SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde Die sieben Leben des Hermann Scherchen (4) Von Werner Klüppelholz Sendung: Donnerstag, 16. Juni 2016 Redaktion: Bettina Winkler 9.05 – 10.00 Uhr Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. 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Väterlich tritt er ihnen entgegen, wie er in einem Brief an seine fünfte Frau – Pia, eine aus Rumänien stammende Mathematiklehrerin – schreibt: „Ich habe hier drei entzückende Jungen vor mir, die ich am heutigen Abend aufführe. Alle drei noch rein, alle drei schwach, alle drei hochbegabt. Ich habe mich entschlossen, ihre Stücke nur auszugsweise aufzuführen.“ Was diese Nachwuchskomponisten nicht persönlich nehmen durften, denn vor seinen Kürzungen waren selbst Mozart oder Mahler nicht sicher. Scherchen ist freilich ein Vater, dem die Entwicklung seiner Schützlinge nicht behagt. In Darmstadt erlebt er aus nächster Nähe die Entstehung der seriellen Musik, die er für zu kompliziert und zu abstrakt hält. Scherchen versucht den jungen Leuten klar zu machen, dass solche extrem unsangliche Musik den Kontakt zur Natur verliere und dass sie - etwa mit Tempoangaben wie 63, 5 - auf dem Holzweg der unrealisierbaren Utopie seien; sie sollten erst einmal versuchen, glatte 63 ohne Metronom zu finden. Und als dann einer der Jungen – Pierre Boulez – noch ausruft „Schönberg ist tot“, brummt Scherchen, das sei ein entschiedener Irrglaube, „Schönberg als reaktionären Großpapa erledigt zu haben.“ Ihrerseits sind die Darmstädter Komponisten mit dem zuweilen unvorbereiteten Scherchen immer weniger zufrieden. Stockhausen ist mit dessen Leitung seiner „Kontrapunkte“ kreuzunglücklich und bei den Proben zu „Le Visage nuptial“ hört der Komponist Boulez mit dem Nörgeln nicht auf, bis Scherchen entnervt zu ihm spricht: „Dann machen Sie es doch selbst!“ Der, gänzlich unvorbereitet, fühlte sich „wie in kochendes Wasser geworfen“, aber in diesem Augenblick übernimmt der Dirigent Pierre Boulez ganz buchstäblich den Stab von Scherchen. Im übertragenen Sinn, als Anwalt der Neuen Musik, denn Taktstöcke haben sie beide nicht benutzt. 3 Nun Scherchens erste Uraufführung in Darmstadt, die in einem Gewächshaus stattfand, das den Krieg wundersam heil überstanden hatte. Es ist das Orchesterstück „Furioso“ seines Assistenten Rolf Liebermann. Zur Abwechslung steht Ferenc Fricsay am Pult des Radiosinfonieorchesters Berlin. Liebermann: Furioso RSO Berlin, Ltg. F. Fricsay M 0114049 7‘10“ 1950, als Scherchen kurz zuvor einen zweiten Ars Viva – Verlag gegründet hatte, schreibt Arnold Schönberg im fernen Los Angeles an einen Freund: „Es betrifft meine Beziehung zu einem der besten Dirigenten Europas, der außerdem Inhaber eines Musikverlags ist. Neuerdings sind Gerüchte aufgekommen, dass er Kommunist sein soll. Es wäre für mich ein schrecklicher Verlust, wenn ich den Kontakt zu ihm abbrechen müsste. Er ist einer der verständigsten Musiker, die ich kenne und er schätzt meine Musik sehr und führt sie auch hervorragend auf. Er hat große Pläne zur Aufführung von ‚Moses und Aron‘ und hat die Absicht, Partituren und Bücher von mir zu publizieren. Was soll ich tun?“ Wenige Tage später, inzwischen hatte Scherchen die europäische Erstaufführung von Schönbergs „Ein Überlebender aus Warschau“ realisiert, richtet sich Schönberg direkt an ihn. Nachdem er die Gefahr einer kommunistischen Weltherrschaft beschworen hat, fragt er Scherchen unverblümt: „Sind Sie Kommunist, ja oder nein?