Süddeutsche Zeitung

A M WO C H E N E N D E
WWW.SÜDDEUTSCHE.DE
HF1
MÜNCHEN, SAMSTAG/SONNTAG, 2./3. JULI 2016
72. JAHRGANG / 26. WOCHE / NR. 151 / 3,20 EURO
Spiel
des Lebens
FOTOS: SPORT MOMENTS/PASCHERTZ, JÖRG GLÄSCHER/LAIF, DPA; ILLUSTRATION: DIRK SCHMIDT
RÜCKZUG IN DIE ZUKUNFT
Für Joachim Löw und seine
Weltmeister geht es gegen Italien
immer auch darum,
ein Trauma zu überwinden
Sport, Seite 39
(SZ) Zu den scheußlichsten deutschen
Wörtern, die in den vergangenen Jahren
zu hohen Gebrauchsehren gekommen
sind, zählt „Achtsamkeit“. Ein Synästhetiker würde bestimmt feststellen, dass
„Achtsamkeit“ unangenehm riecht, etwa
so wie eine alte Salbe, die man im Hochsommer unter einer lange nicht gewechselten Mullbinde aufträgt. Achtsamkeit
fühlt sich an wie eine unerwünschte Berührung durch verschwitzte Hände, es
klingt wie in die Teekanne hineingehaucht. Wer Achtsamkeit ausübt, organisiert auch Geburtstage für EichhörnchenKinder, klaubt Fliegen aus Spinnennetzen und bringt sein eigenes Handtuch
mit, wenn er auf Besuch kommt. Die Achtsamkeit ist die verklemmte kleine
Schwester der Wachsamkeit. Aber das Gute ist: Die Wachsamkeit findet mehr Anhänger als die Achtsamkeit; in Berlin zum
Beispiel hat der hellsichtige Innensenator Frank Henkel jetzt eine Wachsamkeits-App eingeführt.
In Berlin, das wissen all jene am besten, die nicht in Berlin wohnen, laufen jeden Tag so viele Dinge verkehrt, dass die
Polizei gar nicht mehr weiß, wo sie zuerst
hinfahren soll – in den Prater-Biergarten
oder in die Ankerklause; nein, kleiner, zugegebenermaßen auch billiger Scherz.
Die Polizei hat in Berlin tatsächlich ziemlich viel zu tun; die Bürger hingegen haben nicht ganz so viel zu tun und sollen dafür jetzt bitte mal ein bisschen besser die
Augen aufhalten. Es gibt so viel zu sehen
in Berlin: Menschen, die in Nichtraucherkneipen trotzdem rauchen; Dauerläufer,
die unbekleidet durch den Tiergarten hetzen; nomadisch veranlagte Mieter, die
während ihrer vielen Abwesenheiten ihre
Wohnung untervermieten, obwohl man
das laut Senatsbeschluss seit Frühjahr
nicht mehr darf. Sie alle könnte man als
pfiffiger Berliner von nun an mit einem
Wisch über das Smartphone ans Messer
liefern. Es reicht völlig aus, ein Foto zu
machen, Ort und Zeit sind ja sowieso
immer schon per Algorithmus vermerkt.
Lustig, nicht wahr: Wenn wir mal vergessen haben, wo wir vorgestern gewesen
sind, reicht ein Blick ins digitale Fotoalbum und wir sehen im Handumdrehen,
wo wir uns aufgehalten haben und
können uns selbst direkt beim Ordnungsamt anzeigen.
Jetzt kommen natürlich wieder all die
Bedenkenträger ans Fenster geeilt und rufen, das sei ja wohl eine ganz klare Aufforderung, Mitbürger schwärzestens zu diffamieren. Ihnen sei gesagt: Wenn sie das
noch einmal behaupten, werden sie unbekannterweise fotografiert und wegen Verleumdung angezeigt. Ursprünglich wollte Frank Henkel ja den gesamten Alexanderplatz mit Video überwachen lassen,
weil dort die Bulldogge Lenin den ganzen
Tag lang Skateboard fährt. Aber daraus
wurde nichts. SPD und CDU konnten sich
nicht verständigen, weil die Verständigungs-App im Berliner Abgeordnetenhaus leider nicht funktioniert.
Medien, TV-/Radioprogramm
Forum & Leserbriefe
München · Bayern
Rätsel & Schach
Traueranzeigen
46-48
14
45
63
22,23
61026
4 190655 803203
Die Bundeswehr
sucht ihre neue Rolle
in Krisenzeiten
Buch Zwei, Seite 11
AUA, AUA, AUA
Die Deutschen leben
besser als je zuvor,
doch sie jammern immer
lauter. Werden die Zeiten
härter oder die
Menschen empfindlicher?
