FINDING YOUNG EUROPE Eine paneuropäische Forschungsreise auf den Spuren der Jugend Europas. Bericht, 2014 INHALT Seite/n 1 Einleitung 2 Das Projekt 3 4 3 2.1 Hintergrund 4 2.2 Zielsetzung und Reiseroute 5 2.3 Interview und Rechercheablauf 7 Das Projektergebnis 3.1 Länderübergreifende Erkenntnisse 10 3.2 Statistische Daten 15 3.3 Presseauszüge 23 3.4 Bilder 24 Zusammenfassung & Ausblick 26 2 1 EINLEITUNG Europas junge Generation im Fokus - In den vergangenen Jahren dominierte die angespannte Lebenssituation junger Europäer/innen regelmäßig die Schlagzeilen. Die enorm hohen Jugendarbeitslosenzahlen in den von der Krise am stärksten betroffenen europäischen Staaten, steigender Leistungsdruck auf dem Arbeitsund Bildungsmarkt, sowie stark verändertes Medien- und Konsumverhalten zogen, und ziehen bis heute, die Aufmerksamkeit von Politik und Medien auf die Lebenswirklichkeit junger Menschen zwischen 18- und 36 Jahren. Wir stellen fest, es wird viel über die Jugend gesprochen, aber wenig mit ihr. Mit dem Projekt „Finding Young Europe“ schlugen wir einen anderen Weg ein. Im direkten Gespräch begaben wir uns auf die Spuren unserer Generation. Vom Februar 2014 an waren wir mit Unterstützung der Stiftung Mercator und HeinrichBöllauf einer sechswöchigen Forschungsreise quer durch und über den europäischen Kontinent unterwegs. Auf einer Route über 13.000 Kilometer durch 14 Länder haben wir in über 200 Gesprächen unserer Generation am Puls gefühlt. Wir wollten auf unserer Reise mehr über die Lebenssituation unserer Altersgenossen/innen, über ihre Werte und Vorstellungen und über ihre Wahrnehmung des europäischen Projektes erfahren. Unser Weg führte uns dabei von Schweden über Großbritannien, Belgien, Frankreich, Spanien, Italien, Griechenland, Bulgarien bis in die Türkei nach Ungarn, Bulgarien, Österreich, Polen und abschließend in die Ukraine. Der folgende Bericht gibt in 3 Hauptkapiteln eine Übersicht über das Forschungsprojekt. 3 2 DAS PROJEKT 2.1 Hintergrund Europa im Frühjahr 2014. Die europäische Währungs- und Strukturkrise hat das Vertrauen in die europäischen Institutionen, nationalstaatliche politische Strukturen und die Ökonomie tief erschüttert. Allen voran Europas junge Generation leidet seit Jahren unter dem paneuropäischen Krisenzustand, der neben der ökonomischen auch eine soziale und kulturelle Dimension zum Inhalt zu haben scheint. Mit einer Jugendarbeitslosenquote von bis zu 70,6%1 in ausgewählten Regionen, teilweise korrupten Wirtschafts- und Politikeliten2, steigenden Qualifikationsansprüchen auf dem Arbeitsmarkt, verbunden mit einer strukturellen Benachteiligung junger Arbeitnehmer/innen3, und dem kontinuierlichen Zerfall familiärer Strukturen und kulturellen Orientierungsgrößen, blicken junge Menschen in Europa in eine ungewisse Zukunft. Die Unzufriedenheit mit der Lage fand und findet ihren Ausdruck in Jugendprotesten und politischen Bewegungen europaweit. Dennoch, trotz des Aufbegehrens hat sich die prekäre Situation junger Menschen kaum verändert. Rechtliche Rahmenbedingungen, so wie ökonomische und politische Strukturen sind europaweit ähnlich jugendfeindlich geblieben. Zurück bleibt eine frustrierte junge Generation. Den Medien bietet diese erschütternde Situation filmreifen Stoff, den sie gerne, oftmals auch dramatisierend, aufgreift. So wird beispielsweise in verschiedenen europäischen Leitmedien regelmäßig das Lied der „verlorenen Generation“4 gesungen. Auf Seiten der Politik beobachten wir wenig ambitionierte Antworten auf die schwierige Lage junger Menschen in Europa. Es bleibt zumeist bei reinen symbolischen Gesten. Maßnahmen, wie die 2013 beschlossene „Jugendgarantie“ sind vom Start an unterfinanziert und undurchdacht konzipiert.5 Eurostat, http://deutsche-‐wirtschafts-‐nachrichten.de/2014/06/12/abgehaengt-‐in-‐europa-‐die-‐10-‐regionen-‐der-‐eu-‐mit-‐der-‐hoechsten-‐ jugendarbeitslosigkeit/ 2 Transparency International, http://www.wiwo.de/politik/europa/transparency-‐international-‐das-‐sind-‐die-‐korruptesten-‐laender-‐ europas/7480492.html 3 Policy Paper der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen, „Arbeitsmarktpoltische Betrachtungen aus einer jungen Perspektive.