Europa –eine Frage desSelbstbewusstseins

Montag, 23. März 2015 V Nr. 68
Die letzte Weltausstellung fand 2010 in Schanghai
statt, und alle Grossmächte waren vertreten. Die
meisten – wie China, Russland, Grossbritannien,
Frankreich und Saudiarabien – errichteten beeindruckende Pavillons, um zu zeigen, wie erzielte Errungenschaften den Weg in die Zukunft vorgezeichnet haben. Die Ausnahme bildeten die USA, die es
einem Zusammenschluss von multinationalen Konzernen überlassen hatten, ihrer inhärenten Geschmacklosigkeit ein Denkmal zu errichten. Das
war peinlich, zeigte aber zumindest deutlich, wo der
wahre Ursprung amerikanischer Macht liegt.
Und dann war da auch noch der Pavillon der
Europäischen Union – oder vielmehr: der vergleichsweise winzige Bereich des belgischen Pavillons, den man der EU zur Verfügung gestellt hatte.
Der erste Raum war vollkommen leer. An den Wänden prangten inspirierende Schlagwörter wie «Solidarität», «Frieden», «Menschenrechte». Und einige
eher nüchtern klingende wie «Soziale Marktwirtschaft» und (mein Favorit!): «Artikel 3 des Vertrages
über die Europäische Union». Im nächsten Raum
hatte man unter der Losung «Offenes Europa» noch
mehr Schlagwörter vereint: «Keine Grenzen», «Binnenmarkt» und «Gemeinsame Regeln». Medial
untermalt wurde der Schlagwörterreigen mit einem
Video, in dem sich eine Euro-Münze schimmernd
um die eigene Achse drehte. Der nächste Raum
stand unter dem Motto «Grünes Europa»; ein Video
zeigte Europäer, die mit dem Velo zur Arbeit fahren. Ende der Vorstellung! Kein Wort zur europäischen Geschichte, keine Silbe zur Rolle Europas im
Weltgeschehen. Am Ausgang erwarb ich für meine
Nichte ein Europa-Maskottchen aus Plüsch, einen
breit grinsenden goldenen Stern im blauen Overall.
Sie hatte keine Ahnung, was das Stück darstellen
sollte. Und ich offen gestanden auch nicht.
Beim Verlassen des Pavillons fiel mir unwillkürlich Robert Musils «Mann ohne Eigenschaften» ein.
Dort wird im ersten Buch der Protagonist Ulrich
Sekretär eines Komitees, das sich ein Konzept für die
Feierlichkeiten anlässlich des siebzigsten Jahrestags
der Besteigung des Throns durch Kaiser Franz
Joseph ausdenken soll. Natürlich kommt nichts dabei heraus. Die Überlegungen des Komitees bleiben
auf komische Weise zwecklos. Alles, was es zustande
bringt, ist der Vorschlag zur Gründung einer
«Enquete
ˆ zur Fassung eines leitenden Beschlusses
und Feststellung der Wünsche der beteiligten Kreise
der Bevölkerung in Bezug auf das Siebzig-JahrRegierungs-Jubiläum Sr. Majestät». Ich versuchte
mir vorzustellen, was sich im Brüsseler Planungsausschuss für die Expo 2010 in Schanghai abgespielt hat.
Mit welcher Akribie die Beteiligten wohl Schlagwörter wie «Keine Grenzen» und «Artikel 3 des Vertrages über die Europäische Union» gegeneinander
abgewogen haben. Ich hoffe, dass auch hier ein junger Ulrich dabeisass und sich Notizen machte, so
Die Europäer wollen
sich nicht als Erben
der Aufklärung sehen,
weil sie nicht als intolerant gelten wollen.
dass wir uns eines Tages über komische Geschichten
rund um den misslungenen Versuch, Europas Rolle
in der Welt zu definieren, freuen dürfen.
Ein Vergleich dieses sehr alten Reiches mit dem
noch jungen ist durchaus der Mühe wert. Ein Unterschied fällt sofort ins Auge: Anders als das Habsburgerreich hat die EU durchaus Leitlinien entwickelt –
sie füllen dicke Nachschlagewerke. Umgekehrt aber
hatte das Habsburgerreich etwas, das der EU fehlt.
Dieses Etwas gründet sich nicht auf die vielbeschworene ethnische Identität oder einen vagen
Verfassungspatriotismus – auch nicht auf den katholischen Glauben. Das Habsburgerreich konnte auf
etwas viel Grundlegenderem bauen, das wir politisches Selbstbewusstsein nennen können. Selbstbewusstsein ist eine Vorbedingung erfolgreichen
menschlichen Handelns. Es ist die Fähigkeit, sich
selbst als eigenständiges Wesen zu erkennen, sich
Ziele zu setzen und sie in einem bestimmten Umfeld
zu verfolgen. Es gibt drei einfache deutsche Sätze,
welche die Natur des Selbstbewusstseins besser
definieren, als jede philosophische Abhandlung dies
vermag: «So bin ich.» – «So will ich.» – «So ist es.»
