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SWR2 Tandem - Manuskriptdienst
Wer, wenn nicht wir!
Drei Frauen in Albanien
Autor:
Eggert Blum
Redaktion:
Rudolf Linßen
Regie:
Eggert Blum
Sendung:
Montag, 25.07.16 um 10.05 Uhr in SWR2
Wiederholung aus 2014
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Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
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MANUSKRIPT
Atmo Straße in Tirana
Autor:
An den Theken der Bars drängen sich die Männer. Im Schatten der Platanen bieten
Straßenhändler Smartphones oder Kinderspielzeug an, schicke Frauen mit großen
Sonnenbrillen und blond gefärbten Haaren stöckeln an ihnen vorbei ohne sie zu
beachten: Tirana, die Hauptstadt Albaniens, wirkt an diesem Sommertag wie ein
Stück Süditalien. Die Frau, mit der ich auf der Hauptstraße unterwegs bin, passt da
nicht ganz ins Bild. Aleksandra Bogdani, 32 Jahre alt, Zeitungsredakteurin, verzichtet
auf Schmuck und Make Up, lässt ihre Haare braun wie sie sind und trägt praktische
flache Treter. Sie hat es wie immer eilig, sie muss zurück in die Redaktion im
Hintergebäude einer kleinen privaten Hochschule.
Atmo Redaktion
Aleksandra Bogdani:
We print almost 3000 newspapers per day, and we sell the half of that circulation…
Übersetzerin:
Wir drucken jeden Tag 3 000 Zeitungen, und von dieser Auflage wird etwa die Hälfte
auch verkauft. Das reicht natürlich nicht, wie fast alle Zeitungen in Albanien machen
wir Verluste. Diese Verluste werden von den Eigentümern gedeckt mit den
Gewinnen, die sie aus ihren anderen Geschäften ziehen. Mein Boss zum Beispiel
verdient Geld mit einer privaten Universität, andere sind im Baugeschäft. Weil wir
Verlust machen, wurden Kollegen entlassen, dadurch müssen die anderen noch
mehr arbeiten. An manchen Tagen muss ich alles bearbeiten, egal ob Sport oder
Kultur oder internationale Nachrichten. Das ist Journalismus unter sehr schlechten
Bedingungen, aber es geht so weiter.
…so we are doing journalism in very poor conditions, but it is going on here.
Autor:
Einige Wochen vor meiner Reise nach Albanien hatte ich einen Artikel in der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung gelesen. Über die Probleme Albaniens mit seiner
stalinistischen Vergangenheit. Geschrieben von Aleksandra Bogdani. Wer könnte dir
dieses Land besser erklären als eine gute Journalistin, dachte ich, und meine
Erwartung wird nun, da wir uns in Tirana treffen, nicht enttäuscht. Aleksandra erzählt
mir, wie sich ihr Land aus dem Chaos der 90er Jahre herausgearbeitet hat, wie sich
aber auch die Korruption in alle Lebensbereiche hineingefressen hat. Und dass es
Dinge gibt, die auch für ihre Spürnase tabu sind.
Atmo an der Mülldeponie
Ich hatte sie um ein Beispiel dafür gebeten, und so sind wir in einen Vorort Tiranas
gefahren, vor das Eingangstor der Mülldeponie. Auf dem staubigen und baumlosen
Hügel gegenüber stehen einige Wellblechhütten. Roma leben hier. Ohne
Wasserversorgung, die Kinder gehen barfuß.
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Atmo Gespräch mit Roma
Die Roma wollen weder Foto noch Interview, sie schämen sich ihrer Armut. Und sind
zornig auf die Stadt, die sie von der Mülldeponie ausgesperrt hat.
Aleksandra Bogdani:
The garbage field here, it has been for years a poison field for this area, they have
burnt the garbage…
Übersetzerin:
Diese Deponie war bis vor wenigen Jahren noch eine wilde Müllkippe, der Abfall
wurde einfach verbrannt und das vergiftete die ganze Gegend. Aber: Diese Müllkippe
hatte auch vielen Roma-Familien einen Lebensunterhalt verschafft. Die Roma
suchten die Wertstoffe auf der Deponie heraus und verkauften sie. Dann hat die
Stadtverwaltung die Deponie in Ordnung gebracht, eingezäunt und eine große
Müllsortieranlage gebaut. Das war richtig, aber dadurch haben die Roma-Familien
ihren Lebensunterhalt verloren. Niemand hat sich um neue Unterkünfte oder eine
andere Arbeit für sie gekümmert. Der zweite Skandal: An der Anschaffung der
großen Müllsortieranlage haben sich wahrscheinlich eine Menge Leute bereichert.
