Manuskript

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
„Verkannte Meisterwerke“, Teil 5
Von Thomas Rübenacker
Sendung:
28. Oktober 2016
Redaktion:
Bettina Winkler
9.05 – 10.00 Uhr
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SWR2 Musikstunde mit Thomas Rübenacker
„Verkannte Meisterwerke“ (5)
SWR 2, 24. Oktober - 28. Oktober 2016, 9h05 – 10h00
… mit T. R. Heute: „Verkannte Meisterwerke“, Teil 5.
MUSIK
Die Nationalsozialisten waren vieles nicht. Gemessen am Verhaltenskodex der
Kirche waren sie nicht menschenfreundlich, barmherzig oder auch nur gerecht.
Auch waren sie weder konservativ noch visionär, weder mitfühlend noch klug.
Vor allem waren sie eines nicht: konsequent. Wer sich ein bisschen auskennt in
ihrer Ideologie, muss darüber staunen, wie löchrig sie war. Zum Beispiel der Hass
auf die Juden. Das ganze Übel der Welt, so hieß es, sei jüdisch geprägt: der
Geldverkehr, die allgemeinen Sitten, der schleichende Zerfall. In der Kunst galt als
„entartet“ vieles, was besonders gelungen war. Es gab sogar ein „Lexikon der
Juden in der Musik“, in dessen Vorwort man die beklemmende Rechtfertigung
liest: „Die Reinigung unseres Kultur- und damit auch unseres Musiklebens von
allen jüdischen Elementen ist erfolgt. Klare gesetzliche Regelungen gewährleisten
in Großdeutschland, dass der Jude auf den künstlerischen Gebieten weder als
Ausübender noch als Erzeuger von Werken (…) öffentlich tätig sein darf … Es
kann nirgends eine wirkliche Verbindung zwischen deutschem und jüdischem
Geist geben.“ Wo es aber Staatsraison war, das sogenannte „Judentum“ auf
deutschen Konzertplänen zu halten, dort fand man natürlich auch Mittel und
Wege, die eigene Doktrin außer Kraft zu setzen. Franz Lehár, der König der
Silbernen Wiener Operette, drohte in die USA zu emigrieren: Seine Frau war Jüdin.
Und was machten die Nazis? Verliehen ihr eine Urkunde als „Arierin ehrenhalber“.
Der ungarische Operettenkomponist Emmerich Kálmán war Jude, er hätte nicht
mehr gespielt werden dürfen. Wie aber hieß die Lieblingsoperette von Hermann
Göring? „Die Czardasfürstin“. Und die von Hitler? „Gräfin Mariza“. Also durfte
auch der Jude Kálmán gespielt werden, durchs ganze Dritte Reich – zumindest
mit diesen beiden Operetten. Eine andere, ebenso gloriose dagegen fand keine
Liebhaber: „Die Herzogin von Chicago“ von 1923, worin Kálmán erstmals JazzElemente einflicht, also die verpönte Negermusik. Die war und blieb – entartet.
MUSIK: KALMAN, DIE HERZOGIN VON CHICAGO, CD 1, TRACKS 1 + 2, 3‘25
1) Emmerich Kálmán, Die Herzogin von Chicago; Wottrich, Riedel, Rundfunkchor
Berlin, RSO Berlin, Richard Bonynge; Decca 466 057-2 (LC 00171)
Emmerich Kálmán, „Die Herzogin von Chicago“, eine der ersten Operetten, die
Puszta-Seligkeit mit amerikanischem Jazz konfrontierten – woraufhin die Nazis sie
flugs als „entartet“ etikettierten. Komponiert Anfang der zwanziger Jahre, fristete
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das Werk ich-weiß-nicht-wo sein Schattendasein, bis es bald sechzig Jahre später
wiederentdeckt wurde: für die epochale Serie „Entartete Musik“ der britischen
Plattenfirma Decca. Den Rundfunkchor Berlin sowie das RundfunkSinfonieorchester Berlin dirigierte Richard Bonynge.
Emmerich Kálmán wurde 1882 in Siófok am ungarischen Plattensee als Koppstein
Imre geboren, der Sohn eines jüdischen Getreidehändlers und musikalisches
Wunderkind, das bereits Klavierkonzerte gab, bevor es zehn Jahre alt war. Dann
aber geschah etwas: Das Kind zeigte frühe Symptome von Arthritis und musste
den Virtuosenplan aufgeben. Ein komplett neuer Lebensentwurf war vonnöten.
