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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
Die sieben Leben des Hermann
Scherchen (5)
Von Werner Klüppelholz
Sendung:
Freitag, 17. Juni 2016
Redaktion:
Bettina Winkler
9.05 – 10.00 Uhr
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
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„Musikstunde“ mit Werner Klüppelholz
Die sieben Leben des Hermann Scherchen
SWR 2, 13. – 17. Juni 2016, 9h05 – 10h00
V
…mit Werner Klüppelholz. Willkommen zu „Die sieben Leben des Hermann
Scherchen“,
Teil V
Indikativ
Seit nunmehr fast zweihundert Jahren steht die Frage im Raum: Wer genau war
Beethovens Unsterbliche Geliebte? Dabei ist eine andere Frage noch geringfügig
bedeutsamer: Wie genau ging Beethovens Metronom? Es muss zu schnell
gelaufen sein, denn wenn man seine Metronomangaben wörtlich nimmt, kommt
oft ein so irres Tempo heraus, das kaum ein Musiker mithalten kann. Genau das ist
die Crux, meint Hermann Scherchen, die Kapellmeister hätten bisher immer nur
die Fähigkeiten der Spieler zum Maßstab genommen und nicht die Absichten des
Meisters, der es genau so gemeint habe, wie er notierte; das Metronom war in
Ordnung. So wird Scherchen zum schnellsten Beethoven-Dirigenten aller Zeiten;
zumindest bis zu seiner Zeit. Natürlich mit Unsauberkeiten im Orchester, über die
freilich der Kenner Dietmar Holland, der Scherchens Beethoven-Aufnahmen
unübertroffen nennt, in gewagter Deutung hinwegsieht: „Vielleicht gehören die
spieltechnischen Mängel, dem aberwitzigen Tempo entsprechend, als gleichsam
einkomponierte Unspielbarkeiten, zur Sache selbst. Jedenfalls vermittelt
Scherchens Interpretation am konsequentesten und am eindrucksvollsten
Beethovens plebejisch-aufsässigen ‚Ton„ und lenkt die Aufmerksamkeit auf die
primäre Funktion der rhythmisch-metrischen Dimension in Beethovens Musik.“ Es
trifft sich, dass Scherchen dies besonders gut konnte: Mit der rechten Hand die
metrischen Schwerpunkte zu setzen und mit der Linken noch die kompliziertesten
Rhythmen sichtbar zu machen. Da wir heute am Ende der Scherchen-Reihe
angekommen sind, dürfen wir auch mit einem Finale beginnen. Dem von
Beethovens Achter Sinfonie, mit dem Royal Philharmonic Orchestra.
Beethoven: VIII. Sinfonie, Finale
CD 1, Tr. 5
Royal Philharmonic Orchestra, Ltg. H. S.
IMG 7243575957 28 LC 0789
6„23“
Dies war das Finale von Beethovens Achter, mit dem Royal Philharmonic
Orchestra unter Scherchen.
Das irrwitzige Tempo, das Hermann Scherchen in den Sinfonien Beethovens
anschlägt, ist das seines eigenen Lebens. Im Alter wurde es nicht geringer. Über
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manches ging er indes jetzt allzu schnell hinweg und wenn dann noch Unlust
hinzukam, war das Desaster perfekt, wie die Pianistin Else Stock-Hug erzählt: „Die
Tür zum Künstlerzimmer ging auf, Scherchen trat ein, streckte die Noten des
Klavierkonzerts mir entgegen und sagte ‚Gefällt Ihnen das etwa?„ Da war er
auch schon aus dem Zimmer. Einige Minuten später begann die Probe mit
Orchester. Er begann mit dem Klavierkonzert von Leibowitz. Aber schon bei seiner
ersten Zeichengebung zum Einsatz war ihm und uns klar, dass er diese
Komposition nicht kannte. Sofort winkte er wütend ab, warf die Noten auf den
Boden, lief hinaus und kam nicht mehr zurück. Es vergingen drei Tage ohne ihn.
