SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde Die sieben Leben des Hermann Scherchen (5) Von Werner Klüppelholz Sendung: Freitag, 17. Juni 2016 Redaktion: Bettina Winkler 9.05 – 10.00 Uhr Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2 2 „Musikstunde“ mit Werner Klüppelholz Die sieben Leben des Hermann Scherchen SWR 2, 13. – 17. Juni 2016, 9h05 – 10h00 V …mit Werner Klüppelholz. Willkommen zu „Die sieben Leben des Hermann Scherchen“, Teil V Indikativ Seit nunmehr fast zweihundert Jahren steht die Frage im Raum: Wer genau war Beethovens Unsterbliche Geliebte? Dabei ist eine andere Frage noch geringfügig bedeutsamer: Wie genau ging Beethovens Metronom? Es muss zu schnell gelaufen sein, denn wenn man seine Metronomangaben wörtlich nimmt, kommt oft ein so irres Tempo heraus, das kaum ein Musiker mithalten kann. Genau das ist die Crux, meint Hermann Scherchen, die Kapellmeister hätten bisher immer nur die Fähigkeiten der Spieler zum Maßstab genommen und nicht die Absichten des Meisters, der es genau so gemeint habe, wie er notierte; das Metronom war in Ordnung. So wird Scherchen zum schnellsten Beethoven-Dirigenten aller Zeiten; zumindest bis zu seiner Zeit. Natürlich mit Unsauberkeiten im Orchester, über die freilich der Kenner Dietmar Holland, der Scherchens Beethoven-Aufnahmen unübertroffen nennt, in gewagter Deutung hinwegsieht: „Vielleicht gehören die spieltechnischen Mängel, dem aberwitzigen Tempo entsprechend, als gleichsam einkomponierte Unspielbarkeiten, zur Sache selbst. Jedenfalls vermittelt Scherchens Interpretation am konsequentesten und am eindrucksvollsten Beethovens plebejisch-aufsässigen ‚Ton„ und lenkt die Aufmerksamkeit auf die primäre Funktion der rhythmisch-metrischen Dimension in Beethovens Musik.“ Es trifft sich, dass Scherchen dies besonders gut konnte: Mit der rechten Hand die metrischen Schwerpunkte zu setzen und mit der Linken noch die kompliziertesten Rhythmen sichtbar zu machen. Da wir heute am Ende der Scherchen-Reihe angekommen sind, dürfen wir auch mit einem Finale beginnen. Dem von Beethovens Achter Sinfonie, mit dem Royal Philharmonic Orchestra. Beethoven: VIII. Sinfonie, Finale CD 1, Tr. 5 Royal Philharmonic Orchestra, Ltg. H. S. IMG 7243575957 28 LC 0789 6„23“ Dies war das Finale von Beethovens Achter, mit dem Royal Philharmonic Orchestra unter Scherchen. Das irrwitzige Tempo, das Hermann Scherchen in den Sinfonien Beethovens anschlägt, ist das seines eigenen Lebens. Im Alter wurde es nicht geringer. Über 3 manches ging er indes jetzt allzu schnell hinweg und wenn dann noch Unlust hinzukam, war das Desaster perfekt, wie die Pianistin Else Stock-Hug erzählt: „Die Tür zum Künstlerzimmer ging auf, Scherchen trat ein, streckte die Noten des Klavierkonzerts mir entgegen und sagte ‚Gefällt Ihnen das etwa?