“ Und Scherchen antwortet ebenso direkt mit „Ja.“ Denn jede Revolution bisher habe nur die Macht verschoben, im Kommunismus aber werde sie ganz abgeschafft. Ohne den Glauben, dass die Welt veränderbar sei, könne und wolle er nicht weiterleben, doch gleichviel, wie Schönberg reagiere, er werde auch künftig stolz darauf sein, seinem Werk zu dienen. Schönberg wendet sich gar an die Kommunistenjäger in Washington, und erst als er erfährt, dass Scherchens Name auf keiner ihrer Listen steht, ist er beruhigt. Das war die Paranoia des Kalten Kriegs, die auf den alten Schönberg besonders heftig eingewirkt hat. Von seiner unvollendeten Oper „Moses und Aron“ war bis dahin noch kein einziger Takt erklungen. Elf Tage vor Schönbergs Tod führt Scherchen im Landestheater Darmstadt wenigstens einen zentralen Teil davon auf, die dritte Szene des zweiten Akts mit dem „Tanz um das Goldene Kalb“. Der Beifall des Publikums verstummte erst nach einer halben Stunde. Mag sein, weil die Einsicht, an die falschen Götter geglaubt zu haben, zu dieser Zeit noch frisch war. Aus jenem Konzert nun „Der Tanz um das Goldene Kalb“. Schönberg: Moses und Aron, II. Akt, 3. Szene, Ausschnitt Orchester des Landestheater Darmstadt, Ltg. H. Scherchen WWE 1 CD 31897 LC 0798 4‘28“ 4 Im selben Monat beschäftigt sich Scherchen noch mit einem ganz anderen Stoff, mit dem Barockkomponisten Pergolesi. Er beendet die Rekonstruktion seiner „Sieben letzten Worte Christi am Kreuz“, die Scherchen aus den Einzelstimmen des Stückes angefertigt hat, um der alten Musik ein neues Werk zu erschließen, das er sehr schön findet. Allerdings unterliegt er dabei dem gleichen Irrtum wie Strawinsky bei „Pulcinella“, die Musik stammt in beiden Fällen gar nicht von Pergolesi. Die sieben Worte von Joseph Haydn hingegen sind authentisch. In einem Brief an seine Frau Gustav beschreibt Scherchen die Umstände der Uraufführung dieses Stücks historisch korrekt, die am Tag verdunkelte Kathedrale von Cádiz, mit brennender Lampe über dem Altar, dem niederknienden Priester, der die Worte einzeln sprach, denen jeweils ein musikalischer Satz folgte und dass Haydn erst nachträglich die sieben letzten Worte Christi am Kreuz in die Musik eingefügt habe. „Das Werk“, schließt Scherchen, „gehört zum Innigsten und Erschütterndsten in der Musik. Wie bin ich froh, es zuerst wieder dem Vergessensschlaf entreißen zu können.“ Ob Letzteres wirklich stimmt, müssen auf die Plattenkenner der Haydn-Spezialisten entscheiden. Dennoch zeigt das Beispiel, dass sich Scherchen nicht nur als Geburtshelfer bei Uraufführungen verstand, sondern sich auch in der hohen Kunst der Wiederbelebung übte. Die Solisten sind Virginia Babikian, Eunice Alberts, John van Kesteren und Otto Wiener sowie der Wiener Akademie Kammerchor und das Orchester der Wiener Staatsoper. Haydn: Die sieben letzten Worte Christi am Kreuz , 1 - 4 V. Babikian, E. Alberts, J. van Kesteren, O. Wiener, Wiener Akademie Kammerchor, Orchester der Wiener Staatsoper, Ltg. H. Scherchen 1950 wird für Hermann Scherchen zum Schreckensjahr. Im Alter von 88 Jahren stirbt seine Mutter, die er offenbar sehr geliebt hat; die chinesische Frau geht mit den drei gemeinsamen Kindern nach Peking zurück und sowohl die