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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Forum Buch
Vom 11.09.2016 (17:05 – 18:00 Uhr)
Redaktion und Moderation: Gerwig Epkes
Mit neuen Büchern von: Mathias Énard, Elena Ferrante, Alex Capus, Leon de
Winter, John Burnside
Mathias Énard: Kompass
Roman
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Verlag Hanser Berlin
25 Euro
Rezensent: Jürgen Ritte
Elena Ferrante: Meine geniale Freundin
Aus dem Italienischen von Karin Krieger
Suhrkamp Verlag
22 Euro
Gesprächspartnerin: Verena Auffermann
Alex Capus: Das Leben ist gut
Hanser Verlag
20 Euro
Gesprächspartner: Patrick Tschan
Leon de Winter: Geronimo
Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers
Diogenes Verlag
24 Euro
Gesprächspartnerin: Ursula März
John Burnside: WIE ALLE ANDERE
Aus dem Englischen von Bernhard Robben
Knaus Verlag
19,99 Euro
Rezensent: Elmar Krekeler
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Service:
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Mathias Énard: Kompass
Von Jürgen Ritte
Kein Mythos dürfte die Phantasie des abendländischen Menschen mehr beflügelt
und besessen haben als der Orient. Von den Kreuzzüglern, die auszogen, Jerusalem
zu befreien und in der Regel kläglich untergingen im Lande Suleimans des
Prächtigen, bis zu den Türken vor Wien oder den Sieben Säulen der Weisheit des
Lawrence von Arabien zu Anfang des 20. Jahrhunderts, von den Erzählungen aus
tausendundeiner Nacht bis zu Mozarts Entführung aus dem Serail und Goethes
West-östlichem Diwan hat sich der Orient als Traum und Trauma in unseren Köpfen
fest etabliert. Man kann nach Belieben noch weiter zurückgehen, bis zu der
erhabenen Schönheit der Alhambra oder der Omajaden-Moschee in Andalusien und
bis zu Karl Martell, der die Mauren im Jahre 732 vor Poitiers, also mitten in
Frankreich, zurückgeschlagen haben soll und damit als Retter des christlichen
Abendlandes in die Schulbücher unserer Väter und Großväter einzog. Aber es reicht
auch ein Blick in die Zeitung von gestern : islamistischer Terror, Burka und Burkini
als Bedrohung westlicher Werte. Wie gesagt : Traum und Trauma. Und ein Traum,
ein Wachtraum, ein Opiumtraum gar ist Mathias Enards jüngster und mit dem
letztjährigen Goncourt-Preis ausgezeichneter Roman « Kompass », eine fulminant
und mit geradezu orientalischer Opulenz erzählte Reise durch die Nacht des
todkranken Wiener Musikwissenschaftlers und Orientexperten Franz von Ritter, der
schlaflos in seinem Bett liegt und die Bilder seines Lebens, eines Gelehrten-und
Forscherlebens zwischen
Abendland und Morgenland heraufbeschwört.
einzelnen Kapitel dieses im Original
Die
378 seitigen Romans tragen keine
Überschriften, sondern Zeitangaben : 2Uhr50, 3Uhr45, 5h33….
Und was da durch den Kopf dieses Spezialisten und Liebhabers der orientalischen
Musik und ihrer Einflüsse auf die europäische Musiktradition geht und vor dem
geistigen Auge des Lesers vorbeidefiliert, das sind, von den Anfängen bis heute,
unzählige Szenen und reale Bilder der Begegnung und Nichtbegegnung mit dem
Orient. Da geht es vom britischen und französischen Protektorat im Nahen Osten in
die Museen Wiens, diesem, wie Hofmannsthal sagt, « Tor zum Orient » (nicht
umsonst steht von Ritters Bett in Wien), da besucht man die Bordelle Istanbuls und
Serails von Konstantinopel, bevor es in die iranische Revolution des Ayatollah
Khomeini geht, oder im Schatten der Ruinen von Palmyra- sie stehen noch archäologisch gefachsimpelt wird. Da ist die Rede von Franz Liszt, Beethoven,
Annemarie Schwarzenbach, der Abenteurerin und Freundin von Klaus Mann, von
Mozart, von Donizetti, von Rimbaud natürlich in seinem Kontor in Aden und seinen
Expeditionen ins äthiopische Harrar, von Joseph von Hammer-Purgstall, dem großen
Orientalisten, dem Goethe seine Kenntnisse über den göttlichen Hafiz verdankte,
und von vielem anderen mehr.