Selbstbewusstsein ist ein zentraler Punkt in der
Politik, besonders aber in der Aussenpolitik. Keine
Nation ohne Selbstbewusstsein wird je zur Weltmacht. Das heutige China sieht sich als Erbe einer
uralten Zivilisation, die eines Tages wieder zu ihrer
alten Grösse zurückfinden wird. Saudiarabien versteht sich als gottgewollter Hüter der heiligsten Stätten des Islam und damit rechtmässiger Führer der
muslimischen Welt. Russland begreift sich als leidender Christus der Nationen, während die USA
sich als schuldlose Erlöser der Nationen betrachten
(und als der Welt grösstes Einkaufszentrum). All
diese Selbstbilder dienen natürlich jeweils ganz
eigenen Zwecken und sind historisch fragwürdig.
MEINUNG & DEBATTE
17
Neuö Zürcör Zäitung
Europa – eine Frage
des Selbstbewusstseins
Selbstbewusstsein ist ein zentraler Punkt in der Politik,
besonders in der Aussenpolitik. Europa aber hat keine Strategie.
Europas Standpunkt liegt im Nirgendwo. Gastkommentar von Mark Lilla
Doch ohne solche Selbstbilder verliert eine Nation
ihre Richtung. Was diese Länder zu Weltmächten
macht, sind nicht Reichtum und Waffen allein. Es ist
vielmehr ihr Selbstbewusstsein, das beeinflusst, wie
sie ihren Reichtum und ihre Waffen einsetzen.
Ich spreche hier ganz bewusst nicht von Identität.
Dieser Begriff ist in Europa so emotional aufgeladen – «besetzt», wie Freud sagen würde –, dass es
schwierig ist, davon ausgehend eine sachliche und
unvoreingenommene Diskussion zu führen. Im
Übrigen wurde die Frage nach der Identität der EU
bereits beantwortet. Die Europäer haben in den
letzten beiden Jahrzehnten bei jeder sich bietenden
Gelegenheit betont, dass sie eben keine monolithische Identität anstreben. Sie wollen sich nicht als
ethnische Einheit betrachten. Sie wollen sich nicht
kollektiv auf das christliche Erbe oder die koloniale
Vergangenheit Europas berufen. Und mit der historischen Katastrophe im Europa des 20. Jahrhunderts wollen sie schon gar nichts zu tun haben. Die
Europäer wollen sich nicht einmal als Erben der
europäischen Aufklärung sehen, weil sie nicht als
provinzlerisch und intolerant gelten wollen. Wenn
es nach ihnen geht, liegt der europäische Standpunkt im Nirgendwo. Und dort soll er auch bleiben.
Diese Reaktionen sind nur zu verständlich. Doch
in der Politik, vor allem in der Aussenpolitik, gibt es
keinen Standpunkt im Nirgendwo. Jede politische
Einheit – ob Nation, Staatenbund oder Kaiserreich
– hat spezifische Interessen und Notwendigkeiten
und muss sich Ziele setzen, um diese erfüllen zu
können. Das Habsburgerreich besass ebenfalls keine klar definierte Identität, doch es war sich zumindest einige Jahrhunderte lang so eindeutig seiner
selbst und seiner Interessen bewusst, dass es innerhalb seiner Grenzen eine prekäre ethnische Balance
aufrechterhalten und seine Macht mit und gegen
seine Nachbarn einsetzen konnte. Wenn nun das
Habsburgerreich es schaffte, von Wien aus Einfluss
auf die Weltordnung zu nehmen, dann sollte doch
eigentlich auch die Europäische Union in der Lage
sein, von Brüssel aus Ähnliches zu tun. Doch tatsächlich ist nichts weniger sicher als das.
Was ist das Ziel der EU? Jeder einzelne Politiker,
Unternehmer und Intellektuelle, mit dem ich je
über dieses Thema gesprochen habe, hat mir auf
diese Frage eine andere Antwort gegeben. Es gibt
so viele Leitsätze für die EU, wie es Gottesbeweise
gibt, vielleicht sogar noch mehr. Die «Entscheidung
für Europa» kam mir immer vor wie eine Sonderform der Pascalschen Wette. Wir wissen nicht, was
Europa ist oder sein soll, aber uns ist klar, dass die
Risiken des Unglaubens grösser sind als die Risiken,
die der Glaube an Europa mit sich bringt. Und deshalb haben wir beschlossen, daran zu glauben.