Schweizer Rundspruch-Gesellschaft als auch das Musikkollegium Winterthur trennen sich von ihm; Scherchen glaubt, dieses Jahr nicht zu überleben. Seit seinem Aufenthalt in Russland hat er die Entwicklung in der Sowjetunion mit großem Wohlwollen verfolgt, dabei die Gräuel des Stalinismus ebenso ignorierend wie etwa JeanPaul Sartre. Nun kommt Scherchen von Konzerten in der Tschechoslowakei zurück, Rolf Liebermann will ihn noch warnen („Hermann, schwinge keine Propagandareden“), doch der hält einen Vortrag in Basel, wo er seiner Begeisterung über die tschechischen Verhältnisse freien Lauf lässt. Die Presse greift den Fall auf und kommt zu dem Schluss, „dass Dr. Scherchen angesichts seiner schon wiederholten politischen Entgleisungen an maßgebender Stelle des schweizerischen Radios untragbar geworden ist.“ Das Musikkollegium Winterthur schließt sich dem an, ein Ende nach fast drei Jahrzehnten. Bereits zuvor war 5 Scherchen auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs gescheitert, als in Leipzig ein neuer Chef des altehrwürdigen Gewandhaus-Orchesters gesucht wurde. Politisch wäre er der richtige Mann gewesen, wenn er sich nicht selbst diskreditiert hätte durch sein Engagement für die Neue Musik, die in der frühen DDR genauso verhasst ist wie bei den Nazis. Scherchen sitzt also zwischen allen Stühlen, doch dort sitzt er nicht allein. Die DDR-Bewohner Paul Dessau und Bertolt Brecht haben gemeinsam eine Oper geschrieben, „Die Verurteilung des Lukullus.“ Darin wird der römische Feldherr mit dem feinen Gaumen angeklagt, bei seinen Schlachten viele Menschen geopfert zu haben, Brecht wendet sich hier gegen Krieg überhaupt. Das sei eine ganz falsche Sichtweise, befinden die Zensoren der SED, der aktuelle Krieg im Bruderland Korea sei legitim als nationaler Befreiungskampf. Und Dessaus Musik, die klinge ja wie Strawinsky, „ein in den USA lebender Kosmopolit und ein fanatischer Zerstörer der europäischen Musiktradition.“ Nach kleinen Änderungen wird das Stück dennoch gespielt. Am Pult der Berliner Staatsoper, wie immer, Hermann Scherchen. Hier sind wir beim Verhör des verstorbenen Lukullus im Totenreich. Dort soll er sich erklären vor dem Richter und fünf Schöffen, im Leben ehemals Bauer, Lehrer, Bäcker, Fischweib und Kurtisane. Dessau: Die Verurteilung des Lukullus, 8. Szene 5‘12“ Alfred Hülgers, W. Heyer-Krämer, F. Soot, Staatsopernchor und Staatskapelle Berlin, Ltg. H. Scherchen BMG 743217362 92 LC 0316 Die nachzutragenden Interpreten dieser Aufnahme, entstanden offenbar in einem virenreichen Winter, waren Alfred Hülgers, Willy Heyer-Krämer, Fritz Soot sowie der Staatsopernchor und die Staatskapelle Berlin. Aus der Krise des Jahres 1950 geht Scherchen gestärkt hervor. Beflügelt zudem von der durchaus harmonischen Ehe mit seiner neuen Frau, Pia, und nach und nach fünf weiteren Kindern, die er „Pfeile in die Ewigkeit“ nennt und die die Zeit seiner spärlichen Anwesenheit zu Hause später in bester Erinnerung haben. Der letzte Lebensabschnitt Scherchens beginnt mit dem Erwerb eines alten Bauernhauses im Tessin, in einem Dorf namens Gravesano. Er verkauft den Ars Viva-Verlag an Schott in Mainz und verwendet das Geld für die Geräte eines Studios, womit Scherchen sich seinen alten Traum von Klangforschung erfüllt. Dazu lässt er einen fünfeckigen Raum bauen, der die gewöhnlichen Einflüsse des Raumes, wo