SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde Ein Königreich der Gambe! Konsorten und Appartissements (5) Von Sabine Weber Sendung: Freitag, 24. Juni 2016 Redaktion: Ulla Zierau 9.05 – 10.00 Uhr Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2 2 „Musikstunde“ mit Sabine Weber Ein Königreich der Gambe! 5. Konsorten und Appartissements SWR 2, 20. – 24. Juni 2016, 9h05 – 10h00 Signet: SWR2 Musikstunde MODERATION Ich bin Sabine Weber. Herzlich Willkommen zum fünften und letzten Teil unserer weitläufigen Reise durch die Reiche der Viola da gamba! Titelmusik MODERATION Heute schließt sich der Kreis. Unser Weg führt über Italien, Deutschland nach England und wieder nach Frankreich zurück. Gestern haben wir im Ursprungsland der Viola da gamba im 15. Jahrhundert Halt gemacht. Aus Arabien wurde das Rabab oder Rebec nach Spanien gebracht. Mit dem Instrument haben die Mauren vor allem Haltung und Spielweise importiert. Dazu beigesteuert hat dann eine Vorform der spanischen Gitarre eine neue Form, den Korpus und Art der Besaitung. Die Vihuela da mano. Und wie die ausgesehen hat, wissen wir von zahlreichen Abbildungen aus Valencia. Sie musste nur mit einem rundem Steg versehen werden. Sodass die darüber laufenden Saiten gestrichen werden konnten. Fertig ist die Vihuela de arco, freilich noch weit entfernt von der siebensaitigen hochbarocken Basse de viole in Frankreich! Ob diese Frühform einen Stimmstock, ob der Resonanzkörper Stützstreben hatte, der Rücken ausgeschnitzt war und vieles andere mehr, weiß man nicht. Kein Instrument ist überliefert. Aber dass sie an die italienischen Renaissancehöfe gelangt ist. Eine unerhörte Geschichte! 5.1 LCSIGNUM SIGD039 Länge: 2'52 Firminius Caron, Helas, que pora advenire, Musica Antiqua of London, Philip Thorby LTG MODERATION 3 Philipp Thorby experimentiert mit Rekonstruktionen von Renaissancegamben. Unter seiner Leitung hat Musica Antiqua of London ein Stück aus dem persönlichen Liederbuch der ersten italienischen Gambenmäzenin eingespielt: Isabella d'Este. Die Markgräfin von Mantua, aus der Familie der Este, Tochter von Ercole d'Este und Leonora von Aragaon. Sie heiratet mit 16 Jahren Francesco II aus der Familie der Gonzaga. Musik hat eine ganz zentrale Rolle in ihrem höfischen Selbstverständnis. Sie baut ihre neue Gonzaga-Heimat Mantua zu einem vorbildlichen kulturell ambitionierten Renaissancehof aus. La prima donna del mondo wird sie bald betitelt! Und sie trägt nicht nur Kopfbedeckungen nach der neuesten Mode! Auch musikalisch spürt sie nach Trends. Und kommt auf die Gambe. 1492 wird der Spanier Rodrigo Borja zum Papst gekrönt! Er reist aus Valencia nach Rom. Und in seinem Gefolge sind Vihuela-de-arco-Spieler. Die streichenden Musiker des italienisierten Borgia-Fürsten – Alexander der VI nennt er sich in Rom – sorgen für Furore! Wo immer sie mit dem Papst hinreisen! Ein Botschafter Isabella d'Estes hört sie in Mailand. „Die spanischen Musiker aus Rom spielen Violen fast so groß wie ich!“, berichtet er 1493 aufgeregt seiner Fürstin. „Und ihr Spiel ist so süß...“ Isabella d'Este, eine ausgebildete Lautenspielerin, bestellt sofort eine Anzahl dieser viole a la spagnola bei ihrem Lautenmacher in Brescia. Bald erklingen sie an ihrem Hof. „Wir haben begonnen, die Viola zu erlernen, und hoffen, damit gut voranzukommen“, berichtet sie in einem Brief. Ihre Vorlieben sind dreistimmige Gambenconsorts, zu denen eine vierte Singstimme ergänzt werden könnte. Oder die als Begleitung zu Gesangstexten komponiert sind. Reichlich dreistimmige Stücke ohne Gesangstexte, sammelt sie jedenfalls in ihrem ganz persönlichen Canzoniere. Und vornehmlich von frankoflämischen Migranten, die zu ihrer Zeit an den italienischen Höfen tonangebend sind. Isabella stellt sich aus deren Chanson-Fundus ihr eigenes Best-off Buch zusammen. Mit Werken von Firminius Caron, Antoine Busnois oder Johannes Ockeghem, den wir in dem folgenden Stück hören. 