Musikstunde: Geigenbauer I

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
Die sieben Leben des Hermann
Scherchen (4)
Von Werner Klüppelholz
Sendung:
Donnerstag, 16. Juni 2016
Redaktion:
Bettina Winkler
9.05 – 10.00 Uhr
Bitte beachten Sie:
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„Musikstunde“ mit Werner Klüppelholz
Die sieben Leben des Hermann Scherchen
SWR 2, 13. – 17. Juni 2016, 9h05 – 10h00
IV
….mit Werner Klüppelholz, guten Morgen! Heute der vierte Teil unserer Reise
durch „Die sieben Leben des Hermann Scherchen.“
Indikativ
1945, in der Stunde Null, die keine war, ist Hermann Scherchen immer noch der
nahezu einzige Dirigent, der sich auch für die lebenden Komponisten einsetzt. So
dünkt es nachgerade selbstverständlich, dass er bald bei den Darmstädter
Ferienkursen für Neue Musik auftaucht, die im Jahr darauf gegründet werden.
Scherchen bleibt nicht bei den Erfolgen seiner Jugend stehen, bei Schönberg,
Strawinsky, Hindemith, sondern lässt sich in Darmstadt während des folgenden
Jahrzehnts mit der ihm angeborenen Neugier auf die jungen Nachfolger ein.
Väterlich tritt er ihnen entgegen, wie er in einem Brief an seine fünfte Frau – Pia,
eine aus Rumänien stammende Mathematiklehrerin – schreibt: „Ich habe hier
drei entzückende Jungen vor mir, die ich am heutigen Abend aufführe. Alle drei
noch rein, alle drei schwach, alle drei hochbegabt. Ich habe mich entschlossen,
ihre Stücke nur auszugsweise aufzuführen.“ Was diese Nachwuchskomponisten
nicht persönlich nehmen durften, denn vor seinen Kürzungen waren selbst Mozart
oder Mahler nicht sicher. Scherchen ist freilich ein Vater, dem die Entwicklung
seiner Schützlinge nicht behagt. In Darmstadt erlebt er aus nächster Nähe die
Entstehung der seriellen Musik, die er für zu kompliziert und zu abstrakt hält.
Scherchen versucht den jungen Leuten klar zu machen, dass solche extrem
unsangliche Musik den Kontakt zur Natur verliere und dass sie - etwa mit
Tempoangaben wie 63, 5 - auf dem Holzweg der unrealisierbaren Utopie seien;
sie sollten erst einmal versuchen, glatte 63 ohne Metronom zu finden. Und als
dann einer der Jungen – Pierre Boulez – noch ausruft „Schönberg ist tot“, brummt
Scherchen, das sei ein entschiedener Irrglaube, „Schönberg als reaktionären
Großpapa erledigt zu haben.“ Ihrerseits sind die Darmstädter Komponisten mit
dem zuweilen unvorbereiteten Scherchen immer weniger zufrieden. Stockhausen
ist mit dessen Leitung seiner „Kontrapunkte“ kreuzunglücklich und bei den Proben
zu „Le Visage nuptial“ hört der Komponist Boulez mit dem Nörgeln nicht auf, bis
Scherchen entnervt zu ihm spricht: „Dann machen Sie es doch selbst!“ Der,
gänzlich unvorbereitet, fühlte sich „wie in kochendes Wasser geworfen“, aber in
diesem Augenblick übernimmt der Dirigent Pierre Boulez ganz buchstäblich den
Stab von Scherchen. Im übertragenen Sinn, als Anwalt der Neuen Musik, denn
Taktstöcke haben sie beide nicht benutzt.
3
Nun Scherchens erste Uraufführung in Darmstadt, die in einem Gewächshaus
stattfand, das den Krieg wundersam heil überstanden hatte. Es ist das
Orchesterstück „Furioso“ seines Assistenten Rolf Liebermann. Zur Abwechslung
steht Ferenc Fricsay am Pult des Radiosinfonieorchesters Berlin.