Lauter wahre und wahrscheinlich und stets schwindelerregende Geschichten, wie
etwa auch die jenes französischen Studenten namens Lyautey, der nach einem
Aufenthalt in Teheran zu Khomeinis Dolmetscher im französischen Exil wurde, der
Revolution seine Liebe opferte und sich 1980 erhängte. In ein kunstvolles, stetes Hin
und Her, das zwischen Fakten und Fiktionen oszilliert, ist auch von Ritters
Liebesgeschichte mit der geradezu überirdischen Lichtgestalt Sarah eingewoben,
von Ritters großer Liebe, die nicht nur schön, sondern auch ausnehmend klug und
gelehrt ist, eine junge Kollegin und, wie von Ritter selbst, eine wandelnde
Enzyklopädie der Wissenschaften vom Orient.
In Frankreich ist Enards Opus magnum
zuweilen auch kritisch aufgenommen
worden, nicht seiner Thematik wegen (diese ist ja auf eine geradezu dringende
Weise aktuell), sondern der Form halber. Ein Monstrum an Wissen und Bildung sei
dieses Buch und also schwer verdaulich.. Ein solches Urteil erstaunt denn doch : als
habe ein Romanautor nur seichte Kost zu servieren. Mathias Enard ist, wie sein
Held von Ritter, eine wandelndes Lexikon. Als studierter Orientalist, als
mehrsprachiger Autor – was in Frankreich eine Seltenheit ist -, der viele Jahre im
Orient gelebt hat (in Damaskus, in Beirut, in Téhéran), auch das ist eine Seltenheit,
ist er jemand, der nun wirklich weiß, wovon er spricht, wenn er vom Orient erzählt was in unseren Breiten, wo sich an den Stammtischen inzwischen mehr Nahost- und
Islamexperten als Fussballnationaltrainer tummeln, eine noch größere Seltenheit ist.
Ja dieser Roman hat eine etwas hybride Form wie schon « Zone », Enards großer
Roman über das Mittelmeer, diesen blauen Friedhof der Menschen und Mythen. Dort
geht es in einem einzigen Satz über 500 Seiten durch eine lange Nacht, in der der
Held – er sitzt im Zug von Mailand nach Rom - von Troia über den Balkan bis nach
Nordafrika – die Geschichte der Kriege oder besser : des permanenten Krieges
erzählt, den sich die Menschheit dort liefert. Dort der Zug, hier das Bett.
Enard
erzählt, erinnert – das ist seine geradezu epochale Leistung - ein Wissen, das uns
fehlt, das uns verloren gegangen ist, das wir verdrängen, ein Wissen, von dem
diejenigen die sich mehr für Ölquellen, Interessensphären und Geopolitik
interessieren, nichts wissen wollen, denn es stört. Es ist störend für beide Seiten,
den Orient wie den Okzident, zu erfahren, wieviel vom jeweils anderen in ihm steckt,
wie sehr er selbst der andere ist. Aber gerade dieses Wissen und die Geschichten,
die sich darum herum ranken, tun uns not. Mathias Enard möchte den Orientalismus,
seinen Orientalismus, seine Liebe zum Orient, die von Fakten lebt und nicht von
Wahngebilden, als einen neuen Humanismus verstanden wissen. Und scheint doch
selbst, wie es einem wahren Intellektuellen geziemt, zutiefst skeptisch : Die
Liebesgeschichte zwischen Orient und Okzident ist eine Liebesgeschichte, die
schlecht zu enden droht. Ähnlich wie von Ritters Liebe zur Orientalistin Sarah nur
einen kurzen Glücksmoment gekannt zu haben scheint. Auch wenn das letzte Wort
des Romans „espérance“ lautet, Hoffnung
Bleibt noch nachzutragen, dass Holger Fock und Sabine Müller eine wahrhaft
herausragende Übersetzung vorgelegt haben, die stilistisch und sachlich vollkommen
auf der Höhe ist und für einen langen und ungetrübten Lesegenuss sorgt.