Freunde des früheren sozialistischen Bürgermeisters und Freunde des jetzigen
konservativen Bürgermeisters. Das stinkt nach Korruption. Aber keine Zeitung
berichtet darüber. Denn jede Zeitung gehört entweder zum einen oder zum anderen
politischen Lager, keine ist unabhängig. Okay, sage ich mir also, es bringt nichts,
wenn ich da recherchiere, meine Geschichte wird ja sowieso nicht gedruckt.
… I’m not going to dig into this area because my story is not going to be published.
Autor:
Als Aleksandra vor zehn Jahren ihren Berufsweg als Journalistin begann, war das
noch anders. In den Redaktionsräumen, erinnert sie sich, herrschte eine Stimmung
von Engagement und offener Kritik. Der Freiheitsrausch nach dem Zusammenbruch
des kommunistischen Systems, das in Albanien bis zu seinem Ende 1991 besonders
brutal und stalinistisch funktioniert hatte, dieser Freiheitsrausch wirkte noch nach. In
den letzten Jahren aber gelang es den mächtigen Oligarchen, den Markt der
Meinungen unter sich aufzuteilen, Zeitungen und Fernsehsender zu Sprachrohren
ihrer Interessen zu machen. Dennoch, meint Aleksandra, habe Albanien heute eine
freiere Presse als viele andere Staaten Osteuropas. Und auch Nationalismus und
religiöses Eiferertum spielten in ihrem Land kaum eine Rolle. Frauen mit Kopftuch
sieht man nur selten in Tirana. Aleksandra stammt aus einer muslimischen Familie,
Religion bedeutet ihr nicht viel – aber sie ist ihrer frommen muslimischen Großmutter
dankbar, dass sie ihr die Liebe zur Bildung mitgab.
Aleksandra Bogdani:
I was like eating books like foods when I was ten, twelve years old……
Übersetzerin:
Ich habe Bücher verschlungen wie das tägliche Brot. Durch die Bücher konnte ich mir
ein besseres Leben vorstellen. Ich war literaturbegeistert, ich wollte sogar
Schriftstellerin werden. Na ja, und Journalismus ist ja auch eine Art Literatur, nur im
Schnelltempo. Ich werde auch beim Journalismus bleiben. Ich liebe diese Arbeit.
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…and I would stay in journalism because I love this job, yes.
Autor:
Ein Job ohne Sicherheit, ohne schriftlichen Vertrag – das ist üblich in Albanien. Wo
man für einen guten Arbeitsplatz bezahlen muss, wo Ärzte ebenso käuflich sind wie
Richter, wo das Recht des Stärkeren gilt. Wenn du dich da behaupten willst als Frau,
sind Ehemann und Kinder keine Hilfe – sagt Aleksandra Bogdani, die alleinstehend
ist und sich mit ihrem Bruder eine Wohnung teilt.
Aleksandra Bogdani :
If you want to build a career, you have to work hard here. Really hard. And you don’t
have…
Übersetzerin:
Hier musst du sehr hart arbeiten, wenn du vorankommen willst. Wenn du anfängst,
mehr freie Zeit für deinen Freund oder für Urlaubsreisen einzuplanen, fällst du bei der
Arbeit zurück. Wir arbeiten 12 Stunden am Tag. Da wird deine Arbeit zur Libido.
Trotzdem kenne ich auch Frauen in sehr guten Positionen, die Partner, Familie und
Beruf miteinander vereinbaren können. Mir ist das bisher noch nicht geglückt. Und
dann gibt es noch das andere Albanien. In vielen Dörfern leben Frauen, die gar
nichts selbst entscheiden dürfen. Da bestimmt erst der Vater über sie und später der
Ehemann. Da kommt es vor, dass ein Vater seine Tochter tötet, weil sie sich ohne
Erlaubnis mit einem fremden Jungen getroffen hat. Im Kelmend-Tal zum Beispiel, in
den Bergen im Norden, da geht es noch so patriarchalisch zu. Fahr mal hin und
überzeuge dich selbst.