Für Dienstagabend war die Uraufführung angesetzt. Dienstag früh stand
Scherchen da, frisch wie ein Jüngling und sehr übermütig. Einen Kommentar gab
es nicht. Er schaute das Orchester und mich verschmitzt und siegessicher an, und
dann kam sein Einsatz. Ein Einsatz, wie man sich ihn nur erträumt, und jeder von
uns wusste, es konnte nichts mehr passieren.“ An der Mailander Scala hingegen
fiel eine Aufführung von Mahlers Dritter aus, denn Scherchen verschwand nach
der zweiten Probe ohne Wiederkehr. Dort hat er oft in dieser Zeit gearbeitet, stets
in unglaublicher Hektik. Scherchen traf bereits verschwitzt und atemlos ein, als ob
er den Weg von Gravesano im Laufschritt zurückgelegt hätte, begrüßt hastig das
Orchester in abenteuerlichem Italienisch, noch bevor seine Anweisungen zu
Ende sind, dirigiert er weiter, die Musiker wissen meist gar nicht, an welcher Stelle
der Partitur sie sich gerade befinden und dennoch gelingen wunderbare
Konzerte. Bei Scherchens Reisen durch Italien, wo er in Neapel auch einmal
Regie führt bei Mozarts „Idomeneo“, wird er von Luigi Nono begleitet, neben
Bruno Maderna einer seiner beiden „Italienerbuben“, wie Scherchen sie nennt.
Nono seinerseits schreibt an ihn: „Wenn Bruno und ich heute etwas sind, so sind
wir es, weil wir Ihre Söhne sind“. Was für Nono nicht nur musikalisch gilt, vielmehr
auch politisch, er war ebenfalls Kommunist. Von Luigi Nono stammt ein
Schlüsselwerk der Musik des 20. Jahrhunderts, uraufgeführt wiederum von
Scherchen. Es heißt „Il canto sospeso“, der aufgehobene Gesang, und beruht
auf Briefen junger Widerstandskämpfer, die in den Todeszellen der Faschisten
sitzen. Ein 22jähriger Friseur aus Griechenland: „Sie hängen mich, weil ich Patriot
bin. Dein Sohn geht, er wird die Glocken der Freiheit nicht hören.“ Oder ein
14jähriger Bauernjunge aus Polen: „“Wenn der Himmel Papier und alle Meere der
Welt Tinte wären, ich könnte euch mein Leid nicht beschreiben. Ich sage allen
Lebewohl und weine.“
Nono: Il canto sospeso, Nr. 5
F. Lenz, RSO Köln, Ltg. H. Scherchen
590 1360 000
2‟06”
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Wir hörten die Nummer fünf aus Nonos Requiem auf den Widerstand gegen die
faschistische Barbarei, betitelt „Il canto sospeso“, mit dem Tenor Friedrich Lenz
und dem Rundfunksinfonieorchester des WDR unter Scherchens Leitung.
Nicht allein durch extreme Tempi beim Dirigieren, Scherchen sucht
Beschleunigung noch auf andere Weise, durch Kürzungen. Dabei zeigt er sich als
getreuer Schüler des gestrengen Schönberg, der jede Wiederholung in der Musik
abgeschafft hat; mit der Begründung, auch im Gespräch zweier Menschen
würde niemand seine Worte ständig wiederholen.
Scherchen verweist daneben auf das Sprechtheater, wo Kürzungen selbst bei
Goethe oder Shakespeare ganz selbstverständlich seien. Wir lebten nun einmal
in einer anderen Zeit, die weit schneller verläuft als damals und dem hätten sich
die Werke anzubequemen. Also streicht Scherchen, bei Mozart, bei Wagner, bei
Mahler. Und wenn dann ein Nachwuchstalent eine Arie schreibt, in die zwar sein
ganzes Herzblut eingeflossen ist, währenddessen aber die Oper zehn Minuten
nicht vom Fleck kommt, hört er von Scherchen: „Aber mein Lieber, wir schreiben
doch heute keine Arien mehr“ - und Strich. So geschehen beim „König Hirsch“
von Hans Werner Henze, von dem Scherchen anschließend wenigstens nicht
mehr gegrüßt wurde.