Liebermann: Furioso
RSO Berlin, Ltg. F. Fricsay
M 0114049
7‘10“
1950, als Scherchen kurz zuvor einen zweiten Ars Viva – Verlag gegründet hatte,
schreibt Arnold Schönberg im fernen Los Angeles an einen Freund: „Es betrifft
meine Beziehung zu einem der besten Dirigenten Europas, der außerdem Inhaber
eines Musikverlags ist. Neuerdings sind Gerüchte aufgekommen, dass er
Kommunist sein soll. Es wäre für mich ein schrecklicher Verlust, wenn ich den
Kontakt zu ihm abbrechen müsste. Er ist einer der verständigsten Musiker, die ich
kenne und er schätzt meine Musik sehr und führt sie auch hervorragend auf. Er
hat große Pläne zur Aufführung von ‚Moses und Aron‘ und hat die Absicht,
Partituren und Bücher von mir zu publizieren. Was soll ich tun?“ Wenige Tage
später, inzwischen hatte Scherchen die europäische Erstaufführung von
Schönbergs „Ein Überlebender aus Warschau“ realisiert, richtet sich Schönberg
direkt an ihn.
Nachdem er die Gefahr einer kommunistischen Weltherrschaft beschworen hat,
fragt er Scherchen unverblümt: „Sind Sie Kommunist, ja oder nein?“ Und
Scherchen antwortet ebenso direkt mit „Ja.“ Denn jede Revolution bisher habe
nur die Macht verschoben, im Kommunismus aber werde sie ganz abgeschafft.
Ohne den Glauben, dass die Welt veränderbar sei, könne und wolle er nicht
weiterleben, doch gleichviel, wie Schönberg reagiere, er werde auch künftig
stolz darauf sein, seinem Werk zu dienen. Schönberg wendet sich gar an die
Kommunistenjäger in Washington, und erst als er erfährt, dass Scherchens Name
auf keiner ihrer Listen steht, ist er beruhigt. Das war die Paranoia des Kalten Kriegs,
die auf den alten Schönberg besonders heftig eingewirkt hat. Von seiner
unvollendeten Oper „Moses und Aron“ war bis dahin noch kein einziger Takt
erklungen. Elf Tage vor Schönbergs Tod führt Scherchen im Landestheater
Darmstadt wenigstens einen zentralen Teil davon auf, die dritte Szene des
zweiten Akts mit dem „Tanz um das Goldene Kalb“. Der Beifall des Publikums
verstummte erst nach einer halben Stunde. Mag sein, weil die Einsicht, an die
falschen Götter geglaubt zu haben, zu dieser Zeit noch frisch war. Aus jenem
Konzert nun „Der Tanz um das Goldene Kalb“.
Schönberg: Moses und Aron, II. Akt, 3. Szene, Ausschnitt
Orchester des Landestheater Darmstadt, Ltg. H. Scherchen
WWE 1 CD 31897 LC 0798
4‘28“
4
Im selben Monat beschäftigt sich Scherchen noch mit einem ganz anderen Stoff,
mit dem Barockkomponisten Pergolesi. Er beendet die Rekonstruktion seiner
„Sieben letzten Worte Christi am Kreuz“, die Scherchen aus den Einzelstimmen
des Stückes angefertigt hat, um der alten Musik ein neues Werk zu erschließen,
das er sehr schön findet. Allerdings unterliegt er dabei dem gleichen Irrtum wie
Strawinsky bei „Pulcinella“, die Musik stammt in beiden Fällen gar nicht von
Pergolesi. Die sieben Worte von Joseph Haydn hingegen sind authentisch. In
einem Brief an seine Frau Gustav beschreibt Scherchen die Umstände der
Uraufführung dieses Stücks historisch korrekt, die am Tag verdunkelte Kathedrale
von Cádiz, mit brennender Lampe über dem Altar, dem niederknienden Priester,
der die Worte einzeln sprach, denen jeweils ein musikalischer Satz folgte und dass
Haydn erst nachträglich die sieben letzten Worte Christi am Kreuz in die Musik
eingefügt habe. „Das Werk“, schließt Scherchen, „gehört zum Innigsten und
Erschütterndsten in der Musik. Wie bin ich froh, es zuerst wieder dem
Vergessensschlaf entreißen zu können.“ Ob Letzteres wirklich stimmt, müssen auf
die Plattenkenner der Haydn-Spezialisten entscheiden. Dennoch zeigt das
Beispiel, dass sich Scherchen nicht nur als Geburtshelfer bei Uraufführungen
verstand, sondern sich auch in der hohen Kunst der Wiederbelebung übte. Die
Solisten sind Virginia Babikian, Eunice Alberts, John van Kesteren und Otto Wiener
sowie der Wiener Akademie Kammerchor und das Orchester der Wiener
Staatsoper.