..this patriarchal way of living is strong, still, you go there and you’ll see by yourself!
Autor:
Ich bin Aleksandras Tipp gefolgt. Habe mir in der Stadt, die am Fuß der
nordalbanischen Alpen liegt, in Shkoder, das auch Skutari genannt wird, einen
robusten Landrover geliehen und bin die fünfzig Kilometer Piste hinauf ins KelmendTal geholpert.
Atmo Fahrt im Geländewagen
Durch eine grandiose Berglandschaft. Vorbei an Zwetschgenbäumen und kleinen
Bauernhäusern und an Hütejungen, die ihre Schafherde durch das steinige Flussbett
treiben. Die Piste wird immer schlechter, je höher es hinaufgeht. Mein Ziel ist das
Dorf Lepushe auf 1 200 Meter Höhe. Es liegt in einem grünen Talkessel,
Buchenwald zieht sich die Hänge hinauf, über die Kalkgipfel, in deren Flanken noch
Schnee liegt, verläuft die Grenze zu Montenegro. Am Ortseingang von Lepushe
erwartet mich Gjystina Grishaj. Die 48 Jahre alte Bäuerin spricht Italienisch, sie war
mir als Übersetzerin empfohlen worden.
Atmo Dorf
Gjystina hat kurze graue Haare, ist stark und stämmig wie ein Mann und strahlt mich
zur Begrüßung mit breitem Lächeln an. Was auf mich wie eine ländliche Idylle aus
der Zeit vor hundert Jahren wirkt, mit Pferden, Enten im Bach und Blumenwiesen,
ohne irgendeine Landmaschine, ist für Gjystina ein Ort von Armut und harter Arbeit.
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Sie zeigt auf eins der niedrigen weißgekalkten Häuser, in dem ein entfernter
Verwandter wohnt.
Gjystina:
Ha una mucca e cinque pecore. E fanno la legna. Lui ha un camioncino…
Übersetzerin:
Er hat eine Kuh und fünf Schafe. Und dann schlagen sie noch Holz. Mit seinem
Kleinlaster bringt er das Holz in die Stadt und kauft dafür Öl, Reis, Nudeln und Mehl
ein. Ehrlich, keine Familie in unserm Dorf kann es sich leisten, Obst zu kaufen. Äpfel
oder Birnen können wir nur vom eigenen Baum essen. In unserem Dorf bekommen
nur drei Leute einen Lohn: Luigis Frau, die Krankenschwester, mein Bruder, der ist
Grenzpolizist, und noch die Lehrerin. Nur diese drei.
…la maestra, sono tre. Solo tre persone solo… Ciao ! Mirdita!
Gjystianas Cousin :
Albanisch
Autor:
Der alte Mann am Gartenzaun nebenan ist Gjystinas Cousin. Zwei Kühe, einige
Schafe, im Garten Gemüse: Der Rentner lebt als Selbstversorger. Nach der nächsten
Wegbiegung fällt mir eine junge Frau in schicken Shorts ins Auge, die Unkraut hackt.
Speranza, 28 Jahre, zwei Kinder, gehört zu den anderthalb Millionen Albanern – das
ist ein Drittel der Bevölkerung - die auf der Suche nach Arbeit ins Ausland
emigrierten. In die USA, nach Griechenland, vor allem nach Italien. Speranza ging
2003.
Rückkehrerin Speranza:
Sono andata per una vita migliore da qua come dire, a Venezia. Il mio marito …
Autor:
In Venedig wollten sie und ihr Mann sich ein besseres Leben aufbauen. Er als
Maurer, sie als Geschirrspülerin in einem Touristenhotel. Um über die Grenze zu
kommen, mussten sie 7 000 Euro an den Schleuser zahlen. Speranzas Mann lebte
die ganze Zeit in Italien illegal, ohne Papiere. Sie bekam eine Aufenthaltserlaubnis,
als die Kinder geboren wurden. Als dann in Italien die Krise ausbrach, verlor der
Mann seine Arbeit. 500 bis 600 Euro im Monat hatte er als Schwarzarbeiter auf dem
Bau verdient. Nun ist die Familie wieder zurück in ihrem Heimatdorf und Speranza
hackt schweißüberströmt das Unkraut zwischen den jungen Gemüsepflanzen. Von
ihrem Mann ist nichts zu sehen.