1892 zog die Familie nach Budapest, und fürs Evangelische Gymnasium dort
änderte Koppstein jr. seinen Namen zu Kálmán: Auch im damaligen ÖsterreichUngarn war man nicht frei von Antisemitismus. Um 1900 dann begann Imre, an
der Budapester Universität Jura zu studieren – gleichzeitig aber auch Musik in der
Kompositionsklasse von Hans Koessler; seine Kommilitonen dort: Béla Bartók und
Zoltan Kodály. Im Gegensatz zu diesen beiden merkte Imre Kálmán allerdings
bald – nach zahlreichen Liedern und Kirchenmusik -, dass er fürs Leichte geboren
war: Und schon seine erste Operette „Tatárjárás“, deutsch: Ein Herbstmanöver,
englisch: The Gay Hussars, war ein Welterfolg. Er ermöglichte es Kálmán, nach
Wien zu ziehen, wo es dann grade so weiterging: „Die Zirkusprinzessin“, „Gräfin
Mariza“, „Die Csardasfürstin“, alles Welterfolge, besonders auch jenseits des
Atlantiks. Kálmán war, nicht gerade über Nacht, doch in erstaunlich kurzer Zeit,
zusammen mit Franz Lehár der Ahnherr der Silbernen Wiener Operette geworden:
so bedeutend wie in der Goldenen Johann Strauß Sohn.
Der Witz war: Natürlich boten die Nazis Kálmán, der sich auch in ihr dunkles Herz
gespielt hatte, eine Ernennung zum „Arier ehrenhalber“ an, genauso wie Lehárs
Frau; aber anders als diese lehnte Kálmán ab. Bis 1938 hielt er sich in Wien, dann
kam der „Anschluss“ Österreichs, und der Operettenkönig zog über Zürich nach
Paris, 1940 dann in die USA. Obwohl er mit seinen Operetten am Broadway
Triumphe gefeiert hatte, wollte jetzt nichts so recht gelingen: Eine Show mit dem
Textdichter Lorenz Hart, „Miss Underground“, sah nie das Rampenlicht, und 1945
kehrte der Komponist nach Europa zurück, erst wieder Paris, '49 dann Österreich.
Aber da wurde ihm übler mitgespielt als am Broadway: Kein glorioser Empfang,
sondern offene Anfeindung, Gerichtsquerelen, am Ende gar die
Zwangsversteigerung seiner alten Villa. Das brachte diesen jüdischen Ahasver
wieder zurück nach New York, wieder zurück nach Paris – wo er 1953 auch starb.
Inzwischen hat Österreich nach dem Mann, der wie Lehár übrigens ein großer
Verehrer Puccinis war, einen Asteroiden benannt; besser gefallen aber hätte
dem Weltenbürger zwangsweise, dass ein Eisenbahnzug nach ihm benannt
wurde, der viele, viele Emigranten aus der Hölle transportiert hatte: der MünchenWien-Budapest-Express „Kalman Imre“.
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MUSIK: KALMAN, DHVC, CD 2, TRACK 22 (6:15)
Emmerich Kálmán, „Die Herzogin von Chicago“, ein Liebesduett aus dem 1. Akt,
mit Deborah Riedel in der Titelrolle und Endrik Wottrich als Erbprinz des fiktiven
Balkanländles „Sylvaria“; Richard Bonynge dirigierte.