John Burnside: WIE ALLE ANDERE
Von Elmar Krekeler
Will man für die Verrücktheit unserer gegenwärtig ziemlich verrückten Gegenwart
partout eine Krankheit als Ursache finden, rangiert jene unter den Topverdächtigen,
unter der John Burnside litt, als er noch richtig verrückt war. Apophänie heißt sie. Der
deutsche Psychopathologe Klaus Conrad hat diese Erscheinung im schizophrenen
Krankheitsbild auf den Begriff gebracht und meinte damit das grundlose Sehen von
Verbindungen, wo keine sind, begleitet von der besonderen Empfindung abnormer
Bedeutsamkeit. Eine Verschwörungstheoretikerkrankheit gewissermaßen.
Burnside, der 1955 im schottischen Dunfermline geborene vielleicht größte britische
Gegenwartsschriftsteller, beschreibt sie in „Wie alle anderen“, dem Memoir seiner
Verrücktheit, so: „Man sieht Muster, wo keine sind, hört Stimmen im allgemeinen
Grundrauschen, sieht Gott oder den Teufel im letzten Rest Fertignudeln.“
Epiphanien aus der Pasta gehört in „Wie alle anderen“ dabei noch zu den eher
harmloseren Symptomen, von denen Burnside heimgesucht wird. Stimmen
bedrängen ihn aus der Wand, Tote umschleichen ihn, reden mit ihm, manchmal
zerreißt es ihm den Kopf. John Burnside war in der Zeit, die er in „Wie alle anderen“
aus der Erinnerung Geschichte werden lässt, ziemlich verrückt.
Warum er das war, hat er in „Lügen über meinen Vater“ erzählt, dem ersten Teil
einer Trilogie von Memoirs, deren dritter gerade in England erschienen ist. Das war
die Geschichte seiner Kindheit im schottischen Minengebiet, geprägt im wahrsten
Wortsinn von seinem gewalttätigen Vater, der Alkoholiker war und Schläger und
wahrscheinlich genauso verrückt wie sein Sohn.
Wahrscheinlich war es natürlich anders herum. Der Sohn trägt das Leben seines
Vaters auf, muss es noch einmal durchleben, auf die Spitze treiben. So ist „Wie alle
anderen“ auch die Erzählung einer permanenten Eskalation, eines Lebens auf dem
scharfen Grat zur Selbstzerstörung durch Drogen und seelische Unbehaustheit. Und
die Geschichte einer Befreiung in die Literatur.
Burnside, dessen ziemlich gewaltiger Gedichtband „Anweisung für eine
Himmelbestattung“ gerade bei Hanser erschienen ist und den man unbedingt parallel
lesen sollte, ist 28 als „Wie alle anderen“ beginnt. Margaret Thatcher triumphiert
draußen in der Welt, für die sich Burnside aber einen Dreck interessiert. Er verlässt
die Anstalt, in der ihn Freunde, die er unverständlicherweise noch hat, untergebracht
haben. Er will es mit der Normalität versuchen. In Surbiton will es Burnside
versuchen, was man sich als Ausbund britischen Normalseins vorstellen muss.
Vorstadt, Reihenhaus, so stellt er sich das Leben vor, das ihn vor sich selbst und
seinen Phantomen und seiner ausgeprägten Suchtpersönlichkeit retten soll.
„Büroarbeit, Tee, Heckeschneiden, Kreuzworträtsel und Ovomaltine“. Es ist ein
heldenhaftes, sisyphos’sches Unternehmen. Es geht natürlich schief. Und nur
momentweise dürfen wir uns John Burnside als glücklichen Menschen vorstellen.
