SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde Ein Königreich der Gambe! Bogenklänge zwischen Orient und Okzident (4) Von Sabine Weber Sendung: Donnerstag, 23. Juni 2016 Redaktion: Ulla Zierau 9.05 – 10.00 Uhr Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2 2 „Musikstunde“ mit Sabine Weber Ein Königreich der Gambe! 4. Bogenklänge zwischen Orient und Okzident SWR 2, 20. – 24. Juni 2016, 9h05 – 10h00 Signet: SWR2 Musikstunde MODERATION Je nach Sitten und Gebräuchen anders klingend, anders ausgestattet bis hin zu Camouflage. Die Viola da gamba und ihre vielen Erscheinungsformen beschäftigen uns heute. Ich bin Sabine Weber. Herzlich Willkommen! Titelmusik MODERATION „Ihre Stimme sei die eines Botschafters“, behauptet ein gewisser Hubert le Blanc 1740, „ein wenig nasal und äußerst vornehm“. Verfolgt man ihre Spuren, die von Arabien bis nach Europa führen, ihren verschlungenen ‚Eurokurs’ durch Spanien, Italien, Deutschland, England bis nach Frankreich, dann fällt es wie Schuppen von den Augen: das ist das Itinerar einer Diplomatin! Und wie sich das für eine noble Aristokratin im Dienste ihrer Sache gehört, passt sie sich den jeweiligen Gewohnheiten und Moden des Gastgeberlandes an: mal ist es der mondäne Hut mit Pferdekopf, dann wieder der mit rankendem Weinlaub und pausbäckigem Bacchus’, mal ist es die nach unten trapezförmig auslaufende Kastenrockform, die elfenbeinerne Bordüre, oder die mit äußerster Diskretion, aber souverän zur Schau gestellte und im Trend liegende Körperbemalung oder Tätowierung: das Blumenbouquet oder symmetrische Rautenmuster. Als Georg Philipp Telemann an seiner Konzertsuite in D-dur schreibt, denkt er nicht nur an ihren diskreten Charme, sondern auch an brillante Eloquenz. Als Kenner und Vertreter des sogenannten „vermischten Geschmackes“, zu seiner Zeit Anfang des 18. Jahrhunderts eine wichtige Strömung im musikalischen Nationengeschäft. Und natürlich offeriert er ihr auch neue Klanganreize: im Tutti kollaboriert sie nicht etwa mit den Bässen – oh nein! Das Protokoll führt sie parallel in der Unteroktave zu den Violinen. Alles weitere erzählt sich wie von selbst. In unserer heutigen Ouvertüre mit der Camerata Köln. 3 4.1 LC00761 HMF 1998 05472773242 Länge: 4'26 Georg Philipp Telemann, Ouvertüre aus der Suite D-dur TWV55:d6, Rainer Zipperling, Viola da gamba, Camerata Köln, Michael Schneider LTG MODERATION Die Camerata Köln unter Michael Schneider mit der Ouvertüre aus der Suite in Ddur für konzertierende Viola da gamba (Telemannwerkverzeichnis 55:d6). Der Solist war Rainer Zipperling. Deutlich heraus zu hören ist die Viola da gamba allerdings nur im schnellen Mittelteil gewesen. Ansonsten hat sie sich in’s Tutti der Violinen gemischt, nur eine Oktav tiefer. Etwas ungewöhnlich. Sie ist ja eigentlich ein Tenor-Bassinstrument. Der Reiz des Besonderen, das sich jeder Einordnung entzieht, ist eines ihrer untrüglichen Markenzeichen. Das trifft für die westeuropäischen Bass-Tenor- und die kleine Sopran- oder Diskantgambe zu. Aber vor allem lässt sich das an den Vertreterinnen der international weitverzweigten Familie der sogenannten „Kniegeigen“ beobachten. Und dem ersten europäischen Auftritt einer Kniegeige, einem in senkrechter Haltung gestrichenen und auf dem Schoß oder mit den Beinen zwischen den Knien gehaltenen Instrument, geht eine aufregende Geschichte voraus: Familienkriege zwischen den Herrscherhäusern in Damaskus führen dazu, dass Araber bis nach Cordoba auswandern. Im südlichen Zipfel Spaniens errichteten sie sich ein neues Reich. Im 10 Jahrhundert bringen sie ein unscheinbares Streichinstrument ins Spiel. Rabab oder Rebec wird es genannt. Das Staunen darüber WIE es zum Klingen gebracht wird ist aber dann doch groß: die Saiten des Instruments werden gestrichen! Auf die Idee ist man im