Haydn: Die sieben letzten Worte Christi am Kreuz , 1 - 4
V. Babikian, E. Alberts, J. van Kesteren, O. Wiener, Wiener Akademie
Kammerchor, Orchester der Wiener Staatsoper, Ltg. H. Scherchen
1950 wird für Hermann Scherchen zum Schreckensjahr. Im Alter von 88 Jahren
stirbt seine Mutter, die er offenbar sehr geliebt hat; die chinesische Frau geht mit
den drei gemeinsamen Kindern nach Peking zurück und sowohl die Schweizer
Rundspruch-Gesellschaft als auch das Musikkollegium Winterthur trennen sich von
ihm; Scherchen glaubt, dieses Jahr nicht zu überleben. Seit seinem Aufenthalt in
Russland hat er die Entwicklung in der Sowjetunion mit großem Wohlwollen
verfolgt, dabei die Gräuel des Stalinismus ebenso ignorierend wie etwa JeanPaul Sartre. Nun kommt Scherchen von Konzerten in der Tschechoslowakei
zurück, Rolf Liebermann will ihn noch warnen („Hermann, schwinge keine
Propagandareden“), doch der hält einen Vortrag in Basel, wo er seiner
Begeisterung über die tschechischen Verhältnisse freien Lauf lässt. Die Presse
greift den Fall auf und kommt zu dem Schluss, „dass Dr. Scherchen angesichts
seiner schon wiederholten politischen Entgleisungen an maßgebender Stelle des
schweizerischen Radios untragbar geworden ist.“ Das Musikkollegium Winterthur
schließt sich dem an, ein Ende nach fast drei Jahrzehnten. Bereits zuvor war
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Scherchen auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs gescheitert, als in Leipzig
ein neuer Chef des altehrwürdigen Gewandhaus-Orchesters gesucht wurde.
Politisch wäre er der richtige Mann gewesen, wenn er sich nicht selbst diskreditiert
hätte durch sein Engagement für die Neue Musik, die in der frühen DDR genauso
verhasst ist wie bei den Nazis. Scherchen sitzt also zwischen allen Stühlen, doch
dort sitzt er nicht allein. Die DDR-Bewohner Paul Dessau und Bertolt Brecht haben
gemeinsam eine Oper geschrieben, „Die Verurteilung des Lukullus.“ Darin wird
der römische Feldherr mit dem feinen Gaumen angeklagt, bei seinen Schlachten
viele Menschen geopfert zu haben, Brecht wendet sich hier gegen Krieg
überhaupt. Das sei eine ganz falsche Sichtweise, befinden die Zensoren der SED,
der aktuelle Krieg im Bruderland Korea sei legitim als nationaler Befreiungskampf.
Und Dessaus Musik, die klinge ja wie Strawinsky, „ein in den USA lebender
Kosmopolit und ein fanatischer Zerstörer der europäischen Musiktradition.“ Nach
kleinen Änderungen wird das Stück dennoch gespielt. Am Pult der Berliner
Staatsoper, wie immer, Hermann Scherchen. Hier sind wir beim Verhör des
verstorbenen Lukullus im Totenreich. Dort soll er sich erklären vor dem Richter und
fünf Schöffen, im Leben ehemals Bauer, Lehrer, Bäcker, Fischweib und Kurtisane.
Dessau: Die Verurteilung des Lukullus, 8. Szene
5‘12“
Alfred Hülgers, W. Heyer-Krämer, F. Soot, Staatsopernchor und Staatskapelle
Berlin, Ltg. H. Scherchen
BMG 743217362 92
LC 0316
Die nachzutragenden Interpreten dieser Aufnahme, entstanden offenbar in
einem virenreichen Winter, waren Alfred Hülgers, Willy Heyer-Krämer, Fritz Soot
sowie der Staatsopernchor und die Staatskapelle Berlin.
Aus der Krise des Jahres 1950 geht Scherchen gestärkt hervor. Beflügelt zudem
von der durchaus harmonischen Ehe mit seiner neuen Frau, Pia, und nach und
nach fünf weiteren Kindern, die er „Pfeile in die Ewigkeit“ nennt und die die Zeit
seiner spärlichen Anwesenheit zu Hause später in bester Erinnerung haben. Der
letzte Lebensabschnitt Scherchens beginnt mit dem Erwerb eines alten
Bauernhauses im Tessin, in einem Dorf namens Gravesano. Er verkauft den Ars
Viva-Verlag an Schott in Mainz und verwendet das Geld für die Geräte eines
Studios, womit Scherchen sich seinen alten Traum von Klangforschung erfüllt.