Er versucht wirklich alles, seine Verrücktheit und seine Drogen-, Sex- und Partysucht
einzuhegen. Er arbeitet als Gartenpfleger, er wird Programmierer im
Landwirtschaftsministerium. Er macht regelrecht Karriere. Je weiter er aber nach
oben kommt, desto tiefer fällt er in den unendlichen Raum seiner von
Betäubungsmitteln aller Art abhängigen Seele. Burnside stürzt, Hand in Hand mit
Frauen, die ihm nicht sonderlich gut tun, aber wenigstens phasenweise Halt geben,
Glas an Glas mit Saufkumpanen, die ihn zu absonderlichen Taten auffordern, dem
Abgrund entgegen.
Niemand tut dem andern gut in diesem Buch. Kaum trifft man sich, trinkt man
miteinander, betäubt sich. Hin und wieder ein Abglanz von Liebe. Hin und wieder
eine Ahnung vom Jenseits am Ende der Paradiesstraße, von der Burnside
regelmäßig träumt: „Eine Straße, eine Weide, ein Streifen Dämmerlicht am Zaun und
vielleicht noch ein Fuchs auf seiner ersten Morgenrunde durchs weiß bestäubte
Gras.“
Selbst diese Epiphanien, für die Burnsides Wesen offen ist wie das All, können aber
nicht darüber hinweg täuschen, dass das, was wir verrückt, und das, was wir normal
nennen, halt nur im Vollrausch zusammen gehen. Burnside steckt dazwischen mit
seiner Sehnsucht, zu sein wie alle anderen und seiner Ahnung, dass eben jenes
Leben nicht das seinige sein kann, dass er diese Reibung, diese Existenz allerdings
aushalten muss, dass genau das der göttliche Funke für seine Kunst ist.
Er findet seine Kunst, er findet sich draußen, wo der Wind geht, unter den
wispernden Bäumen, bei Spaziergängen. Er beginnt seine Gedichte im Gehen und
Atmen sprechend zu erfinden. Er findet sie in der Nacht, in der die Sterne, die Lichter
trösten, Wunder wirken, Abglanz sind von etwas Göttlichem, an das Burnside zwar
nicht glaubt, für das er aber wie kein Zweiter ein Gespür hat. Für das er Worte findet,
Zaubersprüche.
Einmal allerdings in diesem so wunderbar leicht und finster zugleich erzählten Buch
voller Furcht, voller Gotteserscheinungen, voller Jenseits und Rausch, das einem
Angst und Bange macht, durchs absolute Dunkel geht und trotzdem so wenig
weinerlich ist, so offen und klar, wie das eines aus der Welt der normal Verrückten
nur sein kann, einmal da wird einem ganz mulmig. Da steht einer seiner Söhne am
Bett. Es ist 2008, Burnside ist Whitbread Price-Träger, Burnside ist als Dichter
berühmt.
Jetzt hatte er wieder eine harte, eine schlaflose, eine verjagte Nacht, verfolgt von
Alpträumen, Erinnerungen an Orgien. Und er hat Angst, eine grundschreckliche
Angst, die einen frösteln macht. „Er erwidert meinen Blick, das gleiche Gesicht, die
gleichen Augen, und ich habe Angst, meine Geschichte könnte seine Zukunft sein,
Angst, dass das, was ich zurückließ, auf ihn wartet irgendwo entlang des Wegs,
jenseits einer schmalen Brücke, in einer verqualmten Vorstadt am Ende der
Straßenbahnlinie: die gleiche Ruhelosigkeit, die gleiche Schlaflosigkeit. Die gleiche
Fantasie.“
Das ist aber nicht schlimm. Die Vererbung von Verrücktheit ist kein Naturgesetz. Und
John Burnside ist ein anderer Vater als es sein eigener war. Er hat jetzt andere
Epiphanien. Er findet den Glanz des seltsam säkularen Gottes draußen im Feld, auf
den Wegen unter den Bäumen, in der Nacht. So haben wir keine Angst mehr. John
Burnsides „Wie alle anderen“ ist ein wunderbares Buch.