Bundeskanzler Werner Faymann: Sehr verehrte Frau Präsidentin

Nationalrat, XXV. GP
16. März 2016
117. Sitzung / 1
10.46
Bundeskanzler Werner Faymann: Sehr verehrte Frau Präsidentin! Herr Vizekanzler!
Mitglieder der Bundesregierung! Sehr verehrte Abgeordnete! Sehr verehrte Damen und
Herren! Im Europäischen Rat sind zwei Fragen zu diskutieren, wo ich überzeugt bin, es
ist notwendig und richtig, hier auch über die nötige Information und Abstimmung zu
diskutieren. Es wird die grundsätzliche Frage noch einmal zu erörtern sein: Was
können wir als Europäische Union vor Ort unternehmen – da sind ja die Möglichkeiten
nicht unbegrenzt –, um den Fluchtgrund zu beseitigen? (Abg. Kickl stellt einen
Wetterhahn, eine Seite rot, eine Seite schwarz gefärbt, auf seine Abgeordnetenbank
und dreht ihn hin und her.)
Man darf niemals übersehen, wenn ein Fluchtgrund darin besteht, dass jemand
versucht, sich vor einem Krieg, vor Bomben in Sicherheit zu bringen, dass keine
Flüchtlingspolitik der Welt gut genug sein kann, das menschliche Elend zu beseitigen
oder den Krieg zu beenden. Es können nur die ...
Präsidentin Doris Bures: Entschuldigen Sie kurz, Herr Bundeskanzler!
Herr Abgeordneter Kickl, ich glaube, alle haben das gesehen. Ich würde Sie ersuchen,
das wieder wegzuräumen. (Abg. Kickl: Extra für den Kanzler mitgebracht!)
Herr Bundeskanzler, Sie können mit Ihren Ausführungen fortsetzen.
Bundeskanzler Werner Faymann (fortsetzend): Die Fluchtgründe zu beseitigen, ist
für die Europäische Union alleine natürlich nicht möglich. Sie kann nur Beiträge liefern,
sei es für Friedensverhandlungen oder in der Antiterrorbekämpfung. Sie kann das, was
in London an enormen Beträgen, an Unterstützung für UNHCR vereinbart wurde,
versuchen, auf den Boden zu bringen, denn zwischen den politischen Zusagen, die
insgesamt Milliarden ausmachen, über 11 Milliarden, die an diesem Tag für die
Unterstützung von UNHCR zugesagt wurden, und der Realität, wie viel morgen im
Lager im Libanon eintrifft, wie viel in Jordanien eintrifft, wie viel an
Verbesserungsmöglichkeiten es in der Türkei gibt, ist ja bekanntlich auch noch ein
Unterschied.
Also die Europäische Union hat auch hier Aufgaben, die besonders wichtig sind.
Beschäftigen wir uns aber mit der Frage: Was machen wir mit jenen Menschen, die
sich zum Ziel gesetzt haben, in die Europäische Union zu kommen? Und da muss man
erst einmal teilen in jene, die ein Asylrecht haben, und in jene, die keines haben. Jene,
die keines haben, sollten möglichst schon außerhalb der Europäischen Union, natürlich
nur mit Zustimmung dieser Länder, erfahren, dass sie keine Möglichkeit haben und
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davon abgehalten werden, in die Europäische Union zu kommen. Spätestens an der
Außengrenze, bei den sogenannten Hotspots, ist nicht nur die Registrierung mit dem
Fingerprint notwendig, denn das bringt ja nur, dass man weiß, wer es ist, sondern
wären diese Rückführungsabkommen, die von der Europäischen Union verhandelt
werden, so wichtig und entscheidend.
Dann geht es darum, jene Menschen – und das gilt natürlich auch nicht in
unbegrenzter Zahl –, die ein Asylrecht haben, zu verteilen, und da kann Österreich
durchaus als Vorbild genommen werden. 37 500 ist eine Zahl, die, unsere
Bevölkerungszahl umgerechnet auf die Europäische Union, zwei Millionen Menschen,
die ein Asylrecht haben, die Chance auf ein faires Verfahren und Schutz bringen
würde.
Selbst wenn man die Zahl etwas geringer sieht, weil man sagt, nicht alle Länder haben
die wirtschaftliche Kraft Österreichs, geht es hier doch um eine gewaltige mögliche
Leistung, wenn man sich am österreichischen Beispiel alleine von heuer orientiert.