Die Handlung der „Herzogin“, zusammengeköchelt von dem bewährten Team
Julius Brammer und Alfred Grünwald, hat sogar ein wenig Ähnlichkeit mit der
jener „Lustigen Witwe“, dem größten Geschenk, das Franz Lehár der „silbernen“
Operette vermachte: Dort heißt der erfundene Balkan-Zwergstaat Pontevedro,
hier heißt er Sylvaria, beide sind verarmt und würden heute vermutlich in die EU
streben. Der Erbprinz von Sylvarien, so klamm wie sein Land, verliebt sich in die
reiche Mary Lloyd und kriegt sie auch – nur dass sie hier aus Chicago kommt und
eine Dollarprinzessin ist, keine Witwe. Ansonsten spricht die Titelzeile einer
Uraufführungskritik den Konflikt aus: „Jazz gegen Csárdás“, oder auch: „Neue
gegen Alte Welt“, und natürlich auch: „Arm gegen Reich“. Man könnte sogar
noch weiter ausgreifen und sagen: „Vitale Broadwayshow gegen verblassende
Wiener Operette“. Denn genau das hatte Kálmán vor: Das eine mit dem
anderen zu beleben, sozusagen frischer Wind in alten Schläuchen, oder wie die
jeweiligen Kalendersprüche lauten mögen. Der Ungar kannte das
Broadwayidiom sehr gut und liebte es; anlässlich seiner US-Premieren war er
immer angereist und hatte sich umgehört. Ulkigerweise strebte ein 150prozentiger Ami-Komponist in die andere Richtung: George Gershwin wollte mehr
Old World in seinen Werken, im Frühjahr 1928 bereiste er Europa, dinierte in Berlin
mit Kurt Weill, traf im Wiener Café Sacher Emmerich Kálmán, versackte mit Ernst
Krenek an der Bar, machte der Witwe Johann Strauß seine Aufwartung und
frühstückte mit Franz Lehár. „Zuhause“, sagt ein bekannter Spruch, „ist immer da,
wo man gerade nicht ist.“ Bei Gershwin und Kálmán war das offenbar nicht
anders.
MUSIK: KALMAN, DHVC, CD 2, TRACKS 24 BIS 27 (10:56)
Emmerich Kálmán, „Die Herzogin von Chicago“, Finale II, mit Solisten, dem
Rundfunkchor Berlin, dem RSO Berlin, und auf der Brücke: Richard Bonynge.
Mögen Sie Gruselfilme? Nun, die guten sind oft wunderbar und lassen tief in die
Seele einer Gesellschaft blicken, die schlechten sind meist widerlich oder sogar –
langweilig. Dieser ist aber ein guter: Einmal im Jahr treffen sich die Hexen zu ihrem
Sabbath, gehuldigt wird da nicht Gott, sondern seinem Gegenspieler. Jede Hexe
muss etwas Persönliches mitbringen von dem unschuldigsten Opfer ihrer Hexerei,
damit selbiges – gewissermaßen als Opfer vom Opfer – auf den Brandherd gelegt
werden kann und der Rauch Satan herbeilocke. Getanzt wird wie in einer
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Geisterbahn als Disco, und die Daumenregel lautet: Erlaubt ist alles, solange es
nur das exakte Gegenteil ist von Gottesdienst. Das alles in düster leuchtendem
Technicolor und mit Musik von – jetzt hätte ich beinahe gesagt: Modest
Mussorgsky. Der hat sie aber so nicht komponiert; der Filmkomponist, der
berückende Soundtracks schrieb, bevor es den Film überhaupt gab, hieß: Nikolai
Rimsky-Korsakow, ein Freund Mussorgskys. Dem vermeinte immer, er müsse das
Dilettantenwerk des Freundes verbessern, ja überhaupt: erst aufführbar machen.
Und so, wie gesagt, wurde die Filmmusik geboren.
MUSIK: RIMSKY, EINE NACHT AUF DEM KAHLEN BERG, 1‘40
2) Nikolai Rimsky-Korsakow, Die Nacht auf dem Kahlen Berge; New York
Philharmonic Orchestra, Leonard Bernstein; M0013011 001
Das, meine Damen und Herren, war keine Komposition von Modest Mussorgsky;
sondern eine blankgewienerte Fälschung von Nikolai Rimsky-Korsakow: „Eine
Nacht auf dem Kahlen Berge“, aufgeputzt zur Filmmusik ohne Film. Die New
Yorker Philharmoniker spielten, den Stab schwang Leonard Bernstein.