„ Da war er auch schon aus dem Zimmer. Einige Minuten später begann die Probe mit Orchester. Er begann mit dem Klavierkonzert von Leibowitz. Aber schon bei seiner ersten Zeichengebung zum Einsatz war ihm und uns klar, dass er diese Komposition nicht kannte. Sofort winkte er wütend ab, warf die Noten auf den Boden, lief hinaus und kam nicht mehr zurück. Es vergingen drei Tage ohne ihn. Für Dienstagabend war die Uraufführung angesetzt. Dienstag früh stand Scherchen da, frisch wie ein Jüngling und sehr übermütig. Einen Kommentar gab es nicht. Er schaute das Orchester und mich verschmitzt und siegessicher an, und dann kam sein Einsatz. Ein Einsatz, wie man sich ihn nur erträumt, und jeder von uns wusste, es konnte nichts mehr passieren.“ An der Mailander Scala hingegen fiel eine Aufführung von Mahlers Dritter aus, denn Scherchen verschwand nach der zweiten Probe ohne Wiederkehr. Dort hat er oft in dieser Zeit gearbeitet, stets in unglaublicher Hektik. Scherchen traf bereits verschwitzt und atemlos ein, als ob er den Weg von Gravesano im Laufschritt zurückgelegt hätte, begrüßt hastig das Orchester in abenteuerlichem Italienisch, noch bevor seine Anweisungen zu Ende sind, dirigiert er weiter, die Musiker wissen meist gar nicht, an welcher Stelle der Partitur sie sich gerade befinden und dennoch gelingen wunderbare Konzerte. Bei Scherchens Reisen durch Italien, wo er in Neapel auch einmal Regie führt bei Mozarts „Idomeneo“, wird er von Luigi Nono begleitet, neben Bruno Maderna einer seiner beiden „Italienerbuben“, wie Scherchen sie nennt. Nono seinerseits schreibt an ihn: „Wenn Bruno und ich heute etwas sind, so sind wir es, weil wir Ihre Söhne sind“. Was für Nono nicht nur musikalisch gilt, vielmehr auch politisch, er war ebenfalls Kommunist. Von Luigi Nono stammt ein Schlüsselwerk der Musik des 20. Jahrhunderts, uraufgeführt wiederum von Scherchen. Es heißt „Il canto sospeso“, der aufgehobene Gesang, und beruht auf Briefen junger Widerstandskämpfer, die in den Todeszellen der Faschisten sitzen. Ein 22jähriger Friseur aus Griechenland: „Sie hängen mich, weil ich Patriot bin. Dein Sohn geht, er wird die Glocken der Freiheit nicht hören.“ Oder ein 14jähriger Bauernjunge aus Polen: „“Wenn der Himmel Papier und alle Meere der Welt Tinte wären, ich könnte euch mein Leid nicht beschreiben. Ich sage allen Lebewohl und weine.“ Nono: Il canto sospeso, Nr. 5 F. Lenz, RSO Köln, Ltg. H. Scherchen 590 1360 000 2‟06” 4 Wir hörten die Nummer fünf aus Nonos Requiem auf den Widerstand gegen die faschistische Barbarei, betitelt „Il canto sospeso“, mit dem Tenor Friedrich Lenz und dem Rundfunksinfonieorchester des WDR unter Scherchens Leitung. Nicht allein durch extreme Tempi beim Dirigieren, Scherchen sucht Beschleunigung noch auf andere Weise, durch Kürzungen. Dabei zeigt er sich als getreuer Schüler des gestrengen Schönberg, der jede Wiederholung in der Musik abgeschafft hat; mit der Begründung, auch im Gespräch zweier Menschen würde niemand seine Worte ständig wiederholen. Scherchen verweist daneben auf das Sprechtheater, wo Kürzungen selbst bei Goethe oder Shakespeare ganz selbstverständlich seien. Wir lebten nun einmal in einer anderen Zeit, die weit schneller verläuft als damals und dem hätten sich die Werke anzubequemen. Also streicht Scherchen, bei Mozart, bei Wagner, bei Mahler. Und wenn dann ein Nachwuchstalent eine Arie schreibt, in die zwar sein ganzes Herzblut eingeflossen ist, währenddessen aber die Oper zehn Minuten nicht vom Fleck kommt, hört er von Scherchen: „Aber mein Lieber, wir schreiben doch heute keine Arien mehr“ - und Strich. So geschehen beim „König Hirsch“ von Hans Werner Henze, von dem Scherchen anschließend wenigstens nicht mehr gegrüßt wurde. Wenn Scherchen auch weiterhin durchs Leben rast, so fasst er zumindest gute Vorsätze, wie er an seine Frau Pia schreibt: „Ich will leben und leben helfen und nicht mehr streiten und mich auseinandersetzen“; hinzufügend: „Mir gelingt die Musik wie nie zuvor.