…non è che è un lavoro che faccio volontieri, pero lo devo fare.
Autor:
Dass sie diese Landarbeit nicht freiwillig verrichtet, stellt die junge Frau noch klar,
bevor wir uns verabschieden – aber es müsse eben sein. Gjystina glaubt nicht, dass
die Rückkehrer es auch noch im Winter in Lepushe aushalten werden. Wenn das
Dorf von der Außenwelt abgeschnitten ist, und die Schule wochenlang schließt.
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Gjystina:
La strada è sempre bloccata. Per tre mesi, usciamo pocissimo. Per che…
Übersetzerin:
Die Straße ist im Winter blockiert. Drei Monate lang. Wir können hier vier Meter
Schnee haben. Und die Schule. Hier gibt’s nur acht Klassen. Wer es sich leisten
kann, schickt die Kinder danach in die Stadt auf die Oberschule, das kostet aber 70
Euro im Monat. Wenn dafür das Geld fehlt, müssen die Kinder hierbleiben und Kühe
und Schafe hüten. Wir haben alle Fernseher hier, die Kinder wissen, wie man
anderswo lebt, aber ihr Leben heißt: Kühe und Schafe hüten.
…vanno con le mucche, qualqu’uno vanno con le pecore, è così.
Autor:
Ob sich der Staat früher, als das von der Außenwelt abgeschlossene Albanien so
etwas wie Europas Nordkorea war, mehr um die Bergdörfer gekümmert habe, will ich
wissen. Ob es unter Enver Hodxha, dem kommunistischen Diktator, besser war.
Gjystina, die gläubige Katholikin, schüttelt den Kopf.
Gjystina:
Ma non, non vogliamo le sue cose, vogliamo libertà ma con qualque cosa di…
Übersetzerin:
Wir wollen nicht das alte System zurück. Wir wollen die Freiheit behalten, aber auch
das, was früher besser war. Enver Hodxha hat die Kirchen geschlossen, wir durften
nicht raus aus unserm Land, nach Italien, Griechenland oder Amerika. Aber: Unter
Enver Hodxha wurde im Winter die Straße ins Dorf freigehalten und es gab immer
Strom. In der Stadt konntest du draußen schlafen und niemand hat dich ausgeraubt.
Heute ist die Straße hinauf zu uns im Winter geschlossen und wir haben drei Monate
lang keinen Strom. Und in der Stadt draußen schlafen, heutzutage? Das wäre
lebensgefährlich.
…vuoi dormire fuori, non poi dormire fuori per che ti amazzano.
Autor:
Und als mir Gjystina aus ihrem Leben erzählt, verstehe ich, warum sie froh ist, jene
Zeit hinter sich zu haben.
Gjystina:
La mia mamma e stata là con le bestie, e dopo due ore che lei stava male…
Übersetzerin:
Meine Mutter war beim Vieh auf der Bergweide, als die Wehen einsetzten. Zwei
Stunden später kam ich zur Welt. Drei Monate blieb meine Mutter mit mir, dem
Neugeborenen, oben auf der Alp, sie musste ja das Vieh hüten, erst im Herbst
kamen wir hinab ins Dorf. Ich habe als Kind große Armut kennengelernt. Schuhe
hatte ich nicht. Für den Winter machte uns meine Mutter Pantoffeln aus Ziegenwolle.
Unsere Hosen waren aus gebrauchten Säcken zusammengenäht, aus Säcken für
Reis oder Nudeln. Nur ein paar Mal bekam ich eine neue Jacke mit Rock aus
Schafswolle – dann lief ich stolz damit durchs Dorf. Mein kranker Vater konnte nicht
mehr als Lehrer arbeiten, er bewachte das staatliche Dynamitlager im Dorf. Sein
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geringer Lohn reichte für Zigaretten und manchmal für Ersatzkaffee aus Kräutern. Ich
hatte es wirklich sehr schwer.
…e qualque volta caffè, caffè erba. Veramente, io ho sofferta tanto.
