8 Wirtschaft & Politik WOCHENENDE 5./6./7. AUGUST 2016, NR. 150 Tolga Sezgin/laif 1 Europa streitet über Erdogan Österreichs Kanzler Kern fordert einen Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei und erhält dafür Applaus von der CSU. Deutschland und andere EU-Staaten sehen den Vorstoß kritisch. Erdogan kündigt derweil „Säuberungen“ in der Wirtschaft an. 60 TAUSEND dass man den Gesprächsfaden nicht tober steht außerdem die WiederhoMenschen sind in der Türkei abreißen lassen sollte. Durch die Beilung der Bundespräsidentenwahl an. nach dem gescheiterten trittsverhandlungen sieht sie die MöglichDort liegt der FPÖ-Kandidat Norbert HoMilitärputsch keit, Einfluss auszuüben. Der Abbruch der fer nach Prognosen leicht vorn. Kerns Äufestgenommen worden. Gespräche ist ein Druckmittel, das sie noch ßerungen Richtung Türkei dürften bei vielen Quelle: türkische Regierung nicht einsetzen will. Im Juli hatte Merkel ihre roin Österreich ankommen. te Linie beschrieben: „Die Einführung der TodesAuch in Deutschland ist die Stimmung eindeustrafe in der Türkei würde folglich das Ende der tig: 80 Prozent lehnen einer Umfrage zufolge eiBeitrittsverhandlungen bedeuten.“ nen EU-Beitritt der Türkei ab. Nur 15 Prozent sind Ähnlich äußerte sich am Donnerstag auch EUlaut ARD-Deutschland-Trend für eine mittel- bis Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Die langfristige Aufnahme in die EU. Während Kerns Beitrittsgespräche jetzt zu beenden wäre ein Äußerungen in Berlin auf wenig Begeisterung „schwerwiegender außenpolitischer Fehler“, sagstießen, erhielt der Kanzler Unterstützung aus te Juncker in der ARD. Gleichzeitig betonte er, Bayern. „Es entspricht der Meinung der Bayeridass ein Beitritt aktuell nicht infrage komme. schen Staatsregierung, dass die Europäische Union einen Abbruch der Beitrittsgespräche mit „Die Türkei, in dem Zustand, in dem sie jetzt der Türkei in Betracht ziehen sollte“, sagte ist, kann nicht Mitglied der Europäischen UniBayerns Innenminister Joachim Herrmann on werden“, sagte Juncker – vor allem nicht (CSU). „Eine türkische EU-Mitgliedschaft dann, wenn das Land die Todesstrafe wieder kann überhaupt keine Option sein.“ einführen sollte. Dies hätte den sofortigen Einen Abbruch der Gespräche müssAbbruch der Verhandlungen zur Folge. ten die EU-Staaten einstimmig beAuch der Vorsitzende des Europa-Ausschließen, doch die meisten sind daschusses im Bundestag, Gunther Krichbaum (CDU), sieht den Punkt nicht ergegen. Selbst Griechenland, dessen reicht, an dem die EU die Verhandlungen Beziehungen zur Türkei traditionell angespannt sind. „Griechenland unabbrechen sollte. „Ich halte wenig daterstützt die EU-Beitrittsperspektive von, wenn die EU mit Wortbruch antder Türkei“, hieß es in Kreisen des wortet“, sagte Krichbaum dem HandelsAußenministeriums „Wir wünblatt. Durch die Beitrittsgespräche habe schen nicht, dass dieser Prozess man Einfluss, die Türkei müsse liefern. aus dem Gleis geworfen wird.“ „Erdogan wartet nur darauf, dass er Die Athener Regierung dürfte der EU den Schwarzen Peter zuschiedabei das umtreiben, was auch ben kann“. Dem österreichischen Kanzler fehle es vielleicht an internationaler Merkel und viele andere EU-RegieErfahrung, so Krichbaum. rungschefs leitet: Sie wollen den Zudem steht der Wiener Regierungschef unter Druck. Im Herbst 2017 sind Präsident Erdogan: Keine Parlamentswahlen. Nach einer aktuellen Gnade bei der Zerschlagung Umfrage kommt die rechtspopulistische der Gülen-Bewegung. FPÖ mittlerweile auf 35 Prozent. Anfang OkAP D iplomatische Zurückhaltung ist nicht die Sache von Christian Kern. Gleich zum Amtsantritt im Mai überzog Österreichs Kanzler seine eigene Große Koalition mit harscher Kritik. Nun redet Kern auch in der Außenpolitik Tacheles. Auf die Frage, wann die Türkei in die EU aufgenommen werden könnte, antwortete der sozialdemokratische Regierungschef: „Nicht jetzt und nicht in den kommenden Jahrzehnten.