Wenn man sich das Beispiel vom Vorjahr ansieht, in dem Österreich 90 000 Menschen
aufgenommen hat, wenn man sich die Beispiele ansieht, wo wir ebenfalls Spitzenreiter
sind, beim Resettlement, in der Übernahme von Menschen, dann kann Österreich mit
Fug und Recht sagen, wir haben moralisch, politisch das geleistet, was von uns zu
erwarten ist, wenn eine Not ausbricht und jeder einen Beitrag zur Hilfe leisten muss.
Österreich hat die Ärmel aufgekrempelt, viele Ehrenamtliche, aber vor allem auch die
Bevölkerung, die akzeptiert hat – das wurde auch politisch heftig diskutiert –, dass hier
zu helfen ist. Österreich ist ein Land, das bei Ungarn geholfen hat. Österreich ist ein
Land, das bei Jugoslawien geholfen hat. Österreich ist ein Land, das im Vorjahr
90 000 Menschen die Möglichkeit eines Asylantrags gegeben hat, und wir haben für
heuer, Bund, Länder, Gemeinden, die Zahl 37 500 festgelegt.
Vor dem Hintergrund dieser moralischen und politischen Leistung in der
Vergangenheit, die wir belegen und beweisen können, aber auch unserer Absicht, in
den nächsten vier Jahren nicht eine Nulllinie einzuziehen, zu sagen, niemand hat ein
Asylrecht, das geht uns alles nichts an, haben wir für die nächsten vier Jahre eine
gemeinsame Zahl festgelegt, wie viele Menschen wir in der Lage sind – auch mit den
entsprechenden integrativen Maßnahmen, die notwendig sind – unterzubringen.
Warum sage ich das? Weil es aus dieser moralischen Position eines Landes, das in
seiner Geschichte geholfen hat und hilft, ein hilfsbereites Land ist, notwendig ist, hier
auch für eine Ordnung zu sorgen – für eine Ordnung, die heißt, es gibt keine
Schlepperrouten, das Durchwinken ist zu Ende. Das ist ein Beschluss vom letzten
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Europäischen Rat, in einer Erklärung der Regierungschefs festgelegt, und hier haben
auch Griechenland und Deutschland mitgestimmt. Und deshalb gibt es da kein
Augenzwinkern! (Beifall bei Abgeordneten von SPÖ und ÖVP. – Abg. Kickl: Das ist so
peinlich!) Alle Routen sind zu schließen! Es darf überall dort, wo neue Routen
entstehen, das nicht mit einem Augenzwinkern zur Kenntnis genommen werden.
Wir müssen uns daher die Frage stellen: Wie können wir an unseren Außengrenzen
das nachholen, was wir eigentlich schon mehrfach beschlossen haben? Nämlich
ausreichende Mittel für Frontex zur Verfügung stellen, für Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter, für technische Ausstattung, um die Außengrenzen entsprechend sichern zu
können. Oder: eine ausreichende Anzahl an Quartieren schaffen. Das ist ja ein
gewaltiges Programm, bei hunderttausenden Menschen, wenn sie kommen, einmal
eine Vorauswahl vorzunehmen: Wer hat überhaupt ein Asylrecht, wer hat keines? Und
dann die Frage: Wie kann man sie verteilen? Das ist ja eine gewaltige Aufgabe. Darum
komme ich gleich zu der Kernfrage, die morgen eine große Rolle spielt: Soll man mit
der Türkei reden, ja oder nein? Und: Was soll man mit der Türkei reden?
Was außer Frage steht: Es gibt keinen inhaltlichen Werteabtausch zwischen der
Europäischen Union und der Türkei. Das hat die Türkei auch nicht verlangt. Das
würden wir aber auch niemals anbieten und sagen: Wir setzen uns nicht für
Minderheitenrechte ein, wir setzen uns nicht für Meinungsfreiheit ein, denn wir
brauchen jetzt irgendeinen Pakt! Es gibt keinen inhaltlichen Abtausch zwischen
Grundwerten, wie eine Visaliberalisierung inhaltlich abzuwickeln und zu beurteilen ist
(Abg. Kickl: Da hätten Sie bei anderen Ländern schon lange nach Sanktionen
gerufen!), wie ein Beitrittsprozess zur Europäischen Union abzuführen ist, wie die
Werte, die die Europäische Union hat, zu vertreten sind.