“, 06.2014 4 http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/europaeische-‐offensive-‐gegen-‐jugendarbeitslosigkeit-‐verlorene-‐generation-‐vergessen-‐und-‐betrogen-‐ 1.1684593 5 Friedrich-‐Ebert-‐Stiftung, http://www.ipg-‐journal.de/rubriken/europaeische-‐integration/artikel/die-‐vernachlaessigte-‐generation-‐418/ 1 4 Im Angesicht dieser Entwicklungen fragten wir uns: Wie sieht das Leben junger Europäer/innen hinter all den medial und politisch hoch und runter diskutierten Zahlen, Statistiken und Schreckensbeschreibungen aus? 2.2 Zielsetzung und Reiseroute Die Betrachtung der Thematik aus einer rein deutschen Perspektive kann nur ein einseitiges und undifferenziertes Bild der Lage bieten. Ferndiagnosen schlagen oftmals fehl, ganz besondern wenn es um Gefühle, Perspektiven, Ängste und allgemeine Lebensumstände junger Menschen geht. Daher war klar, dass nur eine Reise durch verschiedene Ländern und Regionen den Versuch eines Bildes liefern kann. Um Europa und seiner Jugend weiterzuhelfen oder sie auch nur im Ansatz zu verstehen, muss zuerst eine direkte Verbindung zu diesem jungen Europa geschaffen werden. Die Idee einer Reise erschien daher ein guter Versuch, Europa jenseits deutscher Perspektiven kennenzulernen, zu erleben und auch zu untersuchen. Ausgehend davon gestalteten wir die Konzeption für das „Finding Young Europe“ Projekt. Hierbei war es für uns beide von Anfang an wichtig, vorherrschende Vorurteile und Stereotypen zu Hause zu lassen, und uns mit offenen Augen und frischem Geist auf den Weg zu machen. Natürlich war dies nicht immer leicht, der Anspruch aber blieb bestehen, ein Land, wenn auch nur für ein paar Tage, in seiner Tiefe so gut wie möglich zu verstehen. Im Planungsprozess identifizierten wir drei Kern-Fragestellungen: 1) Wie nehmen junge Europäer ihre aktuelle Lebenssituation wahr? 2) Welche Ideen, Werte und Vorstellungen verbindet sie mit ihren europäischen Altersgenossen über geographische und kulturelle Grenzen hinweg? 3) Was bedeutet „Europa“ für Europas Jugend? Ziel war es auf Basis dieser Antworten ein möglichst umfassendes Bild vom jungen Europa zu erhalten. Dabei ging es uns weniger um die Sammlung statistischer Daten, als die Erfahrungen und Verarbeitung aus den persönlichen Begegnungen. Wegbegleiter waren dabei unser Notizbuch und ein iPad Umfragetool. 5 Altersmäßig grenzten wir die Auswahl unserer Gesprächspartner/innen auf die Altersgruppe zwischen 18 und 36 Jahren ein und waren bestrebt, soweit das im Rahmen der sprachlichen Barrieren möglich war, auch mit Altersgenossen/innen aus nicht-akademischen Zirkeln zu sprechen. Wir erarbeiteten eine Reiseroute, die dem Anspruch eines umfassenden Generationen- und Zustandsbildes möglichst gerecht wurde. Dabei beschränkten wir uns nicht nur auf Mitgliedsländer der europäischen Union, sondern fügten bewusst Stationen in Istanbul und Kiew ein. Im Planungsprozess berücksichtigen wir auch kulturelle, politische, soziale, ökonomische Gegebenheiten. Herauskam eine Route, welche uns durch 14 Ländern - 15, wenn man den Vatikan mit einbezieht – führte. Die Reiseroute Wir konzentrierten uns mehrheitlich