Zum 100. Geburtstag von Peter Weiss Sein literarisches Hauptwerk »Die Ästhetik des Widerstands« regte zur Gründung von Lesegruppen an. Eine Würdigung. Seiten 18 und 19 Fotos: akg, WDR Sonnabend/Sonntag, 5./6. November 2016 71. Jahrgang/Nr. 259 Berlinausgabe 2,30 € www.neues-deutschland.de * STANDPUNKT Erdogan sperrt die Demokratie ein Ankara auf totalitärem Kurs Martin Ling über den Weg der Türkei in die Diktatur Ist die Türkei schon eine Diktatur oder noch auf dem besten Wege dahin? Die Festnahmen von zahlreichen Abgeordneten der prokurdischen Oppositionspartei HDP unter fadenscheinigen Vorwürfen sind ein weiterer Beleg dafür, dass Präsident Recep Tayyip Erdogan rücksichtslos die Türkei für seine absolutistischen Machtansprüche umbaut. Rektoren der Universitäten werden künftig nicht mehr gewählt, sondern direkt durch Erdogan ernannt. Die offen nach dem Putschversuch von Teilen der Armee am 15. Juli verkündeten »weitreichenden Säuberungen« kosteten schon 100 000 Richter, Staatsanwälte, Lehrer, Polizisten und andere Beschäftigte des öffentlichen Dienstes ihren Job. Erdogan hat den unmittelbar nach dem Putschversuch verhängten Ausnahmezustand bis Januar verlängert, denn gut Diktatur will Weile haben. Bisher ist sich Erdogan offenbar sicher, dass ihm niemand in den Arm fällt. Ohne Einbindung des NATO-Mitglieds Türkei lässt sich weder der IS eindämmen noch die Flüchtlingsintegration bewältigen, denn dass sich die EU auf eine solidarische Lösung verständigt, ist leider auszuschließen. Die Bundesregierung steckt in der Zwickmühle: Am Flüchtlingsdeal mit der Türkei will sie nicht rühren; Erdogans Treiben weiter tatenlos zuzusehen, ist peinlich. Wenn der Bundestag in der kommenden Woche das Mandat für die Bundeswehr in Incirlik verlängern sollte, wäre dies der endgültige Offenbarungseid. Erdogan scheint damit zu rechnen. UNTEN LINKS Deär Reäders, Yästerdäy I häd time to refläct äbout my Schpeech, äh, änd I now can see, sät sse wört »Schlitzauge« häs creäted bäd feelings. I didn’t meän to hurt all you good Chinese people. Ssis was not my Intäntion änd I would like to äpologize. Äh. I alwäys was väry good friänds wiss sse Reisfresser und Fidschis äs we säy in sse deutsche Provinz, whäre I come from. Of course sse Chinese do not – I repeät – do not häve Schuhcreme in sseir beäutiful häirs. Ssere is no Schuhcreme left änywäy, because Mr. Obama änd his wife häve it on sseir fäces. Haha. Ä little joke. »Ä little Schpass muss sein« äs we säy in Germän. Äh. I would also like to säy sorry to all my Englisch colleagues for mäking sse säme wiss sseir länguäge what ssey mäde seventy years ago wiss sse Dresdner Frauenkirche. But äs you know, äh, »jeder Mann ist unschuldig, bis er erwischt wird«, äs my good old Parteifriänd, sse änti-fäschist resistänt fighter Hans Filbinger, used to säy. tbl ISSN 0323-4940 »Ziviler Putsch«: Empörung, Kritik und Protest nach Festnahmen von Politikern der linken, kurdischen HDP Sie protestierte und wurde ebenfalls festgenommen: die Chefin der kurdischen DBP, Sebahat Tuncel. Foto: dpa Berlin. In der Türkei hat die Repression gegen die Opposition mit der Verhaftung der Parteivorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag sowie mehrerer Abgeordneter der linken, kurdischen HDP eine neue Dimension erreicht. Die HDP ist mit 59 Sitzen die drittgrößte Partei im Parlament und die wichtigste Vertretung der Kurden. Die Partei sprach vom »Ende der Demokratie in der Türkei«. Die Abgeordnete Feleknas Uca sagte gegenüber »nd«, es sei »ein ziviler Putsch im Gang«. Der autoritär agierende Präsident Recep Tayyip Erdogan wolle »die kurdische Identität zerstören«. Man werde aber »nicht vor diesen diktatorischen Methoden kapitulieren«, hieß es bei der HDP, die »weltweit zu Solidarität mit unserem Kampf« aufrief. Man werde Erdogan daran »hindern, das Land in einen Bürgerkrieg und in weiteren Despotismus zu stürzen«. Die linkskurdische Partei war 2015 erstmals ins Parlament eingezogen. Erdogans Apparat geht seither immer wieder gegen sie vor; Grund sei, dass sie den AKP-Politiker an der Einführung eines Präsidialsystems hindere: »Da er uns nicht davon abhalten konnte, ins Parlament einzuziehen, schickt er uns ins Gefängnis«, so die HDP. Sie forderte, die »fabrizierten« Vorwürfe gegen ihre Politiker fallenzulassen. Die türkische Regierung begründete ihr Vorgehen mit angeblicher Terrorunterstützung. Die HDP soll demnach die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK unterstützen. Diese rief am Freitag zum Widerstand auf. »Heute ist der Tag, sich zu erheben gegen diejenigen, die die Existenz der Kurden auslöschen wollen.