Autor:
Und warum musste Gjystina gegenüber dem jüngeren Bruder zurückstehen, als es
darum ging, wer länger als acht Klassen zur Schule gehen durfte? Und wie hat sie es
geschafft, trotzdem Italienisch zu lernen und dadurch einen Draht zur Außenwelt zu
knüpfen?
Gjystina:
Io sono finito solo otto classe e non di più. E dopo, non sono andata...
Übersetzerin:
Ich habe die Dorfschule nach der achten Klasse verlassen müssen. Meine jüngeren
Geschwister haben die Oberschule in der Stadt besuchen können. Aber für alle
Kinder reichte das Geld nicht, ich musste also verzichten. Mein Italienisch, das habe
ich viel später gelernt, von den Franziskanerinnen aus Italien. Die kamen 1994 in
unser Dorf. Allmählich habe ich mich mit ihnen angefreundet, habe ihnen dann auch
beim Katechismusunterricht geholfen, und so bin ich auch mit der Sprache
weitergekommen.
…e sono andato di più avanti con la lingua.
Autor:
Als vor sechs Jahren die erste italienische Bergwandergruppe im Dorf auftauchte,
und mit ihnen eine Vertreter der Slow-Food-Bewegung, war Gjystina zur Stelle.
Erkannte die Zeichen der Zeit. Sie hat aus Holz einen kleinen Laden gebaut, in dem
sie an die Sommertouristen Marmeladen, Kräuterliköre und Tee verkauft. Alles Bio,
alles selbst gesammelt und abgefüllt.
Atmo im Laden
Gjystinas Laden:
I marmelate di mirtilli. Composto di pere, genziana, e il più si va la genziana in Italia.
Autor:
Vor allem Enzian, Tee und Steinpilze verkauft sie inzwischen auch nach Italien.
Gjystina ist in ihrem Dorf Lepushe die einzige Geschäftsfrau, die wirtschaftlich auf
eigenen Beinen steht. Das hat wohl auch damit zu tun, dass sie zu den sogenannten
„eingeschworenen Jungfrauen“ gehört. Das sind Frauen, die gemäß einer alten
albanischen Tradition auf sexuelle Beziehungen zu Männern verzichten.
Gjystina:
Veramente, mi non ha piaciuto mai, ho detto no. Mio papa ha detto: adesso…
Übersetzerin:
Ehrlich gesagt, ich wollte nie heiraten. Mein Vater sagte immer: arbeite du, kümmere
dich um die jüngeren Geschwister, die sollen heiraten, du nicht. Und ich war
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einverstanden. Nach unseren Traditionen hat eine Frau, die nicht heiratet, sondern in
der Familie bleibt, die gleichen Rechte wie ein Mann, wie ihr Bruder. Meine
verheirateten Schwestern können nicht hierher zurückkommen und einen Anteil von
unserem Land oder unserem Haus beanspruchen. Aber mir steht eine Hälfte vom
Land, vom Haus und vom Vieh zu. Ich habe dasselbe Erbrecht wie mein Bruder. Und
wenn ich eine andere Familie besuche, dann stehen alle auf. Weil ich nicht heirate,
werde ich wie ein Mann respektiert.
…per che senza sposarsi sono respetta come un uomo.
Autor:
Gjystina hat keine Kinder, aber eine 13-jährige Nichte. Die Tochter ihres Bruders. Sie
tut alles dafür, dass Valerjana einmal ein besseres Leben führen kann. Und hofft,
irgendwoher das Schulgeld aufzutreiben, damit Valerjana die Dorfschule verlassen
und auf die katholische Oberschule samt Internat in Skutari gehen kann. Als ich mit
der Dreizehnjährigen spreche, die ohne Hilfe selbst Italienisch gelernt hat, wird mir
klar: Sie ist begabt.
Valerjana:
Albanisch
Autor:
Die Dorfschullehrerin hat nicht einmal ein Diplom, beklagt sich Valerjana, sie kann
mir weder Mathematik noch Englisch beibringen. Es fehlt an Tischen in der Schule,
an einer Tafel, sogar an einem Waschbecken. Valerjana will da weg – und auf eine
Schule gehen, wo sie jeden Tag etwas Neues lernen kann.
…e sempre io voglio fare una giornalista –
Autor:
Journalistin will Valerjana später werden. Und, wenn es klappt mit der Oberschule in
Skutari, ganz schnell Englisch lernen.