auf die Hauptstädte der Staaten, da in ihnen eine bunte Mischung junger Menschen aus allen Teilen der jeweiligen Länder lebt. Das ermöglichte es uns im gesteckten Zeitrahmen ein möglichst breites Bild der Lage zu erhalten. Für die Aufenthalte in südlichen Ländern der EU, die den Monat vor der Reise im besonderen Licht der Medien gestanden hatten, planten wir mehr Zeit ein und 6 besuchten neben den Hauptstädten auch größere und kleinere Orte im jeweilen Land. Aus ökologischen, aber auch praktischen Gründen versuchten wir von Anfang an, die Anzahl der Flüge gering zu halten. Wir dachten uns, dass Zugreisen eine besondere Verbindung zu Europa schaffen könnte und planten diese auch zur Führung von Interviews oder zur Nach- und Vorarbeit zu nutzen. Insgesamt hatten wir auf der gesamte Reise also nur fünf Flüge. Die restlichen Streckenabschnitte absolvierten wir überwiegend mit dem Zug, nutzen aber auch Bus, Schiff und lokal das Fahrrad. London, 26.2.2014: Schneller als die Metro 2.3 Recherche- und Interviewablauf Wie erwähnt, lag der Fokus unseres Projektes auf persönlichen Begegnungen und Interviews mit jungen Menschen vor Ort. Wir trafen aber auch Menschen außerhalb unserer Altersgruppe, z.B etablierte Meinungsführer wie Robert Menasse oder Vertreter des Jugendrates des Papstes. Wie identifizierten wir unsere Gesprächspartner/innen? In der Regel hielten wir uns an folgendes Schema: Die eine Hälfte der Interviewpartner identifizierten wir vor und während der Reise über unser Netzwerk und das Internet. Hierbei griffen wir auf Kontakte aus Medien, Politik und 7 Wirtschaft zurück, nutzen aber auch soziale Medien wie Facebook und Twitter um z.B. direkt mit Aktivsten vom Taksim-Platz oder Euromaidan zu kommunizieren. Die andere Hälfte der Gesprächspartner setzte sich aus zufälligen Begegnungen zusammen. Das hieß konkret, dass wir an den einzelnen Stationen der Reise belebte Plätze, Schulen und Universitäten, Parks und Bars, Bahnhöfe und Bushaltestellen aufsuchten und jungen Menschen einfach ansprachen. Diese KaltAcquise funktionierte dank unseres iPad-Umfragetools ausgesprochen gut. Das technische Spielzeug war ein idealer Gesprächsaufhänger und brach das Eis so schnell wie die Finger der Interviewten über das Display sausten. Die Interviews liefen, ausgenommen ist hierbei die Ukraine6, immer nach folgendem Muster ab. Zum Beginn des Gespräches übergaben wir unserem/r Partner/innen unsere iPad-Umfrage. Diese bildete eine gute Grundlage für ein Gespräch und vermittelte eine Idee von der Intention unseres Projektes und unserer Fragen. INFOBOX Die „Finding Young Europe“ Umfrage - Das iPad Tool Mit Hilfe der Software I-Survey, die wir an dieser Stelle ausdrücklich weiterempfehlen, erstellten wir eine Umfrage. Nach der Abfrage biografischer Daten, fragten wir unsere drei Kernprojektfragestellungen ab: Aktuelle Lebenssituation / Identität / Europa. Die einzelnen Frageblöcke bestanden wiederum aus einer Reihe von Unterfragen. Die Interviewten konnten, je nach Frage, sowohl vorgegeben Antworten anklicken, als auch eigenen Antworten eingeben. Einzelne Fragen konnten von der Interviewten auf Wunsch auch ausgelassen werden, andere waren obligatorisch. Die iSurvey Umfrage kam in allen Ländern, ausgenommen der Ukraine, zum Einsatz. Insgesamt sammelten wir Datensätze von 195 Personen aus 20 verschiedenen europäischen Ländern. Eine Übersicht über die Ergebnisse der Umfrage findet sich unter Punkt 3.3 und ausführlich im Anhang. 6 Bei unserer Recherche in der Ukraine stützen wir uns auf ausführliche mündliche Interviews mit unseren Gesprächspartner. 