Westen, in Europa bis Dato noch nicht gekommen. Lernfähig, wie die Europäer nun mal sind, wird das Streichen übernommen. Und wird mit dem doch dürftigen Klangkörper in Birnen, Acht- oder Flaschenform experimentiert. Anfang des 16. Jahrhunderts ist die ‚Kniegeige’ nicht mehr wiederzuerkennen! Statt der zwei oder drei besitzt sie 6 Saiten. Ihr Körpermaß ist fast auf Cellogröße angewachsen. So wird sie von Spanien nach Italien weitergereicht und reist von dort mit dem Stempel „welsche Geyge“ im Reisepass nach Deutschland und England, um schließlich als formvollendete Musikinstrumentenschönheit, als Basse de viole in Frankreich großartigeTrumpfe zu feiern. Mit siebenter Saite! „Diß Instrument, Basse de Viole, wird in Franckreich sonderlich hoch gehalten und sehr excolirt.....“, bemerkt Johann Mattheson 1713 in seiner Abhandlung über Das Neueröffnete Orchester (O.282). In Deutschland wird zu Protokoll gegeben, was die Basse de viole 4 musikalisch erreicht. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn der deutsche Georg Philipp Telemann der angeblich so sanften und intimen Stimme der Viola da gamba aufträgt, eine Trompete zu imitieren. La Trompette, so der Titel des zweiten Satzes aus der bereits eben erklungenen Suite für Streicherbesetzung und konzertierende Viola da gamba. 4.2 WDR Eigenproduktion Länge: 2'06 Georg Philipp Telemann, La Trompette aus der Suite D-dur TWV55:D6, Sarah Cunningham, Orchestra of the Age of Enlightenment, Monica Huggett LTG MODERATION La Trompette aus der Suite D-dur für Viola da gamba, 2 Violinen, Viola, Violoncello und Generalbass. Das Orchestra of the Age of Enlightenment unter Monica Huggett hat Sarah Cunningham begleitet. Die Gambe hat hat nichts mit den Geigeninstrumenten zu tun. Sie hat spitz zulaufende und nicht über den Rand überstehende Zargen – Zargen sind die Seitenteile. Sie besitzt in der Regel einen flachen Rücken, der bei den europäischen Violininstrumenten wie Violine, Bratsche und Cello gewölbt ist. Und hat mindestens sechs oder sieben Saiten. Schnitzereien und Verzierungen am Wirbelkasten, auf dem Griffbrett oder Korpus fallen sofort ins Auge. Gestrichen wird sie mit dem Bogen, der allerdings wie ein Löffel, im sogenannten Unterhandgriff geführt wird. Vielleicht haben Sie sich schon einmal gefragt, warum Kontrabassisten in unseren Orchestern den Bogen löffelartig - von unten und nicht von oben wie die benachbarten Streicher - führen. Sie streichen ja auch eine Bassviole! Der Kontrabass ist der einzige Vertreter der Kniegeigen, der in die Orchesterfamilie adoptiert wurde. Ansonsten bevorzugen die kleineren Gambeninstrumente auch eher den kammermusikalischen oder solistischen Auftritt. Jordi Savall nimmt es jetzt mit mehreren Dudelsäcken auf der Gambe auf, beziehungsweise er ahmt die schnarrenden und lärmenden Instrumente auf der Gambe nach. Auch wie der Spieler erst einmal Luft in seinen Sack arbeitet. Diese gambistische Dudelsack-Nummer findet sich in einem nach seinem Aufbewahrungsort Manchester-Tabulatur genannten Manuskript. Mitte des 17. Jahrhunderts ist es entstanden. 5 4.3 Unbekannt ALIAVOX AV9803 Länge: 5'53 The Lancashire Pipes, Jordi Saval, Viola da gamba MODERATION Beim Imitieren von Dudelsäcken kommt die Gambendame auf Hochtouren! Lancashire Pipes - Dudelsäcke aus Lancashire. So heißt dieses, in einem englischen Manuskript anonym überlieferte Stück, für das Jordi Savall einige Saiten skordiert, heißt umgestimmt hat. Die Saiten der Gambe sind in der Regel in Quarten und einem Terzabstand gestimmt. Eine verstimbte Violdigamba ist aber nichts ungewöhnliches. In England kennt man bis zu 52 verschiedene Verstimmungen! Und Lyra-viol nennt man eine Gambe, die so konstruiert ist, dass man nicht nur die Seiten leicht umstimmen, sondern auch Akkorde einfacher greifen und die