der Schall von allen Seiten reflektiert wird, neutralisieren soll. „Gezeichnete Musik“ wie Mozart oder vollklingende Musik, „mit Pedal“, wie Liszt, möchte Scherchen endlich einmal jeweils adäquat hören. Er experimentiert mit Teppichen, Pferdedecken oder Eierkartons, um das Studio möglichst schalltot zu halten – der Nachhall kommt aus dem Nebenzimmer - und er geht ebenfalls das Problem der Verteilung des Klangs bei der Aufnahme an, die bei der Wiedergabe eine räumliche Illusion erzeugen soll. Den dabei erfundenen 6 „Stereophoner“ meldet Scherchen zum Patent an. All das betreibt er nicht allein, vielmehr organisiert er in seinem Bauernhaus mit Wissenschaftlern, Musikern, Technikern und Unterstützung der UNESCO interdisziplinäre Kongresse und gibt die „Gravesaner Blätter“ heraus, eine „Zeitschrift für elektroakustische und schallwissenschaftliche Grenzprobleme“. Von der Mailänder Scala, nicht allzu weit entfernt vom Tessin, lässt Scherchen Musiker kommen, um mit ihnen in seinem Studio Aufnahmen zu machen. Barockmusik in kleiner Besetzung, dazu gibt es belegte Brote, Wasser aus der Quelle und viele hereinschauende Kinder, darunter zwei der chinesischen, die bereits graue Mao-Jacken tragen; so erzählt liebevoll Enrico Minetti, langjähriger Konzertmeister des Scala-Orchesters. Das als Ersatz für die verschollenen Gravesano-Aufnahmen nun erklingen soll, mit Wagners „Rienzi“-Ouvertüre; auch irgendwie barock. Wagner: Ouvertüre zu „Rienzi“ Orchester der Mailänder Scala, Ltg. H. Scherchen STR 13600 ohne LC 12‘36“ Hermann Scherchen hat eine Tradition begründet, die in Schönbergs Wiener Schule bereits aufkeimt und nachmals fortgesetzt wurde durch Pierre Boulez oder Michael Gielen. Sie lässt sich auf die Formel bringen: Alte Musik spielen, als sei sie neu, noch niemals gehört – Neue Musik spielen, als sei sie alt und vertraut. Mit solcher Haltung nähert der Interpret Scherchen sich Bach. Von Schönberg hat er gelernt, dass es keine wichtigen und weniger wichtigen Noten gibt, alle sind gleich bedeutsam. Das wendet er auch auf Bachs h-Moll-Messe an, die eine solch strukturelle Klarheit besitzt, wie sie für das Aufnahmejahr 1959 keineswegs selbstverständlich war. Kurz vor Scherchens Tod erscheint in den „Gravesaner Blättern“ ein Aufsatz über dieses Werk, wo er schreibt: „Nie wieder ist in der Musik eine solche Heiterkeit des Humanitären wirkend gewesen hinter allen Schauern des die Geheimnisse von Gott, Menschheit, Tod und Schöpfung wieder und wieder durchdenkenden Geistes.“ Scherchens eigener nämlich, geschult (und sprachstilistisch verdorben) durch die Lektüre zahlreicher Philosophen seit seinen ersten Nachtcafé-Mucken. Und der atheistische Kommunist fährt fort: „Die h-MollMesse ist ein Konzert, das nie endet, das hinter allem Leiden der Kreatur, der Natur nicht entrinnen zu können, und hinter aller ‚Verzweiflung des Göttlichen‘, noch immer nicht ankommen zu können beim Menschen, unbesiegbar weitertönt.“ Bach: h-Moll-Messe, Dona nobis pacem CD 2, Tr. 13 3‘58“ Wiener Akademie Kammerchor, Orchester der Staatsoper Wien, Ltg. H. Scherchen Tah 737 ohne LC 7 Die „Musikstunde“ mit Werner Klüppelholz ging zu Ende mit dem „Dona nobis pacem“ aus Bachs h-Moll-Messe. Hermann Scherchen leitete den Wiener Akademie Kammerchor und das Orchester der Staatsoper Wien.
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