“ Die Beitrittsverhandlungen sind derzeit „nicht mehr als eine Fiktion“. Beim Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs Mitte September will er für einen Abbruch werben. Kern rührt damit an ein heikles Thema. Wie lange will Europa dem zunehmend autoritären Treiben des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zusehen? Wann werden mahnende Worte alleine nicht mehr ausreichen? Erdogan jedenfalls setzt nach dem gescheiterten Militärputsch sein hartes Vorgehen gegen Gegner im eigenen Land fort. Nach Verhaftungen von rund 26 000 Menschen und Entlassungen von 60 000 in Armee, Verwaltung und dem Bildungssektor will er sich nun offenbar die Wirtschaft vornehmen. Das betrifft vor allem die Unternehmen, Schulen und Wohltätigkeitsorganisationen, die vom islamischen Prediger Fethullah Gülen betrieben werden. Sie sind für Erdogan „Nester des Terrorismus“ und ein „Krebsgeschwür“. Die Gülen-Bewegung, die Erdogan für den Putschversuch verantwortlich macht, sei am stärksten in der Wirtschaft. Trotz solcher Äußerungen hält die übergroße Mehrheit der EU-Staaten nichts von der Forderung Österreichs, jetzt die Beitrittsverhandlungen abzubrechen. Die Bundesregierung will sich offiziell nicht zu Kerns Vorstoß äußern, aber die Drohung aus Wien passt kaum zum Kurs von Angela Merkel (CDU). Die Kanzlerin ist überzeugt, Säuberungen © Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an [email protected]. 9 WOCHENENDE 5./6./7. AUGUST 2016, NR. 150 Wirtschaft & Politik 1 Demonstration in Istanbul: Trotz seiner zunehmend autoritären Politik steht die Mehrheit der Türken hinter Präsident Erdogan. Flüchtlingsdeal zwischen EU und Türkei nicht gefährden. Denn platzt das Abkommen, bekäme Griechenland die Folgen als Erstes und am massivsten zu spüren. Das Land würde dann zu einem riesigen Auffangbecken für Hunderttausende Flüchtlinge. „Natürlich machen wir uns Sorgen, alles andere wäre leichtfertig“, sagt Giorgos Kyritsis, Sprecher des Flüchtlings-Krisenstabs in Athen. Aber damit sind offenbar nicht die „Säuberungen“, die Verhaftungswellen und die Entlassungen Zehntausender Staatsdiener im Nachbarland gemeint. Kritische Kommentare dazu sind Ministerpräsident Alexis Tsipras bisher öffentlich nicht über die Lippen gekommen. „Wie von Rechtsaußen“ Auch der französische Außenminister Jean-Marc Ayrault schlägt einen konzilianteren Tonfall an. Auf die jüngsten Forderungen aus Österreich reagiert er überhaupt nicht. Auf Anfrage sagte eine Sprecherin des Außenministeriums, Ayraults Haltung sei: „Die Beitrittsgespräche helfen den türkischen Demokraten, denen, die wollen, dass ihr Land sich modernisiert und internationale demokratische Standards erreicht.“ Ähnlich argumentiert die schwedische Außenministerin Margot Wallström. Man solle den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen. „Wir sollten den Dialog suchen, um die Entwicklung positiv zu beeinflussen“, erklärte sie. In Finnland und Dänemark ist der Tonfall gegenüber Erdogan zwar deutlich schärfer. Allerdings hat niemand bisher einen Abbruch der Beitrittsverhandlungen gefordert. Auch in Spanien wollte das Außenministerium Kerns Äußerungen nicht kommentieren. Heftige Kritik an Kern gab es freilich aus der Türkei. Europaminister Ömer Celik sagte am Donnerstag: „Es ist verstörend, dass seine Kommentare ähnlich wie die von Rechtsaußen klingen.