5.2 LC SIGNUM SIGD039 Länge: 2'58 Johannes Ockeghem, Prenez sur moy vostre example, Claire Wilkinson, Sopran, Musica Antiqua of London, Philip Thorby LTG MODERATION 4 Aus dem Canzionere der prima donna del mondo. So wird Isabella d'Este 1494 erstmals von Bewunderern genannt. (u.a. von Niccolò da Correggio, Hofmann, dichter und Soldat. Ein gewisser Giangiorgio Trissimo 1514 verbreitet ihren Ehrentitel dann in seinen Ritratti schriftlich) Am Hof der Gonzagas in Mantua lässt die Grande Dame der italienischen Renaissance die Gambe heimisch werden, die bald an allen Höfen gespielt wird, die auf sich halten. Etabliert in Italien ist die Viola da gamba bereit zu weiteren Eroberungen. Über Basel Richtung Wien wandern die grossen welschen Geigen – wobei „welsch“ für ausländisch ganz generell oder für italienisch steht. Sie landen in 'teutschen Landen'. Typisch vielleicht, dass sie auch über Umwege einwandern. 1571 bringt zum Beispiel ein Zwischenhändler der Fugger sechs grosse welsche geigen aus London mit. Die Musikerfamilie der Bassanos haben die welschen Geigen ihrerseits an der Themse zu begehrter Ware gemacht. Gründlich wie die Deutschen sind bauen sie die fünf- oder sechssaitige Viola da gamba als Familie aus. Diskantus, Altus, Tenor und Bassus. So sind sie perfekt gerüstet für polyphone Sätze, Kanzonen oder Tänze. Und die Gambenfamilie macht den in Deutschland favorisierten Blasinstrumenten Konkurrenz. Ein Musiker namens Johann Hentzschel erzielt dabei einen außergewöhnlichen Rekord. Seine Canzon mitt 8 viol-digamben verdient Erwähnung. 8 Bassgamben! Das brummt herrlich! 5.3 LC RIC098112 Länge: 4'30 Johann Hentzschel, Canzon mitt 8 viol-digamben, Ricercar Consort, Philippe Pierlot LTG MODERATION Ein bombastisches Miteinander: 8 Bassgamben in Canzonenform gesetzt von Johann Hentzschel. Damit hat er 1649 einen Bassgamben-Rekord erzielt. Und dabei aus dem dunklen, düsteren Timbre geschöpft. Dunkel wird es für die zartbesaitete Gambe. Sie lädt im protestantischen Mitteldeutschland und Norden die Schuld der Welt auf ihre schmalen Schultern! Sie wird das Instrument für christliches Passionieren und Leiden. Ob in Heinrich Schützens Auferstehungshistorie, in den Oratorien von Georg Philipp Telemann oder als obligates Instrument in der Johannes-, Matthäus- oder Markuspassion von Johann Sebastian Bach. Dieser Bach ist allerdings nicht der 5 erste in der Familie, der diesbezüglich auf die Gambe setzt. Ein Cousin seines Vaters namens Johann Christoph Bach legt vor. In einem Lamento lässt Bachs Großonkel die Tränen des zerknirschten Sünders mit Hilfe von drei Gamben hemmungslos fließen. „Ach, daß ich Wassers gnug hätte in meinem Haupte ... und meine Augen Tränenquellen wären!“ 5.4 LC1092555675 PASSACAILLE956 Länge: bis 4'50 Johann Christoph Bach, Ach, dass ich Wassers gn'ug hätte, Patrick van Goethem, Altus, Il Gardellino, Marcel Ponseele LTG MODERATION Der Herr hat den Sünder verlassen … Eine trostlose Situation! Hier musikalisch fühlbar gemacht von Johann Christoph Bach. Das ist ein Cousin von Johann Sebastians Vater gewesen. Oder einfacher: der bedeutendste Musiker vor Johann Sebastian im weitverzweigten Bachclan. Johann Christoph Bach verlangt in seinem Lamento „Ach, dass ich Wassers gn'ug hätte...“ neben der Violine und Continuoinstrumenten drei Viole da gamba. Wir hörten Il Gardellino unter Marcel Ponseele und, Patrick van Goethem, Altus. Die Lage der angesprochenen zerknirschten Sünder ist hart! Es gibt keine Beichte keine Absolution wie bei den Katholiken. Aber: ... was Gott tut, das ist wohlgetan. Davon lassen sich die Protestanten nicht abbringen. Und auch Gambisten nicht. Über diese von Bach auch in seinem Passionen verwendete Choralzeile denkt nach und fantasiert jetzt Gambist. Peter Lambrecht. 