Tausende Fahrräder werden
täglich gestohlen – an jedem
hängt das Herz eines Besitzers
Gesellschaft, Seite 49
Panorama, Seite 10
KETTEN-EMOTION
Angezählt
Tödlicher Unfall
mit Autopilot
Weil bei der Bundespräsidentenwahl massiv geschlampt wurde, müssen die Österreicher
erneut zu den Urnen. Ausgerechnet ein FPÖ-Mann rückt schon jetzt an die Staatsspitze
Hersteller Tesla: System war
noch in der Erprobungsphase
von cathrin kahlweit
Die zweite Runde der Bundespräsidentenwahl muss in ganz Österreich wiederholt
werden. Wahrscheinlich schon Ende September werden die Österreicher erneut
zur Stichwahl zwischen den Kandidaten
Alexander Van der Bellen (Die Grünen)
und Norbert Hofer (FPÖ) gebeten. Das Verfassungsgericht hatte am Freitag der
Wahlanfechtung der Freiheitlichen Partei
stattgegeben. Nun ringen Parteien und Betroffene um Fassung. Denn eine Neuauflage des Wahlkampfes droht die politischen
Gräben aufzureißen, die zuletzt – auch
mithilfe eines sachlich und sorgfältig geführten Wahlprüfungsverfahrens – mühsam zugeschüttet worden waren.
Das Urteil der Verfassungsrichter gilt
als international einzigartig: Wahlexperten verweisen darauf, dass wohl nirgends
in der westlichen Welt je eine Präsidentenwahl wiederholt werden musste. Dabei
war es, das betonte auch das Verfassungsgericht, am 22. Mai nicht einmal zu nachweisbaren Manipulationen bei der Auszählung gekommen; diese seien aber
eben auch nicht auszuschließen gewesen.
Und so werteten es die Richter als ihre
Pflicht, dazu beizutragen, das „wahre Fundament einer Demokratie, die Wahl, funktionsfähig“ zu erhalten.
Das Verfahren, das Dutzende von teilweise eklatanten Unregelmäßigkeiten seitens der Behörden bei der Auszählung der
Briefwahl offenlegte, hatte grundlegende
Zweifel am österreichischen Rechtsstaat
gesät. Das Gericht hatte in seiner mehr als
dreiwöchigen Beweisaufnahme so viele
„Verstöße gegen die Grundsätze freier
und geheimer Wahlen“ gefunden, dass es
nach eigener Ansicht gar nicht anders
konnte, als der Wahlanfechtung stattzugeben. Da waren nicht mehr auffindbare
Jetzt zieht Hamburg also endlich ein in
sein teuerstes und spektakulärstes Bauwerk. Eher still übergab der Baukonzern
Hochtief den Musiksaal der Elbphilharmonie an die Hansestadt, fast ein Jahrzehnt nach dem chaotischen Baubeginn.
Nun steht fest, dass es in einem halben
Jahr unter der weißen Deckenhaut tatsächlich losgehen kann. Viele Tausend
Karten sind seit Kurzem verkauft. Im Januar werden unter anderem die Hamburger Philharmoniker mit Kent Nagano in
dem spektakulären Konzerthaus aufspielen, das Chicago Symphony Orchestra mit
Riccardo Muti, die Wiener Philharmoniker oder die Einstürzenden Neubauten.
Die Glasfassade mit ihren 2200 Scheiben sieht man bei jeder Hafenrundfahrt
und auch sonst aus vielen Winkeln; sie
wurde schon im Sommer 2015 fertig. Die
Kräne sind von der Dauerbaustelle am
Platz der Deutschen Einheit verschwunden. Seit diesen neuesten Etappen ist ausgemacht, dass das umstrittene und bewunderte Prachtstück deutlich vor ande-
DIZdigital: Alle
Alle Rechte
Rechte vorbehalten
vorbehalten –- Süddeutsche
Süddeutsche Zeitung
Zeitung GmbH,
GmbH, München
München
DIZdigital:
Jegliche Veröffentlichung
Veröffentlichungund
undnicht-private
nicht-privateNutzung
Nutzungexklusiv
exklusivüber
überwww.sz-content.de
www.sz-content.de
Jegliche
Stimmzettel als ungültig gewertet und
Protokolle gefälscht oder ungelesen unterschrieben worden. Da wurden Wahlbriefe
schon viele Stunden vor der zulässigen
Frist geöffnet oder von Verwaltungsmitarbeitern unbeaufsichtigt ausgewertet. Als
besonders problematisch wertete das Gericht, dass in vielen Fällen die Beisitzer
der Wahlkommissionen nicht bei der Auszählung anwesend waren – und so Stimmen ohne ausreichende demokratische
Kontrolle ausgewertet wurden. „Die genaue Einhaltung der Wahlvorschriften sichert das Vertrauen der Bürger in die Demokratie“, fasste Verfassungsgerichtspräsident Gerhart Holzinger seine Einschätzung zusammen. Aber leider sei in 14 von
20 untersuchten Wahlbezirken massiv ge-
gen jene Bestimmungen verstoßen worden, deren strikte Beachtung für eine Demokratie besonders wichtig seien.