“ th, jhi, ghö, ll, lou, hps, hst Innenansicht Türken fühlen sich unverstanden F ür Mustafa Yeneroglu, den Vorsitzenden des Menschenrechtsausschusses im türkischen Parlament, ist es ein klarer Fall von „Türkeibashing“: Die Stimmungslage in der EU gegenüber seinem Land sei „irrational, oft feindlich, wenn nicht sogar hasserfüllt“. Aber nicht nur Regierungspolitiker wie Yeneroglu, auch viele Türken, die Erdogan durchaus kritisch bis ablehnend gegenüberstehen, fühlen sich jetzt unverstanden – von Europa und insbesondere von Deutschland, dem wichtigsten Partner der Türkei in der EU. Ein häufig gehörter Vorwurf: Medien und Politiker in Europa hätten sich nur flüchtig mit dem Putschversuch und den Ungeheuerlichkeiten jener Nacht beschäftigt, wie der Bombardierung des Parlaments in Ankara. Auch der heroische Widerstand der Bevölkerung, keineswegs nur der Erdogan-Anhänger, die sich unter Einsatz ihres Lebens den Panzern entgegenstellten und in vielen Fällen überrollt wurden, seien für die europäische Öffentlichkeit nur ein Randthema. Im Fokus des Interesses stünden dagegen Erdogan und seine „Säuberungen“. Der angesehene, regierungskritische Kolumnist Semih Idiz beklagte jetzt in der „Hürriyet Daily News“, zwischen den Zeilen mancher Kommentare in europäischen Medien sei sogar Enttäuschung darüber zu erkennen, dass der Putschversuch scheiterte – so einseitig seien viele in Europa auf das Feindbild Erdogan fixiert. Auch die „halbherzige Unterstützung“, die europäische Politiker der türkischen Regierung nach dem Putschversuch hätten zuteilwerden lassen, bestärke viele Türken in dem Verdacht, „dass Europa insgeheim darauf hoffte, dieser Umsturz werde Erdogans Herrschaft beenden“, schreibt Idiz. Die Kritik an den „Säuberungen“ spiegele denn auch weniger eine echte Sorge um die Demokratie in der Türkei als die Abneigung gegen Erdogan, glaubt Idiz. Europa hat in der Türkei-Krise den Lackmustest nicht bestanden. Semih Idiz Journalist © Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an [email protected]. Sein bitteres Fazit: Europa habe in der Türkei-Krise „den Lackmustest nicht bestanden“. Jede Ermahnung aus europäischen Hauptstädten an Ankara, bei der Verfolgung der Putschisten die demokratischen Grundrechte und die rechtsstaatlichen Prinzipien zu achten, verstärke unter vielen Türken nur den Hass auf Europa. Die europäischen Regierungen müssten begreifen, dass dies dauerhafte Folgen für das Verhältnis ihrer Länder zur Türkei habe, mahnt der Kolumnist. Damit gerate auch die langjährige Strategie von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Gefahr, „die Türkei aus der EU rauszuhalten, aber zugleich in Europa zu verankern“. Das in Europa herrschende Bild des Erdogan-Widersachers Gülen, den auch große Teile der türkischen Opposition als Drahtzieher des Putschversuchs sehen, stößt auch auf Unverständnis. Dass Gülen im Ausland meist als Verteidiger demokratischer Werte und ein Mann des Dialogs zwischen den Kulturen und Religionen glorifiziert werde, die konspirativen Strukturen seines Netzwerks aber ignoriert würden, sei vor allem der Verachtung für Erdogan geschuldet, kritisiert der Politologe Metin Gürcan in der Washingtoner Onlinezeitung „Al-Monitor“. Gerd Höhler
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