..per che qua, nessuno non sa la lingua Inglese.
Atmo Autofahrt
Einen Tag später sitze ich im Mercedes der wichtigsten Arbeitgeberin von Skutari.
Der Frau, an die sich viele Hoffnungen knüpfen – auf einen Arbeitsplatz, auf eine
bessere Politik. Keti Bazhdari führt in Skutari ein großes Textilunternehmen. Und sie
macht Wahlkampf für die oppositionelle Sozialistische Partei. Aber bevor mir die 36jährige Geschäftsfrau ihren Betrieb zeigt, kutschiert sie mich durch einen Vorort von
Skutari, dessen Einfamilienhäuser Marke Eigenbau es nach dem Gesetz gar nicht
geben dürfte.
Keti Bazhdari:
È un quartiere intero, informale che saranno sui 20 mila habitanti…
Übersetzerin:
In diesem schwarz gebauten Stadtviertel leben etwa 20.000 Menschen. Die
Grundstücke hier sind nicht im Grundbuch eingetragen. Es gibt keine Kanalisation.
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Und es gibt auch keine weiterführende Schule. Dabei sind die meisten hier
funktionale Analphabeten. Sie können keine zehn Sätze schreiben, ohne fünfzig
Fehler zu machen. Dieses ganze Viertel muss von der Stadt legalisiert werden.
….50 sbagli. Queste zone devono essere legalizzate.
Autor:
Die Schwarzbauten, erklärt mir Frau Bazhdari, sind eine Folge des Stimmenkaufs.
Wenn der Chef einer Familie einem Politiker ausreichend Stimmen liefert, sorgt der
Politiker im Gegenzug dafür, dass die Polizei dem Schwarzbau fernbleibt. Eine
Praxis, die die Politikerin Keti Bazhdari abzuschaffen verspricht – wenn ihre
Sozialistische Partei die Wahlen gewinnt.
Atmo Näherei „Bellaconfex“
Dass Keti Bazhdari für ihre Partei ein Zugpferd ist, wird mir klar, als ich ihren Betrieb
besichtige. In der Firma Bellaconfex nähen 450 Frauen Unterwäsche – sie wird über
Italien auf den europäischen Markt exportiert. 450 Arbeitsplätze in einer Krisenregion
mit hoher Arbeitslosigkeit, und ein Großauftrag in Aussicht, der weitere Stellen
bringen könnte – die Vorarbeiterin Shira, 44 Jahre alt, zwei Kinder, 300 Euro Lohn im
Monat, hat keine Angst vor der Zukunft:
16 Arbeiterin:
Albanisch…
Autor:
Shira kommt aus einem Bergdorf, die Eltern waren Bauern, als Kind lebte sie mit fünf
Geschwistern in einem Zimmer, klar, dass sie nicht wieder dorthin zurück will. Seit
sie vor acht Jahren nach Skutari zog, hatte sie immer Arbeit und verdiente ihr
eigenes Geld. Anders, sagt Shira, geht es nicht – von einem Lohn allein kann keine
Familie leben.
…Albanisch
Atmo Restaurant
Autor:
Das hört sich gut an, sagt Keti Bazhdari, als wir spät abends zusammen essen – sie
hatte vorher keine Zeit, musste erst noch eine Wahlveranstaltung bei der
Landfrauenvereinigung absolvieren – das hört sich gut an, nach gleichen Chancen
und so weiter, aber so weit sind wir noch nicht in Albanien. Die Frau als Arbeitstier,
als Bürgerin zweiter Klasse gibt es nicht nur auf dem Dorf.
Keti Bazhdari:
Specifico la donna chi appartiene alle famiglie nelle città gli ultimi vent’anni…
Übersetzerin:
Das trifft besonders die Frauen, die in den letzten zwanzig Jahren vom Land in die
Stadt gezogen sind. In den neunziger Jahren hat nur ein Drittel der albanischen
Bevölkerung in der Stadt gelebt, die große Mehrheit auf dem Dorf – heute ist das
Verhältnis umgekehrt! Diese Frauen, die auf der Suche nach Arbeit vom Land in die
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Stadt gekommen sind, müssen tagsüber Geld verdienen und abends Mann und
Kinder versorgen. Sie haben keinen Freiraum, keine Zeit, um Neues zu lernen, mal
ein Buch zu lesen, zu einem Vortrag zu gehen. Um sich klarzumachen, dass ihr
Leben ihnen gehört, und nicht dem Ehemann, dem Sohn oder der Gesellschaft.
