sie macht dabei nicht nur
Entdeckungen im unbekannten Repertoire, wie im Falle Juan Manéns, sondern spielt auch
einen ewigen Hit des spanischen Repertoires: Édouard Lalos „Symphonie espagnole“.
Édouard Lalo: Symphonie espagnole, 2. Satz
4:05
Es blitzt und blinkt im biegsamen Geigenton, die Rutscher bleiben elegant, landen
punktgenau und haarscharf auf der guten Seite der Grenze zum Schmalz. Genauso will man
das haben, denn natürlich gehört auch die parfümierte Opulenz zu diesem Repertoire. Wo,
wenn nicht hier, darf man als Geiger noch so richtig fett auftragen!? Tianwa Yangs Ton
könnte man sich allerdings in der Tat noch kalorienreicher und dicker wünschen, aber dafür
verfügt sie über extrem fixe Reflexe und höllisch schnelle Finger. Natürlich wird mancher
Geigenfanatiker hier die stolze Eleganz und den verführerischen Schmelz der
Referenzeinspielung mit Jascha Heifetz aus den 50er Jahren vermissen. Diese ewige
Höchstleistung des Geigenspiels überbietet auch Tianwa Yang nicht. Dafür spielt sie den
gerade gehörten Satz immerhin noch ein paar Sekunden schneller als der heilige Heifetz,
und der Rekord sei ihr gegönnt. Den eigentlichen Pluspunkt dieser CD heimsen Tianwa
Yang und das Label NAXOS mit der Wiederentdeckung des hinreißenden Violinkonzerts von
Joan Manén ein. Dafür lohnt der Griff zur CD unbedingt.
„SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“. Geistliche Vokalmusik liegt jetzt auf:
Anonymus: Ecce quomodo moritur
1:45
Alte Musik, die um die noch älteren Worte kreist, die Girolamo Savonarola ein halbes
Jahrhundert vorher geschrieben hatte. Der revolutionäre Bußprediger Savonarola hatte Ende
des 15. Jahrhunderts nicht nur die Bewohner von Florenz zur Vertreibung der Medici
aufgestachelt, sondern 1497 auch eine Horde von religiös eifernden Jugendlichen dazu
gebracht, marodierend durch die Stadt zu ziehen, um irdische Besitztümer und
gotteslästerlichen Tand der Bewohner zu verbrennen. Savonarolas „Fegefeuer der
Eitelkeiten“ schaffte es als geflügeltes Wort bis in die Literatur der heutigen Gegenwart.
Die visionäre Gewalt von Savonarolas Reden, Schriften und politischen Taten wurde von
den einen als heilsbringend begrüßt, von den anderen als Teufelswerk verdammt. Der zornig
besessene Büßer brachte nicht nur die städtische Ordnung in Florenz durcheinander,
sondern auch die Kulturgeschichte danach. Für Goethe war Savonarola ein fratzenhaftes
Ungeheuer, Thomas Mann widmete Savonarola immerhin sein einziges Theaterstück. Ein
Leben wie dieses konnte nur durch einen Märtyrertod gekrönt werden, im Gipfel eifernden
Fanatismus: Savonarola wurde 1498 in Florenz erst gehängt, dann verbrannt. In den zwei
Wochen vor der Hinrichtung schrieb Savonarola noch im Foltergefängnis viele der Texte, die
das Vokalensemble ORA auf einer neuen CD in verschiedenen Vertonungen aufgreift:
Traurigkeit bedrückt mich, mit einem starken Heere hat sie mich umzingelt: „Tristitia obsedit
me”.
Claude Le Jeune: Tristitia obsedit me, magno
5:00
„Ich sagte: Was soll ich rufen? Rufe, sagte er, mit Zuversicht und von ganzem Herzen.“ So
heißt es im oft vertonten Text von Girolamo Savonarola, den er kurz vor seiner Hinrichtung
im Foltergefängnis mit jener Hand schrieb, die die Schergen absichtlich unversehrt ließen, in
der Hoffnung, Savonarola würde damit sein Geständnis schreiben.
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Man darf es vielleicht sogar ironisch nennen, dass so viele Komponisten Texte Savonarolas
nach dessen Tod mehrstimmig vertont haben. Savonarola hatte in seinen Predigten aufs
heftigste gegen die gottlose Mehrstimmigkeit gewettert, die den Text vergessen ließe.
Und so lässt die CD des Vokalensembles ORA auf den tröstlichen Gedanken kommen, dass
selbst ultrareligiöse Eiferei, die an Wahnwitz grenzt, wie bei Savonarola, im Laufe der
Jahrhunderte doch in etwas Fruchtbares und Schönes verwandelt werden kann – wenn man
Kunst und Kultur ihren Lauf lässt. Das stelle ich mir gerne vor, kurz vor dem Fest der Liebe.
Die CD ist erschienen beim Label ORA im Vertrieb von harmonia mundi.