8 Paris, 3. März: Umfrage an der Science Po Athen, 15. März, Umfrage auf dem Syntagma Der zweite Teil der Interviews bestand aus tiefergehenden Fragen. Hierbei berücksichtigen wir die oben erwähnen Kernfragen, sprachen aber auch ganz offen über ländertypische Gegebenheiten, Probleme, persönliche Geschichten und weiterreichende Ideen. Dieser zweite Teil war in Regel der für uns persönlich wichtigste Aspekt der Reise. Hier wurden tiefen Fragen diskutiert, wurden Herausforderungen aufgezeigt und nicht zuletzt Freundschaften geschlossen. Es kam mehrfach vor, dass wir im Anschluss an die Gespräche zu privaten Treffen, Grillabenden oder Stadtrundgängen eingeladen wurden. Wir versuchten von Anfang an, mit dem natürlich Strom der jeweiligen Stadt mitzugehen und möglichst spontan zu agieren. Dadurch lernten wir viele junge Menschen jenseits von Umfragen und Statistiken kennen und waren in der Lage, uns einen tiefen Eindruck von den Lebensumständen unserer Generation zu machen. 9 Interview mit Studenten an Spaniens größter Universität in Madrid 3 DAS PROJEKTERGEBNIS 3.1 Länderübergreifende Erkenntnisse Auf unserer Reise sammelten wir eine Reihe von Eindrücken, Erfahrungen und Erlebnissen. Dennoch sehen wir uns in der Lage, drei große Tendenzen auszumachen und hier zu präsentieren. In Anbetracht der Tatsache, dass wir über kulturelle, politisch und ökonomisch sehr unterschiedliche Regionen und Nationen sprechen, sind die untenstehend aufgeführten Übereinstimmungen besonders erstaunlich. Bei der Betrachtung ist zu berücksichtigen, dass gewisse Einflussfaktoren in einigen Ländern stärker, in anderen schwächer ausgeprägt waren. Wichtige Anmerkung: Die statistischen Daten, welche wir durch unsere iPad Umfrage gesammelt haben, zeichnen ein weniger düsteres Bild als unsere untenstehenden Ausführungen. Ein Erklärungsversuch mag sein, dass wir erst im Anschluss an die iPad-Umfrage die persönlichen Gespräche führten, in denen 10 dann in der Regel mehr Probleme und Sorgen aufgezeigt wurden. In vielerlei Hinsicht scheint dies sogar symptomatisch für unsere Generation zu sein, insofern, dass ein zunächst eher oberflächlicher Eindruck über wahre Gefühle und Perspektiven hinwegtäuschen kann. a) KOLLEKTIVES UNSICHERHEITSGEFÜHL Wir stellen fest: Europas junge Generation ist geeint ihn ihrem UNSICHERHEITSGEFÜHL. Drei Hauptursachen machen wir aus. Die schwierige Situation am Jobmarkt (Teilzeitjobs / Arbeitslosigkeit), der daraus resultierende Erfolgsdruck, wenig erfolgreiche politische Jugendbewegungen und elementare Defizite in der familiären und bildungsbezogenen Sozialisation haben eine wenig selbstbewusste, fast schon ängstliche und leise Generation hinterlassen. Traditionelle Anker der Sicherheit, darunter u.a. Familie, Politik, Arbeit, Ethik oder, Religion greifen nicht mehr oder stehen in unzureichendem Umfang zur Verfügung, um jungen Menschen halt und Orientierung zu geben. Auf Basis unserer Gespräche und im Abgleich mit statistischen Daten stellen wir fest, dass dies eine europaweite Entwicklung zu sein scheint. Auch im wohlhabenden Schweden. Junge Europäer/innen, die in der entscheidenden Lebensphase zwischen 18 und 36 Jahren mit Optimismus und Tatendrang ins Leben starten sollten, resignieren und blicken voller Unsicherheit und Skepsis in ihre Zukunft. Das bindet Potential, schadet der Politik, Wirtschaft und dem gesellschaftlichen Zusammenleben. Doch besonders schadet es den jungen Menschen selbst. Sie fahren mit angezogener Handbremse durch das eigenen Leben. Weniger im Sinne fehlender Mobilität, - die Wachstumszahlen und Auslastungskennziffern nach Altersklassen von BilligAirlines sprechen für sich - aber im Sinne einer mentalen Einschränkung. Angst und fehlendes