Wenn Scherchen auch weiterhin durchs Leben rast, so fasst er zumindest gute
Vorsätze, wie er an seine Frau Pia schreibt: „Ich will leben und leben helfen und
nicht mehr streiten und mich auseinandersetzen“; hinzufügend: „Mir gelingt die
Musik wie nie zuvor.“ Tatsächlich entstehen in den letzten zehn Jahren nahezu
ausnahmslos Meisterwerke der Interpretation. Eines davon beschreibt der
Schallplatten-Juror Wolfram Goertz mit den schönen Worten: „Scherchens
Aufnahme von Mozarts Requiem ist ein Fall für die Ewigkeit. Die Menschenorgel
zieht alle Register und wird doch nie maßlos. Das Tuba Mirum hört man mit einem
Kloß im Hals. Das Rex tremendae zwingt einen nieder. Im Recordare wird man
von Scherchen mit allem Trost, der Musik zu Eigen sein kann, wieder aufgerichtet.
Eiskalter Dirigent? Ein Gerücht.“
Mozart: Requiem, Rex tremendae und Recordare
9„13“
S. Jurinac, L. West, H. Loeffler, F. Guthrie, Wiener Akademiechor, Orchester der
Wiener Staatsoper, Ltg. H. Scherchen
012-3664 Bd. 1
Wir hörten das Solistenquartett Sena Jurinac, Lucretia West, Hans Loeffler und
Frederick Guthrie sowie den Wiener Akademiechor und das Orchester der
Wiener Staatsoper
mit dem Rex tremendae und dem Recordare aus
Mozarts Requiem.
Hermann Scherchen war in mancherlei Hinsicht ein Mann der Extreme. Kein
Kapellmeister vor ihm und vermutlich auch keiner nach ihm hat ein solch riesiges
Repertoire beherrscht, von Monteverdi über sämtliche Groß- und Kleinmeister die
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Jahrhunderte hindurch bis zu den allerjüngsten, tintenfrischen Neuheiten. Kein
Dirigent dieses Ranges musste sich aber zugleich so oft mit mittelmäßigen
Orchestern bescheiden, ob Winterthur oder Beromünster, Herford oder Bochum,
er war meistens bloß Gast, und als zum ersten Mal in Scherchens Laufbahn ein
Weltklasse-Orchester – das von Chicago – ihn längerfristig verpflichten wollte, trat
der Tod dazwischen. Klein waren ebenfalls die Firmen, wo er 150 Schallplatten
produziert hat, von denen viele selbst heute nicht greifbar sind. Groß dagegen
sind Scherchens Ziele, die Tonkunst zu demokratisieren, namentlich durch den
Rundfunk, und in der Neuen Musik den Sinn unserer Gegenwart zu begreifen.
„Zeitgenössische Musik“, spricht er, „das ist wir selbst, das uns eigene Tempo,
unsere vorübergehenden Leiden, unsere flüchtigen Hoffnungen und Sehnsüchte.
Sie wendet sich ausschließlich an uns, selbst wenn sie uns zu schockieren und zu
verwirren scheint.“ Denn Musik darf kein bloß reines „Sinnenerlebnis“, kein
„Narkotikum“ sein. „Die Kunst“, fährt er Schubert mit Schönberg verbindend fort,
„muss eine höhere Welt öffnen, für den, der sich inmitten dieses kurzen und
flüchtigen Lebens bewegt. Das ist der Grund, warum der Zuhörer verlangen kann,
dass Kunst ihn zur Betrachtung des Kunstwerks verführt und warum Kunst ihrerseits
mit Recht erwarten kann, dass der Hörer nur jede denkbare Anstrengung
unternimmt, um das Kunstwerk zu verstehen (einerlei ob Malerei, Poesie oder
Musik).“ Beispielsweise bei Mahlers Siebter Sinfonie, wo Scherchen seine
Dirigierkunst „der Vollendung nahe“ sieht. Hier deren Scherzo, wiederum mit dem
Orchester der Wiener Staatsoper.