Sie hören „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“, ich bin Jörg Lengersdorf, das ist Musik
von Johann Wenzel Kalliwoda:
Johann Wenzel Kalliwoda: Concertino Nr. 1 E-Dur op. 15, 3. Satz
6:20
Ein Beitrag zum Kalliwoda-Jahr 2016. Ja, man hört richtig. 2016 ist Kalliwoda-Jahr, auch
wenn einem das bisher viel zu selten gesagt worden ist. Daniel Sepec, begleitet von der
Hofkapelle Stuttgart unter Frieder Bernius, mit dem Finalsatz aus Johann Wenzel Kalliwodas
Violinconcertino in E-Dur.
1866, im Winter vor 150 Jahren, starb der Komponist in Karlsruhe, mit 65 Jahren. Anderthalb
Jahrhunderte hatte die Musikgeschichte also Zeit, sich mit dem Nachlass des Mannes zu
beschäftigen, der fast 50 Jahre lang die Musik des Fürstenberghofes in Donaueschingen
bestimmte. Wenn Donaueschingen noch heute ein klingender Name in der Musikszene ist,
dann liegt das eben auch an jener Tradition, die Johann Wenzel Kalliwoda aus Prag dort so
gut gepflegt hat. Neue Musik in Donaueschingen, das war vor knapp zwei Jahrhunderten
häufig Kalliwoda-Musik.
Nicht einmal zehn CDs mit Werken von Kalliwoda bekommt man derzeit problemlos auf dem
Tonträgermarkt, aber immerhin bringt das Label Carus nun, pünktlich zum 150. Todestag,
eine Produktion heraus.
Kalliwodas Violinconcertino ist durchaus hinreißende Musik, virtuos und im historischen
Kontext kundig musiziert von Geiger Daniel Sepec. Aber man ahnt auch, warum der
reisefaule Kalliwoda, der den Donaueschinger Hof selten verließ, mit solchen Stücken keinen
umwälzenden Einfluss auf die Historie genommen hat: Das Concertino ist auf Sicherheit
komponiert, gefällig. Das darf man natürlich trotzdem attraktiv finden. Revolutionäres
Potenzial ist ja kein ästhetisches Muss. Donaueschinger Biedermeier, könnte man sagen,
wenn das Konzert nicht in Prag uraufgeführt worden wäre. Sturm und Drang-Wolken der
etwas düstereren, aufregenderen Art ziehen aber auf in Kalliwodas erster Sinfonie von 1825.
Johann Wenzel Kalliwoda: Sinfonie Nr. 1 f-Moll op. 7, 4. Satz
5:30
Irgendwie erinnert das an Mendelssohn. Es ist aber vom Donaueschinger Hofkapellmeister
Johann Wenzel Kalliwoda, genauer: dessen erste Sinfonie von 1825. Kalliwoda war 24 Jahre
alt und hatte nicht lange vorher die Stelle am Fürstenberger Hof angetreten, die er fast bis
zum Lebensende behalten sollte.
Hofmusik war Anfang des 19. Jahrhunderts bereits schwer aus der Mode, das Bürgertum
drängte in die kulturelle Führungsrolle. Und so blieb auch Kalliwodas Musik immer irgendwie
ein Schattengewächs, obwohl sie durchaus erfolgreich auch in Leipzig oder Prag aufgeführt
wurde. Eine CD mit Kalliwodas erstem Violinconcertino, einem späteren Variationenwerk für
Klarinette und dessen erster Sinfonie ist zum 150. Todestag des Komponisten beim Label
Carus herausgekommen. Sammler und Sucher musikalischer Kleinode werden daran sicher
ihre Freude haben.
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„SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“.
Das Folgende ist „Schmerz, der langsam eine weiße Wand hinab fließt“, „It is Pain Flowing
Down Slowly on a White Wall“ von Komponist Bent Sørensen:
Bent Sørensen: It is Pain Flowing Down
3:20
Ein Zuschauer aus Ungarn kam eines Tages nach einem Konzert zum Komponisten Bent
Sørensen und bemerkte, seine Musik klinge wie Schmerz, der eine weiße Wand hinunter
rinne. Und so kam diese schöne mit Neuer Musik-CD zu ihrem Titel „It is Pain Flowing Down
Slowly on a White Wall“. Nun hat diese Überschrift zweifellos auch eine augenzwinkernde
Komponente, denn vom englischen „Pain“, „Schmerz“, ist das Wort „Wandfarbe“, „Paint“ nur
einen Buchstaben entfernt. Ein Eimer voll Schmerz und eine leere Wand. Was kann man
daraus alles machen.