Selbstwertgefühl hemmen viele jungen Menschen ihre Fähigkeiten und Potentiale auszuleben. Als vermeintlich einzig übrig gebliebener Heilsbringer entpuppt sich, und das ist erstaunlicherweise in allen von uns bereisten Ländern festzustellen, die Konzentration auf die eigenen Karriereoptionen oder die Sehnsucht nach dem kompletten Rückzug aus dem politischen und ökonomischen Raum (Aussteiger). In diesen beiden 11 Gegensätzen, so unser Eindruck, wird vielen jungen Menschen jene Sicherheit vermittelt, die sie sonst vermissen. Die Folgen: - Der Leistungsdruck in Folge der Wirtschaftskrise und des offenen Binnen- und Bildungsmarktes führt zu zwei Entwicklungen. Zum einen zur von uns sogenannten „Degree-Inflation“. Sie bezeichnet den europaweiten Anstieg der Studierendenzahlen bei gleichzeitigem Verfall der Wertigkeit der Hochschulabschlüsse. Da mehr und bessere Abschlüsse jungen Menschen vermeintlich mehr Sicherheit versprechen, strömen mehr Menschen an die Universitäten. Dies hat, besonders angeheizt durch die begrenzte Anzahl verfügbarer Jobs, einen sinkenden Wert akademischer Titel zur Folge. - Eine zweite Entwicklung ist der Trend zur „CV-Optimization“. Durch Praktika, Auslandssemester, Sprach- und EDV-Kenntnisse versuchen sich junge Europäer von ihren Altersgenosse abzugrenzen, um mit einem möglichst einzigartigen Lebenslauf aus der Masse hervorzustechen. Die stark wachsenden innereuropäische Migration mit einem daraus resultierenden wachsenden Konkurrenzdruck unter jungen Europäern befeuert diese Entwicklung. Der Leistungsdruck ist laut unserer Gesprächspartner/innen enorm, besonders in den Krisenstaaten. Außerschulisches oder – universitäres Engagement leidet unter der intragenerationalen Drucksituation. Wer an der eigenen Karriere in der freien Wirtschaft feilt, hat keine Zeit für soziale Wohltaten. - Der ökonomische und soziale Druck erschwert die Familien und Lebensplanung. Kaum einer unserer Interviewten konnte sich vorstellen in den nächsten Jahren eine Familie zu gründen und/oder sich fest niederzulassen. b) WENIG VERTRAUEN IN DIE EIGENEN FÄHIGKEITEN In der Mehrzahl unserer Reiseländer trafen wir auf jungen Menschen, denen es schwer fällt, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, Gestaltungsmöglichkeiten und Netzwerke zu entwickeln. Die Komplexität der ökonomischen, sozialen und 12 politischen Realität erscheint undurchdringlich und unüberschaubar. Viele junge Europäer/innen glauben nicht daran, dass ihr Engagement, ihre Ideen und Konzepte etwas am Gesamtzustand, oft noch nicht einmal an ihrem eigenen Leben ändern können. Wir beobachten einen verstärkten Rückzug in die Privatheit und Digitalität, sowie die Delegation von Verantwortung. „Der Staat“, „die Wirtschaft“, „die Krise“, „die Politiker“ sind die von unseren Gesprächspartnern oft genannten Schuldigen für die Lage. Die Schuld wird leicht bei anderen gesucht. Eigenes, langfristiges und konstantes Engagement für eine Veränderung von politischen, Strukturen, wirtschaftlichen Rahmenbedingungen oder sozialen Zuständen bleibt aus! Es fehlt an positiven Vorbildern und wortstarken jungen Meinungsführern. Der Glaube an Systemveränderungen, die auch einen Einfluss auf das eigene Leben haben kann, scheint aufgegeben worden zu sein. Auch, und das ist besonders bedenklich, in Ländern mit ehemals starken und breiten Jugendbewegungen. Hier bei zu nennen sind Spanien und die Türkei. In beiden Ländern scheiterten die Protestgruppierungen bei der Implementierung der Forderungen im politischen Raum. In Spanien auf Grund des Missmanagements und fehlendem dauerhaften Engagement der Demonstrierenden, in der Türkei auf Grund der Zerschlagung des Protestes durch die Erdogan Regierung. In anderen europäischen Ländern, ausgenommen der Ukraine, bildete sich von vornherein überhaupt kein deutlicher oder zumindest substanzieller Jugendprotest. Wenn es zu politischen Engagement kommt, verharrt es meist ungehört im digitalen Raum. Es ist eine inflationäre Verbreitung von Online-Petitionen und Manifesten zu beobachten, diese haben aber bisher keinen nachweisbaren und deutlichen Einfluss auf die politische Agenda der einzelnen Nationen oder der EUPolitik gehabt. 