5.5 Private Aufnahme Länge: 4' Peter Lambrecht, Choralfantasie über „Was Gott tut, das ist wohlgetan“ Peter Lambrecht, Viola da gamba MODERATION Was Gott tut, das ist wohlgetan, ein Choral aus der protestantischen Gottesdiensttradition. Wir hörten ihn bearbeitet von einem Gambisten. Von Peter Lambrecht, der auch gespielt hat. Lange Zeit ist Peter Lambrecht Solocellist beim Württembergischen Kammerorchester in Heilbronn gewesen und bei den 6 Bergischen Symphonikern. Nebenbei ist er immer auch leidenschaftlicher Gambist. Die Gambe, die sie eben gehört haben, hat er auch selbst gebaut. Die private Aufnahme hat er mir einmal nach einem Konzert in die Hand gedrückt. Und jetzt lassen wir die deutsche Passionswelt hinter uns und reisen nach London. In die fabelhafte Welt der Fancies, Brownings und In Nomines! Fabulous London hat ein in unserem Sendegebiet ansässiges Gambenensemble mit Namen Les Escapades eine CD überschrieben. Und huldigt dem Elisabethanischen Zeitalter. Ein goldenes Zeitalter in der Geschichte der Gambenconsorts und der Tudors. Möglicherweise sind bereits mit der ersten Frau Heinrichs des VIII, Katharina von Aragon, Gambenspieler nach London gereist. 1540 werden sechs Gambenspieler aus Venedig offiziell am Hof registriert. Unter Elizabeth I, der letzten Königin der Tudors, kommen Gambenkonsorts in Fahrt. Pavane, Gaillarde. Aber auch über eine Zeile aus einer Tavener-Messe In nomine oder über Folksongs fantasieren Gambenkomponisten mit Instrumenten in allen Größen. Da werden sogar eigene Gattungen entwickelt. The leaves be green, the nuts be brown, they hang so high they will not come down. Ein eigentlich alberner Text. Aber die dazu gehörende Folkmelodie hat es in sich. Browning wird sie abgekürzt. Eigentlich ist sie auch sehr simpel. Aber mit größtem Einfallsreichtum verarbeiten sie Consortkomponisten immer wieder aufs Neue. Die Melodie landet sogar auf dem Schreibtisch des berühmten William Byrd. Der virtuose Orgel- und Virginalspieler, der riesige lateinische Messwerke vertont, lässt sich herab, für die Violenzunft zu schreiben. Aber entwirft etwas richtig Vertracktes. Byrd lässt abwechselnd fünf Stimmen den Melodiefaden durch ein immer dichteres Stimmgeflecht ziehen. 21 Mal erklingt die Melodie. An dem Achtelauftakt und der punktierten ersten Note gut zu erkennen. Zuerst ist sie im Bass zu hören. Zum Schluss drohen wilde Triolen den Faden zu zerreißen. „A most excellent piece!“ - nicken die Zeitgenossen. Browning von William Byrd hier mit Les escapades. 5.6 LC00612 CHR 77369 Länge: 4'19 William Byrd, Browning zu fünf Stimmen (1577), Les escapades MODERATION Les escapades mit: Browning von William Byrd aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. 7 Hat die jungfräuliche Queen Elizabeth I eher das Virginal traktiert, so übt ihr Nachfolger King Charles fleißig Gambe. Unter der Aufsicht von John Cooper, der sich „chic“ italienisiert und Coperario nennt. Aber nicht nur Italiener haben hier das Sagen. Auch ein William Lawes komponiert für das private sanctuarium. Für die privaten Gemächer. Bis 1642 der Civil War ausbricht, der dem König und so manchem katholischen Königstreuen wie Lawes den Kopf kostet. Aber noch begleiten die Violinen fröhlich Bankette und übertönen Gelage, während Lawes finest consorts sogar mit Orgelbegleitung für private Ohren erklingen. Die Truhenorgel gehört zur Ausstattung des Königs Privy Apartements. Lawes bringt seinen König zum Träumen mit Orgel, Gambe und Fantasien wie der folgenden. 