Dazu lässt er einen fünfeckigen Raum bauen, der die gewöhnlichen Einflüsse des
Raumes, wo der Schall von allen Seiten reflektiert wird, neutralisieren soll.
„Gezeichnete Musik“ wie Mozart oder vollklingende Musik, „mit Pedal“, wie Liszt,
möchte Scherchen endlich einmal jeweils adäquat hören. Er experimentiert mit
Teppichen, Pferdedecken oder Eierkartons, um das Studio möglichst schalltot zu
halten – der Nachhall kommt aus dem Nebenzimmer - und er geht ebenfalls das
Problem der Verteilung des Klangs bei der Aufnahme an, die bei der
Wiedergabe eine räumliche Illusion erzeugen soll. Den dabei erfundenen
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„Stereophoner“ meldet Scherchen zum Patent an. All das betreibt er nicht allein,
vielmehr organisiert er in seinem Bauernhaus mit Wissenschaftlern, Musikern,
Technikern und Unterstützung der UNESCO interdisziplinäre Kongresse und gibt
die „Gravesaner Blätter“ heraus, eine „Zeitschrift für elektroakustische und
schallwissenschaftliche Grenzprobleme“. Von der Mailänder Scala, nicht allzu
weit entfernt vom Tessin, lässt Scherchen Musiker kommen, um mit ihnen in
seinem Studio Aufnahmen zu machen. Barockmusik in kleiner Besetzung, dazu
gibt es belegte Brote, Wasser aus der Quelle und viele hereinschauende Kinder,
darunter zwei der chinesischen, die bereits graue Mao-Jacken tragen; so erzählt
liebevoll Enrico Minetti, langjähriger Konzertmeister des Scala-Orchesters. Das als
Ersatz für die verschollenen Gravesano-Aufnahmen nun erklingen soll, mit
Wagners „Rienzi“-Ouvertüre; auch irgendwie barock.
Wagner: Ouvertüre zu „Rienzi“
Orchester der Mailänder Scala, Ltg. H. Scherchen
STR 13600 ohne LC
12‘36“
Hermann Scherchen hat eine Tradition begründet, die in Schönbergs Wiener
Schule bereits aufkeimt und nachmals fortgesetzt wurde durch Pierre Boulez oder
Michael Gielen. Sie lässt sich auf die Formel bringen: Alte Musik spielen, als sei sie
neu, noch niemals gehört – Neue Musik spielen, als sei sie alt und vertraut. Mit
solcher Haltung nähert der Interpret Scherchen sich Bach. Von Schönberg hat er
gelernt, dass es keine wichtigen und weniger wichtigen Noten gibt, alle sind
gleich bedeutsam. Das wendet er auch auf Bachs h-Moll-Messe an, die eine
solch strukturelle Klarheit besitzt, wie sie für das Aufnahmejahr 1959 keineswegs
selbstverständlich war. Kurz vor Scherchens Tod erscheint in den „Gravesaner
Blättern“ ein Aufsatz über dieses Werk, wo er schreibt: „Nie wieder ist in der Musik
eine solche Heiterkeit des Humanitären wirkend gewesen hinter allen Schauern
des die Geheimnisse von Gott, Menschheit, Tod und Schöpfung wieder und
wieder durchdenkenden Geistes.“ Scherchens eigener nämlich, geschult (und
sprachstilistisch verdorben) durch die Lektüre zahlreicher Philosophen seit seinen
ersten Nachtcafé-Mucken. Und der atheistische Kommunist fährt fort: „Die h-MollMesse ist ein Konzert, das nie endet, das hinter allem Leiden der Kreatur, der
Natur nicht entrinnen zu können, und hinter aller ‚Verzweiflung des Göttlichen‘,
noch immer nicht ankommen zu können beim Menschen, unbesiegbar
weitertönt.“
Bach: h-Moll-Messe, Dona nobis pacem CD 2, Tr. 13
3‘58“
Wiener Akademie Kammerchor, Orchester der Staatsoper Wien, Ltg. H.
Scherchen
Tah 737 ohne LC
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Die „Musikstunde“ mit Werner Klüppelholz ging zu Ende mit dem „Dona nobis
pacem“ aus Bachs h-Moll-Messe. Hermann Scherchen leitete den Wiener
Akademie Kammerchor und das Orchester der Staatsoper Wien.