…. pensando che la sua vita è sua, non è del marito, del figlio, della società.
Autor:
Keti Bazhdari stammt aus einer der wenigen gebildeten alten Familien von Skutari,
die den Kommunismus überlebt haben. Als die Grenze aufging, studierte sie erst
einmal Mathematik in Rom, anschließend Wirtschaft in Skutari, und vor 12 Jahren
warf sie sich ins Geschäftsleben.
Keti Bazhdari:
Quando noi abbiamo deciso di fare questo business, non c’era diciamo…
Übersetzerin:
Als wir unser Geschäft anfingen, gab uns keine Bank einen Kredit. Mein
Geschäftspartner und ich, wir mussten uns die ersten zehntausend Dollar auf dem
Schwarzmarkt leihen, gegen Wucherzinsen, sechs Prozent im Monat! Die fertig
genähte Ware haben wir selbst mit dem Fahrrad zum Abnehmer gebracht, fünf
Kilometer sind wir sechs Mal am Tag hin und her geradelt. Heute haben wir’s
geschafft. Wir haben unsere eigene Marke etabliert. Und weil der albanische Markt
dafür zu klein ist, gehen wir mit unserer Marke nach Russland. In Moskau haben wir
einen Showroom, und demnächst erwarten wir einen ersten großen Auftrag aus
Russland.
…di avere il primo ordine di lavoro con il nostro marchio a Russia.
Autor:
Aber warum betätigt sich diese erfolgreiche Geschäftsfrau auch noch in der Politik?
Keti Bazhdari:
Avevo sempre l’idea chiara che potevo contribuire in politica…
Übersetzerin:
Ich hatte immer das Ziel vor Augen, in die Politik zu gehen. Aber erst wollte ich
geschäftlich Erfolg haben, wollte als Unternehmerin Geld verdienen. Geld ist für mich
nur Mittel zum Zweck, damit ich als Politikerin sauber und unabhängig bleiben kann.
Das habe ich jetzt erreicht. Erst in der letzten Zeit ist mir klar geworden, wie sehr ich
mit dieser Haltung meinem Vater folge. Der hat schon mit 17 Jahren Widerstand
gegen die kommunistische Diktatur geleistet. 1956 war das, er und seine Freunde
haben Flugblätter gedruckt und sich mit dem Aufstand in Ungarn solidarisiert. Mein
Vater kam dafür in das fürchterliche Gefängnis von Burrel. Aber er sagte immer,
diese Jahre im Gefängnis seien für ihn die beste Universität gewesen. Er hat nämlich
im Gefängnis die intellektuelle Elite Albaniens getroffen und viel von ihnen gelernt.
Heute ist mein Vater politisch ein Christdemokrat, während ich weiter links stehe, ich
sehe mich als Sozialdemokratin. Ich glaube, dass ein armes Land eine linke Politik
braucht. Aber ich sage Ihnen, ein Unternehmen zu führen und gleichzeitig Politik zu
machen – da bleibt keine Zeit mehr für eine Familie. Also bin ich immer noch Single.
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Ich bin oft ziemlich erschöpft, aber bereut habe ich es noch nie. Ich habe ja auch
noch genug Lebenszeit vor mir für andere Dinge.
…perchè mi rimane abbastanza tempo per fare altre cose nella vita.
Autor:
Als wir uns verabschieden, bleibt Neugier bei mir zurück. Wie geht es wohl weiter?
Ich habe jetzt wieder nachgefragt, im Jahr nach den Wahlen. Die hat Ketis
Sozialistische Partei gewonnen. Ihre Firma hat den erhofften Großauftrag an Land
gezogen, 80 neu eingestellte Frauen nähen Innenfutter für Motorradhelme. Gjystinas
Enziantee ist in Italien mit einem Preis ausgezeichnet worden. Und ihre Nichte,
Valerjana, besucht das Internat in Skutari. Eine kleine deutsche High-Tech-Firma
übernimmt die Kosten. Es geht voran in Albanien.
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