Bereits während der Zeugenvernehmungen hatte in Medien und sozialen
Netzwerken immer wieder das Wort von
der „Bananenrepublik Österreich“ die
Runde gemacht. Schlampereien bei Wahlen seien eher die Regel als die Ausnahme
und auch schon bei früheren Wahlen vorgekommen. Der noch amtierende Präsident, Heinz Fischer, der am kommenden
Freitag verabschiedet wird, versuchte
nun, der Wahlwiederholung etwas Positives abzugewinnen und einem möglichen
Vertrauensverlust der Bürger vorzubeugen: Das Land habe eine Bewährungsprobe bestanden, und er sei stolz darauf, wie
Ergebnis der Stichwahl vom 22. Mai
SZ-Grafik; Fotos: AFP
Alexander Van der Bellen
Norbert Hofer
unabhängiger Kandidat der Grünen
FPÖ
50,3%
Benötigte Mehrheit
2 251 517 Stimmen
49,7 %
Differenz
30 863 2 220 654 Stimmen
Benötigte Mehrheit
Neue Hafenmusik
Schon bald startet in der Hamburger Elbphilharmonie
der Konzertbetrieb. Die Tickets sind begehrt – und teuer
ren Langzeitprojekten wie dem Berliner
Großflughafen fertig wird.
Gefeiert wurde trotzdem noch nicht
und auch kein Schlüssel überreicht, es
wird ja noch ein bisschen gearbeitet. Aber
über dem alten Kaispeicher aus rotem
Backstein dürfen sich die Betreiber ab sofort daheim fühlen. Noch im Juli beginnen die Tests mit Ton, Licht und Bühnentechnik. Im September folgen die ersten
Orchesterproben, für den 31. Oktober ist
die Endabnahme angesetzt. „Wir sind
endgültig auf der Zielgeraden“, sagt der
Generalintendant Christoph Lieben-Seutter, lange der Hüter eines Phantoms.
2007 übernahm der Österreicher die
ehrwürdige Laeiszhalle und die damals
schimärenhafte Elbphilharmonie, deren
Grundstein gerade gelegt worden war. Er
geriet in ein mittlerweile legendäres
Durcheinander. Ursprünglich hatte das
Werk der Schweizer Architekten Herzog
&de Meuron 2009 eingeweiht werden sollen. 2012 einigte sich Hamburgs SPD-Bürgermeister Olaf Scholz dann mit dem unterdessen spanisch dominierten Unternehmen Hochtief, dass der Bau überhaupt fertiggestellt wird. Statt der anfangs kalkulierten 77 Millionen Euro kostet das Opus nun offiziell 789 Millionen
das Verfassungsgericht seine schwierige
Aufgabe gelöst habe. Fischer appellierte
auch „an das Ausland“, in dem zuletzt wenig Schmeichelhaftes über Österreich zu
lesen gewesen sei, seinem Land Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Das Urteil werde „positiv in die Geschichte“ des Landes
eingehen. Bundeskanzler Christian Kern
(SPÖ) schloss sich Fischers Lob für Richter
und Urteil an, mahnte aber auch, dies sei
kein Anlass für „Emotionen“, sondern ein
Beweis dafür, dass der österreichische
Rechtsstaat „hervorragend“ funktioniere.
Eine fast väterliche Mahnung sowie ein
Verbot sprach das Verfassungsgericht
auch noch aus. Beides dürfte sich schon in
der Wiederholung der Stichwahl niederschlagen: Die Beisitzer in den Wahlkommissionen, die zum Auszählen der Stimmen oft nicht erschienen waren, treffe keine Schuld an der Misere; sie hätten „versucht, alles richtig zu machen“. Nur müssten die Freiwilligen in Zukunft gezielt geladen, informiert, geschult werden. Außerdem darf das Innenministerium keine Teilergebnisse aus einzelnen Wahlbezirken
mehr vor Schließung der Wahllokale an
die Medien herausgeben. Diese könnten
durchsickern und Wähler beeinflussen.
Völlig ungewiss ist, ob die FPÖ, die mit
ihrer Klage erfolgreich war, von der Neuauflage der Wahl nun auch profitiert.