13 Die Folge: - Als Folge aus dem Nicht-Engagement junger Menschen leiden europaweit politische Parteien unter sinkenden Mitgliederzahlen im Bereich der unter 30Jährigen.7 Dieser Trend ist auch deutlich in Deutschland auszumachen und steht exemplarisch für eine gesamteuropäische Entwicklung (vergleiche untenstehende Grafik). Eine Ausnahme bilden radikale und tendenziell nationalistisch orientierte politische Kräfte. Sie greifen das Unsicherheitsgefühl junger Menschen auf, verzeichnen eine starken Zulauf und instrumentalisieren die Angstgefühle für ihre machtpolischen Ambitionen. Deutliches Beispiel für diese Entwicklung ist der 30% Anteil von U-35 Wähler8 des französischen Front National bei der Europawahl. http://www.dw.de/why-‐europeans-‐are-‐losing-‐interest-‐in-‐politics/a-‐17102465 http://deutsche-‐wirtschafts-‐nachrichten.de/2014/06/01/wahl-‐analyse-‐le-‐pen-‐bei-‐den-‐jungen-‐erfolgreich-‐nicht-‐bei-‐den-‐ rentnern/ 7 8 14 - Wir beobachten ein Erstarken der Kultur der Beschuldigung. Die Schuld für Missstände oder Fehlentwicklungen im eigenen oder gesellschaftlichen Leben wird in der Mehrzahl der Fälle bei Anderen gesucht. Das kollektive „Opfergefühl“ spaltet zum einen die Gesellschaften intern, führt aber andererseits innerhalb von geschlossenen gesellschaftlichen Gruppierungen zu einer akzeptierten Kultur der Ablenkung von der eigenen Verantwortung. Wenn alle Freunde und die Medien erzählen, „die Anderen sind Schuld“, dann glaubt man es. EUROPA - FLUCH UND VERKANNTER SEGEN In den Ländern der europäischen Union werden die Vorteile und Erfolge der europäischen Einigung von jungen Menschen überwiegend als selbstverständlich wahrgenommen. Frieden, Freiheit und Sicherheit sind die Norm und keine Ziele, die man verteidigen, gar erkämpfen muss. Die jungen Europäer/innen sind mit der Union aufgewachsen und scheinen wenig über den Wert und die Einzigartigkeit des europäischen Projektes zu wissen. Die historische Dimension der europäischen Idee wird als ein staubiges Relikt alter Tage wahrgenommen, die Gegenwart als Krisendauerzustand und die Zukunft als schwieriges Feld. Auch feststellbar ist, die EU ist beliebtes Angriffsziel und Sündenbock. Privat, wir politisch. Angefeuert, wird das Brüssel-Bashing von Nationalpolitiker/innen, welche oftmals die Schuld für eigenes Versagen auf die EU schieben. Außerdem im Spiel: Die Medien. Sie konzentrieren sich in der Berichterstattung primär auf die negativen und kritischen Aspekte der Union. Im Gegensatz dazu steht das Verhalten und die Denkweise junger Türken/innen und Ukrainer/innen. Hier blickt man überwiegend neidvoll und bewundernd auf die Europäische Union, deren Werte und Strukturen. Der EU-Standard hat hier Vorbildcharakter, während er EU-intern angegriffen oder gar ignoriert wird. Innenund Außenwahrnehmung der EU unterscheiden sich deutlich. 