Saiten gleichzeitig streichen kann. 4.4 LC XXX GLOSSA 920403 Länge: 2'10 William Corkine, The Punckes Delight, Paolo Pandolfo, Viola da gamba MODERATION Paolo Pandolfo mit The Punckes Delight von William Corkine, einem englischen Komponisten des 17. Jahrhunderts. Bei Puncke handelt es sich laut englischem Großlexikon um eine Art Kaspar, womit der Titel dieses Stückes mit Kaspars Ergötzung oder Unterhaltung zu übersetzen wäre. Ergötzend ist, dass auf der Viola da gamba viele Obertöne mitschwingen können. Jeder einzelne Ton ist ein Klang. Damit die fleischige Fingerkuppe beim Abgreifen der Töne die Schwingungen der Darmsaite nicht dämpft, werden noch heute auf dem Griffbrett Bünde geknüpft. Setzt der Finger exakt hinter dem Bund auf, dann schwingt die Saite silbrig und hell wie eine leere Saite. Mitschwingende Resonanzsaiten sind faszinierend. In Süddeutschland entsteht nur aus diesem Grund der Baryton. Bei diesem Gambeninstrument sind auf der rechten Korpusdecke zusätzliche Metallsaiten gespannt. Auch auf der hinteren Seite des Griffbretts werden Saiten gespannt, die der Daumen der linken Hand sogar zupfen kann. So viele Saiten wollen erst einmal befestigt sein. Eine riesige Doppelschnecke, damit die Wirbel von all den Saiten Platz finden, ein breites Griffbrett und plumpe Körpermaße sind die Konsequenz. Die Instrumentenbauer überspielen die Gewichtsprobleme mit Schnitzereien und Intarsienarbeit. Die wohl bekanntesten Werke für den Baryton komponiert Joseph Haydn, die 6 sogenannten Baryton-Trios. Hier ein Satz aus dem Trio Nr 47 in G-dur Hobokenverzeichnis 11 für die Besetzung Violoncello, Viola und Baryton. Den Baryton spielt Alfred Lessing. 4.5 WDR Eigenproduktion Länge: 5'25 Joseph Haydn, Adagio aus Trio Nr. 47 G-dur Hob XI:47 für Baryton, Viola und Violoncello Baryton-Trio Lessing, Wolfgang Lessing, Baryton MODERATION Das Baryton-Trio Lessing mit dem ersten Satz aus dem Trio Nr. 47 in G-dur Hobokenverzeichnis 11 von Joseph Haydn. Resonanzsaiten, wie die des Barytoninstruments, das im übrigen wie eine Gambe gespielt wird, schwingen nicht erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Michael Praetorius berichtet bereits 1619 über dererlei klangtechnische Experimente: „jetzo ist in Engelland noch etwas sonderbares... erfunden/ dass unter den rechten gemeinen sechs Saitten/ noch acht andere Stälene und gedrehte Messings-Saitten....liegen...und ...per consensum zugleich mit zittern und tremulieren...“ (Wolfenbüttel 1619;O.58). Dem hat der Musikethnologe Curt Sachs 1914 eine abenteuerliche Hypothese hinzu gefügt. Die laut Praetorius englische Erfindung sei nämlich aus Asien exportiert worden. Durch den schon im 17. Jahrhundert expandierenden englischen Welthandel sei sie im Mutterland bekannt geworden. Blicken wir also in den Osten, in Richtung arabische Welt. In Pakistan, im nordwestindischen Rajastan und in Südafghanistan ist noch heute eine mit mehreren mitschwingenden Resonanzsaiten versehene Knie- besser Schoßgeige oder Gambe in Gebrauch: die Sarinda. Das aus einem Stück Holz geschnitzte zierliche Instrument besitzt eine, den oberen und unteren Korpusteil trennende schmale Taille. Der untere Korpusteil ist mit einer Tierhaut abgedeckt. Darüber ein Steg und viele Saiten. Das Griffbrett mündet in einen Wirbelkasten, der in einem nach hinten geschwungenen Halbmond endet, oftmals verziert mit Vogelschnitzereien. Die Saiten sind alle aus Metall aber nur zwei oder drei werden mit dem Bogen bespielt. Zum Abgreifen verschiedener Töne werden die Saiten nicht etwa mit den Fingerkuppen, sondern mit den Fingernägel seitlich leicht berührt. Ein Flageolett-Tönen ähnlicher, obertonreicher, heller Klang entsteht, wenn der Bogen streicht. Die Sarinda wird im orientalischen Schneidersitz gespielt. 