“ Tatsächlich entstehen in den letzten zehn Jahren nahezu ausnahmslos Meisterwerke der Interpretation. Eines davon beschreibt der Schallplatten-Juror Wolfram Goertz mit den schönen Worten: „Scherchens Aufnahme von Mozarts Requiem ist ein Fall für die Ewigkeit. Die Menschenorgel zieht alle Register und wird doch nie maßlos. Das Tuba Mirum hört man mit einem Kloß im Hals. Das Rex tremendae zwingt einen nieder. Im Recordare wird man von Scherchen mit allem Trost, der Musik zu Eigen sein kann, wieder aufgerichtet. Eiskalter Dirigent? Ein Gerücht.“ Mozart: Requiem, Rex tremendae und Recordare 9„13“ S. Jurinac, L. West, H. Loeffler, F. Guthrie, Wiener Akademiechor, Orchester der Wiener Staatsoper, Ltg. H. Scherchen 012-3664 Bd. 1 Wir hörten das Solistenquartett Sena Jurinac, Lucretia West, Hans Loeffler und Frederick Guthrie sowie den Wiener Akademiechor und das Orchester der Wiener Staatsoper mit dem Rex tremendae und dem Recordare aus Mozarts Requiem. Hermann Scherchen war in mancherlei Hinsicht ein Mann der Extreme. Kein Kapellmeister vor ihm und vermutlich auch keiner nach ihm hat ein solch riesiges Repertoire beherrscht, von Monteverdi über sämtliche Groß- und Kleinmeister die 5 Jahrhunderte hindurch bis zu den allerjüngsten, tintenfrischen Neuheiten. Kein Dirigent dieses Ranges musste sich aber zugleich so oft mit mittelmäßigen Orchestern bescheiden, ob Winterthur oder Beromünster, Herford oder Bochum, er war meistens bloß Gast, und als zum ersten Mal in Scherchens Laufbahn ein Weltklasse-Orchester – das von Chicago – ihn längerfristig verpflichten wollte, trat der Tod dazwischen. Klein waren ebenfalls die Firmen, wo er 150 Schallplatten produziert hat, von denen viele selbst heute nicht greifbar sind. Groß dagegen sind Scherchens Ziele, die Tonkunst zu demokratisieren, namentlich durch den Rundfunk, und in der Neuen Musik den Sinn unserer Gegenwart zu begreifen. „Zeitgenössische Musik“, spricht er, „das ist wir selbst, das uns eigene Tempo, unsere vorübergehenden Leiden, unsere flüchtigen Hoffnungen und Sehnsüchte. Sie wendet sich ausschließlich an uns, selbst wenn sie uns zu schockieren und zu verwirren scheint.“ Denn Musik darf kein bloß reines „Sinnenerlebnis“, kein „Narkotikum“ sein. „Die Kunst“, fährt er Schubert mit Schönberg verbindend fort, „muss eine höhere Welt öffnen, für den, der sich inmitten dieses kurzen und flüchtigen Lebens bewegt. Das ist der Grund, warum der Zuhörer verlangen kann, dass Kunst ihn zur Betrachtung des Kunstwerks verführt und warum Kunst ihrerseits mit Recht erwarten kann, dass der Hörer nur jede denkbare Anstrengung unternimmt, um das Kunstwerk zu verstehen (einerlei ob Malerei, Poesie oder Musik).