Was es mit der Türkei geben soll, ist eine ernsthafte Vereinbarung, die besagt, wir
versuchen die EU-Außengrenzen insofern gemeinsam zu schützen, als die Türkei
einverstanden ist, dass man Menschen zurückbringt, die sich verselbstständigen oder
von Schleppern nach Griechenland gebracht werden.
Nun kann man natürlich sagen: Was ist so eine Vereinbarung wert? Aber ich möchte
nur kurz noch einen Punkt in den Fokus bringen: Wie soll denn eine Außengrenze
geschützt werden, wenn der Nachbar ablehnen würde, jemanden zurückzunehmen?
Es gibt keine faktische Möglichkeit, dem Nachbarn jemanden zurückzubringen, wenn
er das nicht in irgendeiner Art und Weise akzeptiert. (Abg. Kickl: Worüber verhandeln
Sie denn dann?) Gegen den Nachbarn eine derartige Maßnahme zu setzen, wenn
dieser Nein sagt, stellen sich manche entweder absichtlich, weil sie glauben,
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politisches Kleingeld machen zu können, oder unabsichtlich, weil sie sich das nicht
bewusst gemacht haben, leichter vor, als es ist. Dem Nachbarland Menschen
zurückzuführen, wenn es Nein sagt, ist faktisch, politisch wie auch rechtlich, nicht so
einfach, wie ich das in vielen Kommentaren lese. Im Gegenteil!
Daher ist die Bereitschaft des Nachbarn, auch wenn er ein schwieriger Nachbar ist wie
die Türkei, mitzuwirken, dass jemand zurückgebracht wird, der sich verselbstständigt
hat, eine Voraussetzung für eine Vereinbarung. Daher ist diese Vereinbarung sinnvoll,
wenn sie zustande käme, bei aller rechtlicher Problematik, die auch der Rechtsdienst
des Ratspräsidenten und Kommissionspräsidenten aufgeworfen hat.
Aber es ist vom Prinzip her eine gemeinsame Kontrolle an Grenzen mit dem Nachbarn
machbar, ohne den Nachbarn ist das mit extremen Schwierigkeiten verbunden. Das ist
der Grund, warum man mit der Türkei spricht – und nicht ein falsch verstandener
Romantizismus, wo man sich einbildet, na ja, da werden wir schon irgendwie alle
überzeugen, und zum Schluss geht alles gut aus. Nein, es ist nicht die Frage der
Unterschätzung der politischen Unterschiede, sondern es ist die Frage der
Sinnhaftigkeit an einer Grenze, nicht alles Griechenland allein zu überlassen.
Sonst würde das bedeuten, wenn eine Million Menschen wie im Vorjahr oder vielleicht
sogar zwei Millionen oder mehr sich über die Türkei verselbstständigen und nach
Griechenland kommen, dass wir das alles in Griechenland abwickeln müssten, ohne
den Nachbarn, ohne in Sachen Abreise etwas mitbeeinflussen zu können, ohne die
Möglichkeit einer Rückführung in die Türkei. Das ist ein so erheblicher Aufwand, der
natürlich mittel- und langfristig bewältigbar sein muss, um sich eben nicht dauerhaft
auf die Türkei verlassen zu müssen, der aber eine derart gewaltige Herausforderung
ist, mit der sich jeder, der ernsthaft an die Sache herangeht, politisch beschäftigen
muss.
Wir bleiben also bei unserer Linie, die wir zu Recht vertreten. Wir als Bundesregierung
haben eine Linie, gemeinsam oftmals auch mit dem Herrn Bundespräsidenten
besprochen, und ich bin jedem dankbar, auch jedem Oppositionspolitiker, der sich die
Mühe macht, in dieser schwierigen Frage Österreichs, die seit den siebziger Jahren die
härteste Herausforderung sein wird, konstruktiv mitzudenken, anstatt den Hass zu
schüren. (Beifall bei SPÖ und ÖVP.)
10.58
Präsidentin Doris Bures: Ich erteile nun dem Herrn Vizekanzler das Wort. – Bitte.
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