« Bereits in der Nacht zum Freitag gab es erste Proteste gegen die Festnahmen, es folgten weitere, nicht nur in der Türkei, sondern unter anderem auch in Berlin. Die Polizei setzte teils Wasserwerfer und Tränengas, laut Berichten wurden Menschen verletzt. Die Dobrindt wedelt mit der Maut EU lässt sich auf Benachteiligung von Ausländern ein, wenn auch Deutsche ungleich behandelt werden Die Idee einer Pkw-Maut in Deutschland kehrt überraschend auf die politische Agenda zurück. Die EU-Kommission könnte ihr, bereinigt um einige Makel, grünes Licht erteilen. Von Uwe Kalbe Lange schien die Pkw-Maut in Deutschland ein Steckenpferd der Grünen, bis sie als Hirngespinst der CSU neue Gestalt annahm. Nun könnte dieses zur Realität werden. Denn die EU hat dem bayerischen Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt offenbar versprochen, ihre Klage vor dem Europäischen Gerichtshof fallenzulassen und die Maut durchzuwinken – nach einigen Veränderungen gegenüber dem ursprünglichen Konzept. Gedacht zur gezielten finanziellen Beteiligung von Ausländern am Straßenerhalt in Deutschland, trug es in Dobrindts Fassung von Anfang an den Makel der Ungleichbehandlung in sich. Denn Deutsche sollten die Maut über die KfzSteuer erstattet erhalten – Ausländer natürlich nicht. Keine Ungleichbehandlung, keine Klage, das deuten Reaktionen auch aus den Nachbarländern an, deren Bürger als häufige Deutschlandbesucher besonders betroffen wären. Man behalte sich weitere Schritte vor, zeigte sich Österreichs Verkehrsminister Jörg Leichtfried (SPÖ) am Freitag sicherheitshalber skeptisch. Der mit der EU-Kommission offenbar angebahnte Vergleich soll einen Ausweg bringen aus dem Dilemma zwischen Gleichbehandlung aller Autofahrer und dem Versprechen der CSU, deutsche Autofahrer durch die Maut nicht zu belasten. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel machte am Freitag neben höflicher Freude über den Erfolg ihres Ministers in Brüssel deutlich, was dazu unverändert im Koalitionsvertrag steht: Kein hiesiger Kfz-Halter dürfe durch die Maut belastet werden. Der Verkehrsminister zeigte sich seinerseits betont optimistisch, dass die Einigung mit der EU noch im November zustande komme. Da es nun aber kein Zwischending gibt zwischen Gleichbehandlung und Ungleichbehandlung, läuft das Ganze offenbar auf Ablenkung von der Ungleichbehandlung durch die Einführung einer zusätzlichen Ungleichbehandlung hinaus. Außer zwischen Inländern und Ausländern soll zwischen deutschen Autofahrern unterschieden werden. Inländer zahlen Maut in unterschiedlicher Höhe – abhängig vom Alter des Fahrzeugs, von seinen Umweltparametern und dem Hubraum. In der Summe bekommen die Inländer zwar nach wie vor die Mautkosten über die KfzSteuer erstattet, aber nicht mehr in einem generellen Federstrich. »Für ein unsinniges Prestigeprojekt der CSU soll die breite Masse der Menschen in Deutschland bezahlen.« Stephan Weil, Regierungschef Niedersachsens Maximal sollen 130 Euro im Jahr fällig werden. Zusätzlich sollen günstigere Kurzzeittarife für ausländische Pendler und Touristen für weitere Abstufungen sorgen, womit das Ganze auch auf Seiten der ausländischen Autofahrer etwas differenzierter erschiene. Dobrindt lobt die Ideen als »echten Systemwechsel« hin zum Verursacherprinzip, von der Steuer- zur Nutzerfinanzierung, wie er in der »Bild«-Zeitung schwärmte. Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) zeigte sich davon unbeeindruckt. Dobrindt führe »die Leute hinters Licht«, erklärte er am Freitag. Halter älterer Autos, also die Masse der Autofahrer, zahlten am Ende die Zeche. Hinzu kommt: Wenn Besitzer umweltfreundlicherer Autos sogar mehr Steuerentlastung erhalten, als sie Maut zahlen – auch diese Variante tauchte in den Beschreibungen auf: Was bringt die Maut dann noch ein? Und was bleibt von der ursprünglichen Absicht der CSU, Ausländer deutlicher zu belasten als Deutsche? Wenn die EU-Kommission keine Ungleichbehandlung mehr erkennt, werden auch deutsche Autofahrer sie nicht bemerken. Wird die CSU auf diese Weise ungewollt zur Umweltpartei? Die Grünen immerhin kündigten schon mal an, dass sie gegen eine solche Maut nicht mehr klagen würden, auch wenn sie den finanziellen Nutzen nicht erkennen, wie Fraktionschef Anton Hofreiter deutlich machte. Die Maut soll Dobrindt zufolge nach der Bundestagswahl 2017 in Kraft treten. Nach der Wahl wird allerdings ein neuer Koalitionsvertrag entstehen. Wer weiß, wer diesen mit welchen Ideen befruchtet ... Behörden blockierten zeitweise den Zugang zu sozialen Medien. Die Festnahmen lösten europaweit Empörung aus. Bundesaußenminister FrankWalter Steinmeier bestellte den türkischen Gesandten ins Auswärtige Amt ein. In einer Erklärung des SPD-Politikers hieß es, es gebe keine Rechtfertigung dafür, »die politische Opposition mundtot zu machen oder gar hinter Gitter zu bringen«. Ähnliche Reaktionen gab es in anderen EU-Staaten und aus Brüssel. Die Istanbuler HDP-Abgeordnete Filiz Kerestecioglu sagte derweil, »es wäre schön, wenn die EU mehr als nur Besorgnis an den Tag legen würde«. Die Spitzen der Linkspartei und ihrer Bundestagsfraktion erklärten am Freitag, es sei höchste Zeit, dass die Kanzlerin ihre »stillschweigende Komplizenschaft mit der türkischen Regierung« beende. Sie bekräftigten zudem wie auch andere Politiker der Partei ihre Solidarität mit der HDP. Der Vorsitzende der Grünen, Cem Özdemir, forderte ein gemeinsames Handeln der Bundestagsparteien von CDU bis zur LINKEN. Der SPD-Abgeordnete Frank Schwabe erklärte, es bestehe »leider kein Zweifel«, dass »der Plan zur Entwicklung der Diktatur in der Türkei« voranschreite. Auch er verlangte eine »starke Reaktion«. Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen warf Erdogan einen »Staatsputsch« vor. Regierungssprecher Steffen Seibert wiederholte am Freitag eine Formulierung, mit der Kanzlerin Angela Merkel (CDU) bereits zuvor auf den Schlag des ErdoganRegimes gegen die Oppositionszeitung »Cumhuriyet« reagiert hatte. Unterdessen sind bei einem Anschlag in der südosttürkischen Stadt Diyarbakir mehrere Menschen getötet worden. Die Erdogan-Regierung beschuldigte die PKK, für den Autobombenanschlag verantwortlich zu sein. nd/Agenturen Seiten 3 und 5 Bauarbeiter klagt gegen Investor Bauherr der Mall of Berlin soll ausgebliebene Löhne begleichen Berlin. Keiner der geprellten rumänischen Bauarbeiter, die am Bau des großen Einkaufszentrums Mall of Berlin beteiligt waren, hat bisher sein Geld bekommen. Einer der Bauarbeiter will seinen Lohn nun von dem Bauherren des Einkaufszentrums, der HGHI Holding, die dem Bauunternehmer und Investoren Harald Huth untersteht, erstreiten. »Ich reiche Klage ein, weil Herr Huth mir das Geld geben soll, für das ich gearbeitet habe«, sagt Ovidiu Mandrila dem »neuen deutschland«. Mandrila gehört zu einer siebenköpfigen Gruppe von rumänischen Bauarbeitern, die bereits erfolgreich vor dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg Lohnansprüche gegen Subunternehmen des Bauherren der Einkaufsmeile eingeklagt haben. Doch weil ein Subunternehmen in Insolvenz gegangen ist und eines anderes auch für das Gericht nicht auffindbar war, haben die Arbeiter immer noch kein Geld erhalten. Sie haben sich deshalb über ihren Rechtsanwalt an den Bauherren gewandt. Da dieser sich nicht bis zum Donnerstag dieser Woche auf die Lohnforderungen hin meldete, soll nun erneut das Gericht entscheiden. Insgesamt stehen Mandrila 5372 Euro zu, die er vor zwei Jahren auf der Baustelle in Berlin-Mitte erarbeitet hat. Damals hatten die rumänischen Bauarbeiter und ihre Unterstützer mit zahlreichen Demonstrationen und Aktionen auf die Lohnprellerei aufmerksam gemacht. mkr Seite 13
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