15 Die Folge: - Wir beobachten eine Prozess des inneren Zerfalls der Union. Unter jungen Menschen stellen wir fest: Wertschätzung, Begeisterung und Einsatz für die europäische Idee ist außerhalb der Union festzustellen, wachsende Skepsis, aktives Vorgehen gegen die Einigung innerhalb der Union. Diese Entwicklung ist bedenklich. - Machtkampf - Nationale Politik und Machtinteressen stehen im Konflikt mit europaorientierter Politik. Es ist ein Erstarken nationaler Macht zu beobachten. Europa ist im Alltagsleben auf dem Vormarsch, politisch auf dem Rückzug. - Die junge Generation verliert vermehrt das Vertrauen in europäische Institutionen und erkennt nicht ihre Relevanz. 16 3.2 Statistische Daten Mit unserem elektronischen Umfragetool haben wir Datensätze von 196 jungen Menschen aus ganz Europa gesammelt. Dabei kamen unsere Befragten aus 20 verschiedenen europäischen Ländern. Von den 196 Befragten waren 65% weiblich, 33% männlich und 2% wählten eine andere Kategorisierung. Der überwiegende Teil unsere Gesprächspartner, knapp 40%, kam aus einem akademischen Umfeld. 17 Erfreulicherweise bezeichnete sich eine knappe Mehrheit unsere Gesprächspartner/innen als „Europäer/innen“, dicht gefolgt von der Einordnung als Bürger ihrer Nation und auch der Kategorisierung „Individuum.“ (Mehrfachnennungen waren möglich) Die aktuelle Lebenssituation wurde von 65 der 196 Befragten als überwiegend positiv bewertet. 79 der Befragten verorten sich selbst jedoch in den Kategorien „sehr besorgt“ bis „es geht so.“ 18 Auf die Frage, wie sie sich unsere Gesprächspartner/innen fühlen wenn sie an ihre eigene Zukunft denken, überwiegen in unserer Umfrage die optimistischen Einschätzungen. Wie erwähnt, fielen die Ergebnisse bei den individuellen Interviews jedoch oft auch anders aus. Auf die Frage, ob sie sich als Teil einer gemeinsamen europäischen jungen Generationen sehen, antwortete der überwiegende Teil unserer Befragten zustimmend. 19 Dabei wurde als bedeutendste Bindungsfaktoren im Zusammenhalt unserer Generation die offenen Grenzen, der Eurovision Song Contest und die geografische Nähe zueinander genannt. Sozialen Medien und die englische Sprache waren weitere wichtige Faktoren. Erstaunlich sind die Antworten auf die Frage, was ihnen in den Kopf kommt, wenn sie an Europa denken. Über 50% unserer Gesprächspartner hat den Euro mit Europa verbunden, dicht gefolgt von der „kulturellen Vielfalt.“ Überraschend ist, dass etwas über 60 der 196 Befragten sowohl die „Reisefreiheit“, als auch die „Uneinigkeit / Zerissenheit“ nennen. 20 Migration ist ein großes Thema in allen europäischen Ländern. Sowohl im eigenen Leben, als auch im gesellschaftlichen Kontext (Zu- & Auswanderung). Der überwiegende Teil unserer Gesprächspartner/innen hat kein Problem damit selbst in ein anderes europäisches Land zu ziehen und will dies auch. Migrationsbewegungen werden insgesamt mehrheitlich positiv bewertet. 21 Erfreulicherweise wussten über 50% der interviewten jungen Menschen wann die kommende Europawahl ist. 38% hatten jedoch keinen blassen Schimmer. 53% der Befragten planten zur Wahl zu gehen, 47% sahen das aber anders. 25% waren entweder unentschlossen und 22% wollten gar nicht gehen. 22 3.3 Presseauszüge In nationalen, aber auch internationalen Medien (TV, Online, Print) wurde über das „Finding Young Europe“ Projekt berichtet. Pressespiegel des „Finding Young Europe“ Projekts (In alphabetischer Reihenfolge, Stand: 12, 2014) The European „Politische Vorsätze für 2015“ 31.12.2014 Cicero „Die Generation Freiheit“ 09.11.2014 SZ „Auf einmal ist der Krieg wieder da.“ 10.10.2014 The European „Am Wendepunkt“ 19.06.2014 CS-Monitor „Europe’s lost generation. Not yet!.“ 06.05.2014 Der Tagesspiegel „Wir Jungen müssen Europa retten.“ 23.05.2014 DW-Agenda Talk Show „European Poll“ 13.05.2014 DW-Agenda Talk Show „Europe’s Generation Gap.“ 18.02.2014 Gulf News „Constructive Action.“ 11.05.2014 iChange Europe „Wir haben es in der Hand.