Mahler: VII. Sinfonie, 3. Satz
Orchester der Wiener Staatsoper, Ltg. H. Scherchen
MCD 80082 LC 01056
9„10“
Das war das Scherzo aus Mahler VII. Sinfonie, mit dem von Scherchen geleiteten
Orchester der Wiener Staatsoper.
Hermann Scherchen stirbt am 12. Juni 1966 in Florenz, wie es bei ihm naheliegt an
einem Herzinfarkt. Dort hatte er wenige Tage zuvor die Oper „Orfeide“ seines
Freundes Gian Francesco Malipiero uraufgeführt, zu dem er den Kontakt auch
dann nicht abbrach, als Malipiero sich Mussolinis Faschisten anschloss. Ein Werk
zieht sich wie ein Cantus firmus durch Scherchens Leben, das Werk, mit dem für
ihn „die wahre Existenz der Musik erst beginnt“ und mit dem das Leben seines
Schöpfers endet: „Die Kunst der Fuge“, wo der Tod Johann Sebastian Bach die
Feder aus der Hand nahm. Mehrere Bearbeitungen dieses Fragments sind im 20.
Jahrhundert entstanden, die Scherchen alle häufig aufgeführt hat.
Bei der Version des Schweizer Organisten und Toningenieurs Roger Vuataz
bemerkt er einmal nach einer langen Probe, dass er ja vollständig auswendig
dirigiert hatte, denn die Dirigier-Partitur war noch gar nicht eingetroffen.
Scherchens anschließender Kommentar: „Durch mein unablässiges Ringen um
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sein Werk hatte Bach selbst mir die Ehre erwiesen, mit der ‚Kunst der Fuge„ bei mir
Aufenthalt zu nehmen.“ Freilich ist Scherchen mit keiner der vorhandenen
Bearbeitungen ganz zufrieden, weshalb er eine eigene anfertigt. Er setzt das
Stück, bislang vorzugsaufweise mit Orgel oder Streichquartett wiedergegeben,
für Orchester. Im Geiste Schönbergs möchte Scherchen im dichten Geflecht der
polyphonen Stimmen größtmögliche Deutlichkeit erzielen; mittels Artikulation,
Dynamik und durch die Anzahl der Streicher. Mal spielen etwa acht Erste
Violinen, mal nur zwei.
Scherchen hat seine gesamte Musikererfahrung in dieses Bachsche Werk gelegt,
einschließlich der Klangexperimente in seinem Gravesaner Studio. Die
Bearbeitung der „Kunst der Fuge“, erklungen ein Jahr von seinem Tod, nennt er
sein „opus summum“. Wenn Hermann Scherchen schon nicht an Gott geglaubt
hat, hätte er zumindest zu Bach sagen können „Vor Deinen Thron tret„ ich
hiermit.“
Bach: Kunst der Fuge, KP 18 CD 2, Tr. 5
14„14“
Orchestra della Radio-Televisione della Svizzera Italiana, Ltg. H. Scherchen
STR 13604/5 ohne LC
Diese „Musikstunden“-Woche mit Werner Klüppelholz über Hermann Scherchen
ging zu Ende mit dem Contrapunctus achtzehn aus Bachs letzter, unvollendeter
Komposition „Die Kunst der Fuge.“ Hermann Scherchen leitete das Orchestra
della Radio-Televisione della Svizzera Italiana.
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