Europa ist eine «proleptische Polis», also ein vorweggenommenes Gemeinwesen. Eben das macht es
so schwierig herauszufinden, wo seine Interessen
und Bedürfnisse liegen. In den letzten beiden Jahrzehnten hat man sich daher fast ausschliesslich auf
die Schaffung einer Wirtschaftseinheit konzentriert,
die mit anderen grossen Wirtschaftsmächten wie
den USA und China – und bald auch Indien und
Brasilien – auf Augenhöhe agieren kann. Dies kann
als kollektiver Erfolg gewertet werden, selbst wenn
er für einzelne Mitglieder katastrophale Konsequenzen hatte. Aus diesem Grund wollten auch
immer mehr Nationen dieser Einheit beitreten und
wurden tatsächlich aufgenommen.
Doch keine Weltmacht lebt nur von Wirtschaft
und Handel. Allein schon deshalb, weil es immer
andere Mächte geben wird, die Wirtschaftskraft
nicht als Selbstzweck sehen, sondern als Mittel zu
anderen nichtökonomischen Zwecken. Seit der
Schaffung der EU hatten die Europäer Probleme,
dies zu akzeptieren, und setzten sich nicht selten bewusst davon ab. Doch in vielen Teilen der Welt ist
heute ein Verdrängungswettbewerb um die regionale Vorherrschaft entbrannt. China agiert in seinen
Meeren viel aggressiver als früher und will offensichtlich gefürchtet werden. Saudiarabien will den
Einfluss Irans und schiitischer Bewegungen im
Nahen Osten begrenzen und nicht zuletzt den des
IS. Und Russland unter Putin versucht, die Länder
an seiner Peripherie in kleine Finnland zu verwandeln. Die Kommentatoren in Europa vermuteten
hinter der Übernahme der Krim voreilig ökonomische Motive, da Russland so Zugang zum Mittelmeer erhält. Doch der Guerillakrieg in der Ukraine,
der trotz scharfen Wirtschaftssanktionen weiter
vorangetrieben wird, zeigt deutlich, dass auch für
altgediente Kommunisten Geld nicht alles ist. Stolz
und Grösse sowie ein Platz in den Annalen der Geschichte sind schon ein wenig Volkesleid wert.
Obwohl Europa sich zumindest als fähig erwiesen hat, kollektive Sanktionen zu beschliessen, sehe
ich keinen Beleg dafür, dass es sich langfristige strategische Ziele setzt. Das geht zu einem Grossteil auf
die Tatsache zurück, dass das Schlagwort von der
EU als Wirtschaftsunion den politischen Führern
Europas immer noch als Vorwand dient, um die
politische Natur der EU unter den Teppich zu kehren und damit auch die Entscheidung darüber, welche Ziele sie verfolgt. Es gibt immer noch viel zu
viele Ausreden, um sich diese Überlegungen erst
gar nicht machen zu müssen. Frankreich und Grossbritannien sind durchaus bereit, ihre militärische
Stärke auch international einzusetzen. Sie können
Stolz und Grösse
sowie ein Platz in
den Annalen der Geschichte sind schon ein
wenig Volkesleid wert.
sich dabei auf ihre demokratischen Institutionen
und ihre Kolonialgeschichte stützen. Deutschland
hat in der Ukraine einmal mehr gezeigt, dass es
diplomatisches Gewicht in die Waagschale werfen
kann, wenn es darum geht, Krieg zu vermeiden.
Sollte die Lage komplizierter werden, treten Nato
und Uno auf den Plan. Doch so, wie die Führung der
EU zurzeit strukturiert ist, mit ihren Institutionen
und ihren Grundprinzipien, ist es kaum vorstellbar,
dass Europa als Ganzes eine Strategie entwickeln
und sie autonom durchsetzen könnte. Das Bewahren des Friedens allein zählt da nicht – denn dies ist
in der internationalen Politik Mittel zum Zweck,
nicht Zweck an sich.
Der Grund für die Führungsschwäche der EU ist
letztlich die ungewöhnliche Art, wie sich die Institutionen der EU entwickelt haben und heute noch
funktionieren. Wir wissen, dass autoritäre Regime
in der Aussenpolitik ihre Macht effektiv einsetzen
können, weil ihre Führer alle nötigen Freiheiten
dazu haben. Wir wissen, dass demokratische Gesellschaften dies tun können, weil sie die entsprechende
öffentliche Unterstützung mobilisieren können. Wir
wissen auch, dass kleine Koalitionen vergleichsweise ebenbürtiger Partner für einen begrenzten
Zeitraum gemeinsam in Diplomatie, Handel und
Kriegsführung erfolgreich sein können.