“ 20.05.2014 Salzburger Nachrichten „Sind wir auch Europäer?“ 23.05.2014 The European „Ein Land sucht sich selbst.“ 05.03.2014 The European „Zerrissen Grande Nation.“ 11.03.2014 The European „Zartes Hoffnungsschimmern.“ 20.03.2014 The European „Gemeinsam gegen die Krise.“ 25.03.2014 The European „Griechenland neu gedacht.“ 04.04.2014 The European „Eine Generation erwacht.“ 05.05.2014 The European „Die Dualität der Revolution.“ 16.05.2014 The European „Am Wendepunkt.“ 19.06.2014 TV Berlin Europazeit „Wo liegt Europa.“ 06.02.2014 TV Berlin Europazeit „Was eint Europa?“ 05.06.2014 23 3.4 BILDER (Auszüge) Rom, Treffen mit Vertretern der jüdischen Gemeinde Brüssel, Info-Center der EU-Kommission London, im Gespräch mit jungen Wallisern Paris, Interview mit Studenten Neapel, mit Aktivisten an der Uni Thessaloniki, Bildungsreinrichtung 24 Brüssel, Gespräche mit Jugendvertretern/innen Sofia, unterwegs im Bus in einen Vorort Paris, in großer Runde, Gespräche über Leben in Frankreich Athen, mit jungen Griechen/innen Kiew, auf dem „Euromaidan“ Sevilla, Gespräche mit jungen Medizinerinnen 25 4. ZUSAMMENFASSUNG & AUSBLICK Alles in allem sind wir einer Generation begegnet, die europäischer lebt, als jede Generation zuvor. Das Aufwachsen ohne Angst am Schlagbaum, ohne Ost-WestKonflikt, aber mit Erasmus und uneingeschränkter Reisefreiheit hat für junge Europäer/innen einen Zustand geschaffen, in denen internationale Beziehungen und Lebensweisen durchaus zur Norm geworden sind. Auch ist unsere Generation in der Regel bestens ausgebildet, vernetzt, kreativ und flexibel. Unsere Altersgenossen/innen halten also einiges an Potential in petto. Leider aber haben wir weniger Anzeichen dafür gefunden, dass dieses Potential auch wirklich ausgeschöpft und für Europa und die gemeinsame Zukunft genutzt wird. Im Gegenteil, ein Rückzug ins Private und ein Konzentrieren auf den eigenen Erfolg oder oftmals eher das eigene Überleben sind die Folge. Dies schadet uns allen und lässt Europa als Idee wehrlos zurück. Ansatzpunkte zur Lösung dieser Probleme müssen also von Anfang an folgendes Berücksichtigen: Es muss Motivation geschaffen werden, nicht Potential. Junge Menschen müssen Gemeinschaftsgefühle entwickeln und die Vorteile eines internationalen europäischen Lebensstils bewusst verstehen. In der Regel werden diese Vorzüge als positiv wahrgenommen, aber eben nicht mit der EU oder einem politischen Engagement in Verbindung gebracht. Diese Verbindung muss geschaffen werden. Darüber hinaus fehlt es ganz eindeutig an großen europäischen Vorbildern und Ideen, die junge Menschen motivieren und mitreißen können. Empörung und Frustration sind auf Dauer nicht genug. Visionen, Idealismus und Tatkraft sind gefordert und müssen durch die gesellschaftlichen Eliten, aber auch die Jungen selbst, vorgelebt werden. Im August 2014 luden wir 10 andere junge Europäer/innen nach Berlin ein um gemeinsam eine Antwort auf die Problematik zu formulieren. Dabei wurde der Essay „Who if not us“ verfasst, von jungen Europäern für junge Europäer, welcher 2015 erscheint. Das Folgeprojekt „Young European Voices “ ist der konkrete Versuch mit einem schlagkräftigen jungen Team europaweit Vision, Idealismus und Engagement unter jungen Menschen zurück zu bringen. 26 Wir danken unseren inspirierenden Partnern, Familien und Freunden für die Unterstützung: Stiftung Mercator Heinrich-Böll-Stiftung Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen Schwarzkopf-Stiftung ICONIC Berlin, Dezember 2014. Den Bericht verantworten: Vincent-Immanuel Herr & Martin Speer [email protected] www.herrundspeer.de 27
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