7 4.6 LC6759 WORLDNETWORK Länge: 2’43 Sarindasolo, Abdul Rashid, Sarinda, Ghol Alam, Dhol MODERATION Der Afghane Abdul Rashid auf der Sarinda. Das ist eine asiatische Gambe, die in Südafghanistan gespielt wird. Begleitet hat Ghol Alam auf der Dhol. Mögen ihrer beider Instrumente derzeit musikfreundliche Zeiten erfahren. Musik ist Hoffnung für die Zukunft, so hat sich das Mistislaw Rostropówitsch in einem seiner letzten Interviews gewünscht: „Schönheit bewegt und bezwingt jeden Menschen. In Afghanistan müssen die Musiker sofort nach dem Krieg tausend Musikschulen gründen, damit die Kinder mit Streicherbögen statt mit Waffen spielen lernen.“ Wir hoffen, dass sein Wunschtraum wenigstens zum Teil inzwischen wahr geworden ist ... … und brechen auf in die mongolische Steppe. 4.7.1 LC 08648 JARO4236-2 Länge: 6'01 Chiraa-Khoo, Huun-Huur-Tu MODERATION Naturhafte Geräusche schwingen in der Musik der Tuva immer mit. Pfeiflaute, Vogelgeräusche, das Traben von Pferden oder Kamelen. Die Steppe in der nördlichen Mongolei oder im südlichsten Teil Sibiriens ist weit. Auf der Hochebene des Altaigebirges wohnen die Stammesangehörigen der Tuva. Huun-Huur-Tu heißt eine Gruppe von tuvinischen Musikern, die sich, weil inzwischen in der ganzen Welt auf Tournee, als Musiknomaden bezeichnen. Bekannt sind sie durch ihren Kehlkopfgesang. Uns interessieren aber ihre Kniegeigen: 4.7.2 LC08648 JARO4236-2 Länge: 5'52 Fantasy on the Igil, Huun-Huur-Tu 4.7.3 LC08072 FACE MUSIC FM50026 Länge: 2'07 Morin Khuur, Ensemble Temuzhin 8 MODERATION Das kleinere Instrument besitzt einen trommelartigen Klangkörper, steht auf dem Oberschenkel wenn es gespielt wird und heißt [I'gihl] Igil. Das größere mit trapezförmigem Klangkörper wird zwischen den Knien gehalten und heißt Morin Khuur. Die Morin Khuur ist das Nationalinstrument der Mongolen auf welchem traditionell Nomaden gespielt haben. Der Wirbelkasten oberhalb des Griffbrettes ist von einem Pferdekopf geziert. Die Pferdekopfgambe wurde früher auf dem Boden sitzend gestrichen. In den Jurten standen ja keine Stühle. Inzwischen sitzen die Spieler auf einem Stuhl, wenn sie die beiden in Quartabstand gestimmten Saiten des Instruments streichen. Dabei wird der trapezförmige Korpus wie eine Gambe auf den Waden gehalten. Der Steg ist sehr hoch. Die Saiten bestehen aus einem Bündel von Pferdehaaren und liegen extrem weit über dem schlanken Griffbrett. Zum Abgreifen der Töne werden die ‚Pferdehaarsaiten’ mit den Fingern der linken Hand nicht aufs Griffbrett gedrückt, sondern nur leicht berührt. Die Saiten werden mit einem Bogen gestrichen, der ebenfalls mit Pferdehaaren bezogen ist. Es ist ein Begleitinstrument für den Sänger. Da gibt es eine Legende. Ein Mann hatte ein Pferd, das fliegen konnte. Und er flog mit diesem Pferd zu seiner Geliebten. Eines Tages erfahren die Nachbarn von dem Pferd. Sie werden neidisch. Und schneiden dem Pferd die Flügel ab. Als der Mann heraus kommt, ist sein Pferd schon tot. Er trauert und nimmt von seinem Pferd die Haare, bastelt ein Musikinstrument und spielt auf den Pferdhaaren. So kann er in seinem Inneren seine Geliebte wieder besuchen und spielen, wie er zu ihr reitet … Bogenklänge aus dem Orient. Ein kleiner Ausflug in die entfernten Welten gestrichener Kniegeigen. Orient und Okzident sind nicht zu trennen. Diese Vision hat ein Johann Wolfgang von Goethe formuliert. Das gilt sicherlich für unser heutiges Thema. Denn das Streichen eines senkrecht gehaltenen Instruments, das auf dem Schoß (im Schneidersitz) oder auf den Beinen gehalten wird ist, so Ian Woodfield in seinem Buch über die Frühgeschichte der Viola da gamba, eine orientalische Praxis. Als sie im Westen im 10. Jahrhundert aufkommt, wird sie auch für eine solche angesehen. Vielleicht wären die Europäer allein aufs Streichen gekommen! Ohne die Araber hätte sich diese Entdeckung wahrscheinlich nur um einige Jahrhunderte verzögert. Apropos Orient – Okzident von woher stammt die folgende Musik? 