Und was hier alles gemacht wird: Man erlebt wechselnde Visionen auf einer blütenreinen
Klangfläche, manchmal einsamen Tango, manchmal schreiende Agonie. Die Instrumentation
mit Solo-Akkordeon und Streichorchester entfaltet dabei eine ungeheure Wirkung. Während
die Streicher gleißend leuchten, oszillieren, bringt das Akkordeon jene dunkle, einsame
Melancholie, die nur ein Akkordeon nun einmal hat. Ein Schelm, wer an Schifferklavier dabei
denkt, aber es ist eben genau jenes Spiel mit dem clichéhaften Abgrund von rauschduseliger
Wehmut, der die neue CD des Akkordeonisten Frode Haltli so unwiderstehlich macht: Kein
Akkordeon ohne „Humtata“, und das wird hier genüsslich zerfetzt:
Hans Abrahamsen: Three Little Nocturnes
2:35
Die zweite der drei kleinen Nocturnes für Akkordeon und Streichquartett von Komponist
Hans Abrahamsen. Wunderbar schräge Musik, dieser Satz klingt mitunter, als sei es auf dem
letzten Feuerwehrball etwas spät geworden, das stampfende Akkordeon gerät ins Wanken,
ein schrilles Stimmengewirr der Streicher schneidet die dicke Luft, und am Schluss tröpfelt
ein verirrter Trommelrhythmus über dem Wegdämmern der Szene.
Kein Stück auf der CD des Akkordeonisten Frode Haltli ist älter als ein Dutzend Jahre, man
findet eine gute Dreiviertelstunde Klänge des 21. Jahrhunderts, die sofort fesseln können.
Und wer das Akkordeon bisher für uncool oder bieder hielt, wird hier auf wirklich packende,
berührende Weise eines besseren belehrt. Die CD ist erschienen bei ECM.
Der letzte vorzustellende Tonträger kommt von der ehrwürdigen Deutschen Grammophon.
Pianist und Dirigent Daniel Barenboim hat sich verliebt und hat das in vielen Statements
auch landauf, landab kundgetan: verliebt in seinen neuen Flügel. Auf dem spielt er zum
Beispiel Liszts Mephisto Walzer:
Franz Liszt: Mephisto Walzer Nr. 1
1:50
Mephisto Walzer. Seit Daniel Barenboim 2011 auf einem restaurierten Originalflügel von
Franz Liszt gespielt hatte, träumte er davon, einen ganz neuen Flügel zu erfinden. Ein
Instrument, das die klangliche Stabilität moderner Steinway Flügel verbinde mit der
Transparenz historischer Instrumente. Und weil zwar sicher viele Leute aus der historisch
informierten Aufführungspraxis einen ganz ähnlichen Traum haben, und auch mit
Instrumentenbauern zusammen am Traum arbeiten, Maestro Barenboim aber nun einmal
Maestro Barenboim ist, macht die Deutsche Grammophon daraus eine riesige Publicityblase.
Richtig ist: Daniel Barenboim hat in Kooperation mit einem ausgesprochen versierten
Klavierbauer einen Flügel konzipiert. Und tatsächlich: Dieser Flügel hat die sonoren Bässe
moderner Steinways, eine etwas obertonreichere offene Mittelage und klingt oben im Diskant
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mitunter wirklich wie ein ganz alter Bechstein Flügel vor 150 Jahren geklungen hat. Es ist
offenbar tatsächlich eine klangliche Alternative zu dem doch sehr vereinheitlichten
Standardklang moderner Konzertsäle: Gleiche Durchschlagskraft bei mehr Patina – eine
schöne Vision. Wenn nun aber eine Plattenfirma wie die Deutsche Grammophon tatsächlich
eine ganze CD mit Barenboim herausbringt unter dem Titel „On My New Piano“, dann
müsste ja auch der Pianist durch das inspirierende Instrument zu neuen Ideen gekommen
sein. Sonst könnte man ja auch jeden Monat Aufnahmen in anderen Sälen machen und
anschließend am laufenden Band CDs herausbringen: „In My New Acoustics“, mit neuem
Nachhall.
Wie frisch klingt nun Daniel Barenboim auf seiner neuen Liebe?
Frédéric Chopin: Ballade g-Moll (Ausschnitt)
2:10
Seien wir ehrlich, in dieser Schlusspassage von Chopins g-Moll-Ballade leistet sich Daniel
Barenboim Dinge, die man keinem Nachwuchspianisten durchgehen lassen würde: Da
werden Töne weggelassen, andere kaum getroffen. Geschenkt: Auch der Altmeister Vladimir
Horowitz hat diese Passage mal in den Sand gesetzt, und trotzdem andere Stellen so
magisch gespielt, dass man ihm jeden falschen Ton verziehen hat. Und genau auf diese
Magie hatte man ja auch gehofft bei der neuen Barenboim-CD, schließlich spielt der ja
wirklich in jeder Hinsicht verdienstvolle Meister auf seinem neuen Flügel. Aber irgendwie
mag diese neue Liebe keine akustischen Funken zünden. Der Flügel mag fantastische neue
Möglichkeiten haben. Aber man hatte erwartet, mehr davon zu hören. Diese CD voller
kompositorisch virtuoser Schlachtrösser und poetischer Edelsteine ist eben weder besonders
virtuos noch besonders poetisch, schade.
Damit ist „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“ für heute zu Ende gegangen. Die Sendung
steht, wie immer, eine Woche lang zum Nachhören bereit unter swr2.de, dort findet man
auch Informationen zu allen gespielten Stücken und das Manuskript zum Nachlesen. Hier
folgt jetzt gleich der „Kulturservice“, anschließend „Aktuell“ mit den Nachrichten. – Am
Mikrofon verabschiedet sich Jörg Lengersdorf.