2 Bassgamben beginnen entspannt wie im Gespräch. Später dann werden heiße chromatische Linien in das tönende Ganze hinein gesponnen. Der Gambist Lary Dreyfuss hat im CD-Booklet einen kleinen Roman über die musikalische Entwicklung in dieser Fantasie entworfen. Hier die Musik mit seinem Ensemble. Nomen est omen: Phantasm! 5.7 LC11615 CKD399 Länge: 2'38 William Lawes, Fantazia Nr. 2 à 5, Phantasm, Lary Dreyfus LTG MODERATION Die Fantasie in a-moll aus den Orgel-Consorts von William Lawes mit Phantasm unter der Leitung von Lary Dreyfus. Englische Consortmusik könnte locker eine komplette Musikstundenwoche füllen. Aber der Civil War treibt uns aus London hinaus. Charles I verliert 1649 sogar seinen Kopf. Der Sohn flieht ins Exil – und kommt … am französischen Hof bei Ludwig XIV an! Jean-Baptiste Lully ist bereits dabei, in Paris eine neue musikalische Ära einzuläuten. Und mit seinem berühmtesten Schüler, dem Gambisten Marin Marais, haben wir diese Woche begonnen. Ende Mai vor genau 360 Jahren ist der größte Gambist aller Zeiten als Sohn eines Schuhmachers zur Welt gekommen. Als Gambist groß aufgestiegen. Nicht nur als exzellenter Virtuose, der das Gambenspiel zur Perfektion gebracht hat. Mit annähernd 600 Gambenpiecen in 5 Büchern hat er der Gambenwelt einen unglaublichen Schatz hinterlassen. Dazu kommen vier Opern und: der erste Band mit Triostücken für zwei Diskantstimmen und Bass, die in Frankreich je geschrieben worden sind! Damit tritt Marais den Beweis an, dass die aller Orten in Mode kommende 8 italienische Triosonate – für zwei Geigen natürlich – auch auf französische Art geht. Die beiden Oberstimmen werden natürlich mit Diskantgamben besetzt. Könnten aber auch mit Flöten besetzt werden. Geigen wären auch möglich. Da ist Marais großzügig. Die Pièces en trio von 1692 liefern uns das swr2 Musikstunden-Wochenfinale. Jetzt spielen natürlich zwei Diskantgambisten, Philippe Pierlot und Sophie Watillon, begleitet von weiteren Musikern des Ricercar-Consorts. Aus der 6. Suite in c-moll: Prélude, Fantaisie und La Désolée ou Passacaille lente. 5.8.1/2/3 LC 088513514 RICERCAR RIC298 Länge: 2'00; 1'12; 7'01 Marin Marais, Prélude, Fantaisie, La Désolée ou Passacaille lente aus der Suite VI in c-moll Ricercar Consort, Philippe Pierlot, LTG MODERATION Prélude, Fantaisie und La Désolée ou Passacaille lente aus der 6. Suite in c-moll für zwei Diskantgamben und B.c. Von Marin Marais. Wir hörten das Ricercar Consort unter Philippe Pierlot, das noch weitere Diskant-Instrumente wie Traversund Blockflöten und im Continuo Theorbe und Cembalo eingesetzt hat. Wie das der Komponist im Vorwort auch vorgeschlagen hat. Natürlich wollte Marais diese 1692 gedruckte Musik an viele Liebhaber verkaufen und von vielen Liebhabern gespielt wissen. Aber sicherlich hat er sie auch im Dienst als offizieller Musiker für die Königliche Kammer eingesetzt. Hat doch schon sein Lehrer und Förderer Jean-Baptiste Lully Pour le coucher du Roi komponiert. Diese Trios könnten also ebenfalls bei der Abend-Audienz des Königs erklungen sein. Mit der Passacaille Die Untröstliche ist unsere SWR2 Musikstundenaudienz beendet. Ich hoffe, Sie verlassen uns nicht untröstlich. Immerhin können Sie eine Woche lang diese und vergangene Sendungen nachhören. Im Netz auf unserer Seite finden sie entsprechende links. Und hier noch der Beweis, dass Gamben auch Filmmusik aufgreifen können. Guido Ponzini begleitet von Harfenistin Myriam Farina mit Musik aus die wunderbare Welt der Amelie! 5.9 LC 15442 ACTE PRÉALABLE APO 254 Länge: 2'18 Yann Tiersen, Comptine d'un autre été, Myriam Farina, Guido Ponzini, Viola da gamba (CD Almost in the Air, Antichi strumenti, nuovi suoni)
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