9 4.8 LC07038 CHANDOS 9320 Länge: 6’45 Istanpitta Ghaetta, The Dufay Collective MODERATION Eine melodisch bestimmte Musik, in welcher sich alle beteiligten Instrumente im Unisono wiederfinden, von Bordunklängen oder von parallel geführten Quarten und Quinten abgesehen. Das klingt verdächtig nach homophoner arabischer Musik. Ist aber mittelalterliche Tanzmusik aus dem 13. Jahrhundert. Und kommt aus Nordfrankreich (im Manuscrit du Roi). Rekonstruiert vom Dufay-Collective. Diese Musik wird nur in rudimentären Neumen aufnotiert. Aus dieser Zeit gibt es Lieder der Trouvèrs und Tänze, Estampies genannt. Estampies sind untextierte Instrumentalstücke. Im 14. Jahrhundert tauchen sie dann auch in Italien auf. So die Istanpitta Ghaetta, die wir gerade gehört haben. Zum Einsatz kamen neben Laute und Harfen: Vieilles und Rebecs oder Rababs. Gestrichene Kniegeigen also, die als Vorläufer der Viola da gamba gelten. Keine dieser frühen Kniegeigen aus dieser Zeit ist erhalten. Man muss sich mit ihrer Darstellung auf Bildern begnügen. Die erste Abbildung einer Rebec oder Rabab findet sich in einem mozarabischen spanischen Manuskript aus dem 10. Jahrhundert (Woodfield 9). Das Rabab ist noch heute die Bezeichnung für ein ganzes Arsenal orientalischer Instrumente, darunter auch gezupfte Instrumente. Dass dieselbe Bezeichnung für unterschiedlichste mittelalterliche Kniegeigen damals auftaucht ist und bleibt verwirrend. Ob Birnen, Achtform oder Flaschenform, nach 1300 sind alle Rabab-Instrumente verschwunden. Bis heute hat die Forschung nicht herausfinden können, warum. Vielleicht, weil ihr Ton dem europäischen Ohr auf Dauer einfach zu dünn war. Die Musikwelt atmet also erleichtert auf, als endlich die neuen Instrumente auftauchen, die man mit weit schöneren Klangergebnissen ‚streiche(l)n’ kann. Viola, Vièle, Viella, Vihuela oder Fidel heißen sie. Instrumente, deren Namen ebenfalls bis heute resistent gegen alle etymologischen Erklärungsversuche geblieben sind. Von der Rabab und Konsorten hatte man gelernt sie zu streichen. Die Vihuela de arco – die Laute MIT Bogen wandert von Spanien weiter nach Italien. Und das ist vielleicht noch erwähnenswert, genau in dem Moment kommt sie in Italien an, als die katholischen Majestäten Isabella und Ferdinand die Mauren und die Juden des Landes verweisen, 1492! 10 4.9.1 LC00761 DHM0547277502 Länge: 4'00 Diego Ortiz, Doulce Memoire, Hille Perl und ein Gambenconsort MODERATION Ein Gambenconsort unter der Leitung von Hille Perl mit Doulce memoire. Eine vierstimmige Chanson von Pierre Sandrin. Mit kunstvoll verzierter Oberstimme vom Spanier Diego Oritz. Beispiele für eine solche verzierende Bearbeitung, nebst weiteren Anweisungen zur Erlernung gambistischer Künste, vor allem der Improvisation, veröffentlich er in einem Traktat, 1553 in Rom. (Tratados de glosas y clausulae). Die Viola da gamba ist in Italien angekommen. Die Geschichte der Kniegeigen ist noch lange nicht zu Ende erzählt - einige Kniegeigen, die nordafrikanischen oder die japanischen haben wir gar nicht erwähnt. Das Ende der heutigen SWR2 Musikstunde ist unweigerlich gekommen. Wir sind immerhin beim Consort angelangt. Und darum geht es unter anderem morgen in der letzten Folge über die Viola da gamba. Und wir kommen auch nach Deutschland und England! Und hoffen dann den Kreis nach Frankreich wo wir Montag angefangen haben, zu schließen. Für heute habe ich noch einen kleinen Rausschmeißer von Diego Ortiz von Hille Perl serviert. Einen schönen Tag mit SWR2 und bis morgen! Ihre ss 4.9.2 LC00761 DHM0547277502 Länge: 1'19 Diego Ortiz, Recercada sopre tenore, Hille Perl, Viola da gamba
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