Doch die EU passt in keine dieser Kategorien,
wir wissen nicht, wie wir sie einstufen sollen. Sie ist
mehr als ein Staatenbund und doch weniger als eine
Nation oder ein Reich. Sie ist demokratischen Prinzipien verpflichtet, aber ihre Institutionen sind nicht
so strukturiert, dass die europäische Öffentlichkeit
dadurch das Recht bekäme, über eine gemeinsame
Aussenpolitik abzustimmen und im Falle des Nichtgefallens die Regierung abzuberufen. Gleichzeitig
sind diese Institutionen nicht autoritär genug, dass
ihre Führer ohne Rückversicherung nach Gutdünken handeln könnten. Und jetzt, da die EU entsprechend gewachsen ist, ist nicht einmal mehr die
Gefährdungslage für alle Mitgliedstaaten gleich.
Irland und Polen zum Beispiel werden die UkraineKrise wohl kaum im selben Licht sehen.
Die Europäische Union ist in der Geschichte der
politischen Institutionen vermutlich einzigartig.
Nicht, weil sie eine Föderation ist, von denen es im
Laufe der Geschichte viele gab. Sondern weil kaum
ein anderes Gemeinwesen denkbar ist, das sich als
Wirtschaftsmacht selber erschaffen hat, ohne sich
gleichzeitig die diplomatischen und vor allem militärischen Mittel zu verschaffen, diese Macht auch zu
verteidigen. Der EU fehlt es am grundlegendsten
politischen Selbstbewusstsein: am Sinn dafür, was
sie ist und was sie will. Ihre stärksten Mitgliedstaaten – Grossbritannien, Frankreich und Deutschland
– betrachten sich als autonome nationale Gebilde
und haben als solche Institutionen, die die Ausübung ihrer Macht legitimieren können. Der Europäischen Union aber fehlt es sowohl am Bewusst-
Das Schlagwort Wirtschaftsunion dient als
Vorwand, die politische
Natur der EU unter
den Teppich zu kehren.
sein als auch an den Institutionen. Und so scheint es,
dass die Weltordnung – wenn es denn so etwas gibt
– ohne die EU etabliert werden wird.
Welche Rolle also kann Europa spielen? Denken
wir an Kanada. Kanada hat ein ganz klares Selbstverständnis. Es weiss, dass es keine grosse Vergangenheit, kein historisches Schicksal für sich reklamieren kann. Es versteht, dass all seine Macht vom
Nachbarn USA abhängt. Es akzeptiert, dass es für
seine Bürger und Einwanderer nicht mehr tun kann,
als ihnen ein sicheres Umfeld zu bieten, in dem sie
ihre wirtschaftliche Lage verbessern können. Dieser
Aufgabe wird der Staat in bemerkenswerter Weise
gerecht. Kanada weiss auch, dass es sich als Mitglied
der internationalen Staatengemeinschaft hin und
wieder mit anderen Nationen zu diplomatischen
und militärischen Aktionen zusammentun muss.
Kanada erklärt seine militärische Macht nicht zum
Fetisch, wie die USA es tun. Genauso wenig erhebt
es das internationale Recht zum Götzen, wie die
Europäer es machen. Kanada ist frei von der Bürde
nationaler Identität und historischer Katastrophen
und hat daher eine einzigartige Stellung inne: als
kleiner, gewitzter und selbstbewusster Bürger der
internationalen Gemeinschaft.
In den frühen siebziger Jahren veranstaltete ein
kanadischer Radiosender einen genialen Wettbewerb. Zu jener Zeit gab es in den einzelnen Gliedstaaten der USA gerade lebhafte Diskussionen um
den coolsten Slogan für die jeweiligen Nummernschilder. Zum Beispiel: «Ich liebe New York» oder:
«Virginia – Land der Liebenden». Der Moderator
der Radiosendung wollte natürlich etwas Vergleichbares für sein Land haben, für Kanada. Also bat er
seine Zuhörer, den folgenden Satz zu vervollständigen: «Es ist so kanadisch wie . . .». Er bekam Tausende Zuschriften, doch die Kanadier sind sich
heute noch darin einig, dass der Siegerspruch der
beste von allen war. Und der lautete: «Es ist so
kanadisch wie unter den gegebenen Umständen
möglich.» Vielleicht ist das auch alles, was wir von
Brüssel erwarten dürfen und sollten: so europäisch
zu sein wie unter den gegebenen Umständen möglich. Das ist doch immerhin etwas. Ein kleines Etwas
vielleicht, aber immerhin ein mögliches.
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Mark Lilla ist Professor für Geisteswissenschaften an der Columbia University, New York City, und Fellow am Institut d’´etudes avanc´ees in Paris.
Grundlage des Beitrags ist sein Referat am NZZ-Podium Berlin vom
17. März zum Thema «Weltordnung ohne Europa».