Nach der Stichwahl hatte sie massive Zweifel am „System“ geäußert, das ihr den
Sieg nehmen wolle. Nach dem Urteil gab
sich die Parteiführung demütig. Norbert
Hofer dankte dem Gericht für dessen „objektive“ Entscheidung. Hofer ist übrigens
nicht erst nach einem möglichen Wahlsieg im Herbst, sondern schon von kommender Woche an Präsident. Während er
wahlkämpft, vertritt er als einer von drei
Nationalratspräsidenten – kommissarisch – das Staatsoberhaupt.
Seite 4
Euro, also gut zehnmal so viel. Weitere Zuschläge müsste der Baukonzern übernehmen, doch man scheint inzwischen im
Plan zu sein. Der fulminante Start des Kartenvorverkaufs zeige, wie groß die Vorfreude sei, sagt Lieben-Seutter, der im
April das Programm vorgestellt hatte.
Tatsächlich war einiges los, als im Juni
erstmals Tickets angeboten wurden. Käufer standen schon im Morgengrauen
Schlange, online brachen kurz die Server
zusammen. Die Premiere bestreitet am
11. und 12. Januar 2017 das NDR-Elbphilharmonie-Orchester, dirigiert von Thomas Hengelbrock. Wer in den ersten Wochen auf einem der 2150 Plätze sitzen will,
musste ordentlich Geld ausgeben und
Glück haben – für die Eröffnung werden
unter Zehntausenden Interessenten nur
noch ein paar Hundert Restposten verlost. Es soll sich lohnen. Der Japaner Yasuhisa Toyota prüfte den Klang; die Akustik
soll die Elbphilharmonie zu einer der besten Bühnen der Welt machen. Etwas verspätet, aber doch. peter burghardt
New York – Erstmals ist ein Mensch bei
einem Unfall mit seinem halbautomatisch gesteuerten Pkw ums Leben gekommen. Wie der US-Konzern Tesla mitteilte, bemerkte das noch in der Erprobung
befindliche Assistenzsystem „Autopilot“
einen Sattelschlepper nicht, der dem verunglückten Fahrer auf der Bundesstraße
in Florida entgegenkam und nach links
abbiegen wollte. Das Auto raste deshalb
ungebremst unter dem Auflieger hindurch und wurde dabei schwer beschädigt. Womöglich verwechselte der Computer die weiße Plane des Lkw mit dem
Himmel. Allerdings könnte den Autofahrer eine Mitschuld treffen, wenn Berichte
stimmen, dass er vor dem Unfall einen
Film schaute, statt auf den Verkehr zu
achten. Trotzdem kündigten der Autobauer BMW, der Chiphersteller Intel und
der Kameraanbieter Mobileye an, von
2021 an ein selbstfahrendes Auto verkaufen zu wollen. hul
Wirtschaft
77 Milliarden Euro
für Flüchtlingskrise
Berlin – Die Bewältigung der Flüchtlingskrise wird bis 2020 mehr als 77 Milliarden Euro kosten. Allein für kommendes
Jahr plant Finanzminister Wolfgang
Schäuble mit 19 Milliarden Euro, um
Flüchtlinge aufzunehmen, zu integrieren
und Fluchtursachen zu bekämpfen. Das
sieht der Entwurf für den Bundeshaushalt 2017 vor, den das Kabinett am Mittwoch billigen soll. Deutlich aufgestockt
werden Bundespolizei, Bundeskriminalamt und Bundeswehr. gam Seite 6
MIT STELLENMARKT
Dax ▲
Dow ▲
Euro ▲
Xetra 16.30 h
9798 Punkte
N.Y. 16.30 h
17987 Punkte
16.30 h
1,1133 US-$
+ 1,22%
+ 0,32%
+ 0,0029
DAS WETTER
▲
TAGS
27°/ 7°
▼
NACHTS
Verbreitet wechselhaft mit einigen Regenschauern. Zum Teil kann es zu Gewittern
kommen. In den höheren Lagen des Berglandes und an den Küsten kann es starke
bis stürmische Böen geben. Temperaturen von 17 bis 27 Grad.
Seite 14
Süddeutsche Zeitung GmbH,
Hultschiner Straße 8, 81677 München; Telefon 089/2183-0,
Telefax -9777; [email protected]
Anzeigen: Telefon 089/2183-1010 (Immobilien- und
Mietmarkt), 089/2183-1020 (Motormarkt),
089/2183-1030 (Stellenmarkt, weitere Märkte).
Abo-Service: Telefon 089/21 83-80 80, www.sz.de/abo
A, B, F, GR, I, L, NL, SLO, SK: € 3,90;
dkr. 31; £ 3,60; kn 35; SFr. 5,00; czk 115; Ft 1050
Die SZ gibt es als App für Tablet
und Smartphone: sz.de/plus