Was nun die Kopie vom Original unterscheidet, das verkannt ist, formulierte Klaus
Schweizer so, dass ich ihn in voller Länge zitieren will, denn besser könnte ich es
nicht sagen: „Drastisch wird die Verfälschung deutlich an der Nacht auf dem
Kahlen Berge, die Mussorgskij 1867 in der Orchesterfassung vollendete. Auf den
Konzertprogrammen steht aber durchweg die Fassung von Rimskij-Korsakow, in
deren Partitur zwar der Vermerk vervollständigt und instrumentiert steht, die in
Wirklichkeit aber in vielen Teilen einer Neukomposition unter Verwendung von
Material Mussorgskijs gleichkommt … Von Mussorgskijs Originalversion
abweichend stellte Rimskij-Korsakow einen weitgehend regulären
Sonatenhauptsatz zusammen, er milderte alle harmonischen und
instrumentatorischen Kühnheiten und ließ das Werk friedlich und freundlich (…)
enden … Dagegen zeichnet sich Mussorgskijs originale Johannisnacht auf dem
Kahlen Berg durch ihre kompromisslose Schroffheit aus, durch ihre zwar rauhe,
doch immer unmittelbar wirksame Instrumentationskunst, die in unerhört
prophetischer Weise auch Ansätze des Grotesken und des Hässlichen mit in die
Partitur einbezieht … Nicht erst beim Stichwort Hexensabbath taucht die
Erinnerung an die Symphonie fantastique von Berlioz auf, doch in diesem
Abschnitt ist die musikalische Verwandtschaft am spürbarsten, in den grellen
Orchestereffekten und in ihren die traditionelle Ästhetik des Schönen
aufbrechenden Einfällen.“ Was Schweizer nicht sagt, ließe sich als Resümee
ziehen: Mussorgskys Original ist viel unheimlicher – und in seiner atavistischen
Faktur ein Vorgänger von Strawinskys „Sacre du printemps“.
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MUSIK: MUSSORGSKY, JOHANNISNACHT AUF DEM KAHLEN BERGE, TRACK 1 (11:42)
3) Modest Mussorgsky, Johannisnacht auf dem Kahlen Berge; Kotcherga,
Rundfunkchor Berlin, Südtiroler Kinderchor, Berliner Philharmoniker, Claudio
Abbado; Sony 62034 (LC 6868)
Modest Mussorgsky, das viel bessere, aber weitestgehend unbekannte Original
der „Nacht auf dem Kahlen Berge“, hier gesungen vom Bass-Bariton Anatoli
Kotcherga, dem Südtiroler Kinderchor und Rundfunkchor Berlin, die Berliner
Philharmoniker spielten, der Dirigent war Claudio Abbado.
Zwei literarische Mythen gelten als quintessentiell deutsch: „Faust“ natürlich, der
ewige Sucher, und „Jedermann“, die Ikone des Lebensüberdrusses. Der
„Jedermann“ wurde noch nicht veropert, der „Faust“ aber schon: unzureichend
in Werken von Louis Spohr oder Charles Gounod, völlig undeutsch in Héctor
Berlioz' La damnation de Faust, als Vision eines Musiktheaters der Zukunft bei
Ferruccio Busoni. Robert Schumann hat zwar vor der Gedankenfülle des Stoffes
kapituliert und nur Szenen aus Goethe's Faust komponiert – die jedoch kommen
dem Geist des Werkes am nächsten. Aber natürlich kennt sie kein Mensch; ihre
Bruchstückhaftigkeit verhindert Bühnenaufführungen, und auch auf Schallplatte
ist das eindreiviertelstündige Werk nicht gerade der Bestseller. Deshalb will ich
den Schluss dieser Musikstundenwoche so gestalten wie den Beginn: mit Robert
Schumann, dem in so vielem verkannten Genie. Denn eigentlich sind die Szenen
aus Goethe's Faust kein Torso: Sie beginnen mit der Gretchen-Geschichte und
führen über Fausts Tod zu Fausts Verklärung. Und sie sind eine sehr persönliche
Reflexion des Komponisten – über sich selbst. Eines jedenfalls ist sicher: Hätte er
die Möglichkeit gehabt, seine Seele dem Teufel zu verkaufen für dessen irdische
Dienste – Schumann hätte das dem Verdämmern im Asyl zu Endenich gewiss
vorgezogen!
MUSIK: SCHUMANN, SZENEN … (OUVERTÜRE), CD 1, TRACK 1, 5‘17
4) Robert Schumann, Szenen aus Goethe's Faust; Sol., Berliner Philharmoniker,
Claudio Abbado; Sony 66308 (LC 6868)