“ Beispielsweise bei Mahlers Siebter Sinfonie, wo Scherchen seine Dirigierkunst „der Vollendung nahe“ sieht. Hier deren Scherzo, wiederum mit dem Orchester der Wiener Staatsoper. Mahler: VII. Sinfonie, 3. Satz Orchester der Wiener Staatsoper, Ltg. H. Scherchen MCD 80082 LC 01056 9„10“ Das war das Scherzo aus Mahler VII. Sinfonie, mit dem von Scherchen geleiteten Orchester der Wiener Staatsoper. Hermann Scherchen stirbt am 12. Juni 1966 in Florenz, wie es bei ihm naheliegt an einem Herzinfarkt. Dort hatte er wenige Tage zuvor die Oper „Orfeide“ seines Freundes Gian Francesco Malipiero uraufgeführt, zu dem er den Kontakt auch dann nicht abbrach, als Malipiero sich Mussolinis Faschisten anschloss. Ein Werk zieht sich wie ein Cantus firmus durch Scherchens Leben, das Werk, mit dem für ihn „die wahre Existenz der Musik erst beginnt“ und mit dem das Leben seines Schöpfers endet: „Die Kunst der Fuge“, wo der Tod Johann Sebastian Bach die Feder aus der Hand nahm. Mehrere Bearbeitungen dieses Fragments sind im 20. Jahrhundert entstanden, die Scherchen alle häufig aufgeführt hat. Bei der Version des Schweizer Organisten und Toningenieurs Roger Vuataz bemerkt er einmal nach einer langen Probe, dass er ja vollständig auswendig dirigiert hatte, denn die Dirigier-Partitur war noch gar nicht eingetroffen. Scherchens anschließender Kommentar: „Durch mein unablässiges Ringen um 6 sein Werk hatte Bach selbst mir die Ehre erwiesen, mit der ‚Kunst der Fuge„ bei mir Aufenthalt zu nehmen.“ Freilich ist Scherchen mit keiner der vorhandenen Bearbeitungen ganz zufrieden, weshalb er eine eigene anfertigt. Er setzt das Stück, bislang vorzugsaufweise mit Orgel oder Streichquartett wiedergegeben, für Orchester. Im Geiste Schönbergs möchte Scherchen im dichten Geflecht der polyphonen Stimmen größtmögliche Deutlichkeit erzielen; mittels Artikulation, Dynamik und durch die Anzahl der Streicher. Mal spielen etwa acht Erste Violinen, mal nur zwei. Scherchen hat seine gesamte Musikererfahrung in dieses Bachsche Werk gelegt, einschließlich der Klangexperimente in seinem Gravesaner Studio. Die Bearbeitung der „Kunst der Fuge“, erklungen ein Jahr von seinem Tod, nennt er sein „opus summum“. Wenn Hermann Scherchen schon nicht an Gott geglaubt hat, hätte er zumindest zu Bach sagen können „Vor Deinen Thron tret„ ich hiermit.“ Bach: Kunst der Fuge, KP 18 CD 2, Tr. 5 14„14“ Orchestra della Radio-Televisione della Svizzera Italiana, Ltg. H. Scherchen STR 13604/5 ohne LC Diese „Musikstunden“-Woche mit Werner Klüppelholz über Hermann Scherchen ging zu Ende mit dem Contrapunctus achtzehn aus Bachs letzter, unvollendeter Komposition „Die Kunst der Fuge.“ Hermann Scherchen leitete das Orchestra della Radio-Televisione della Svizzera Italiana. Wenn Sie Musiktitel recherchieren oder das Manuskript der „Musikstunde“ nachlesen wollen, dann besuchen Sie unsere Internetseite unter swr2/musikstunde. Dort können Sie die einzelnen Sendungen auch eine Woche lang nachhören. Und falls Sie an einem CD-Mitschnitt einer der „Musikstunden“ interessiert sind, wenden Sie sich bitte telefonisch an die SWR Media GmbH unter der Servicenummer 07221/92-92-60-30.
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