Musikstunde: Geigenbauer I

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
Die sieben Leben des Hermann
Scherchen (3)
Von Werner Klüppelholz
Sendung:
Mittwoch, 15. Juni 2016
Redaktion:
Bettina Winkler
9.05 – 10.00 Uhr
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
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„Musikstunde“ mit Werner Klüppelholz
Die sieben Leben des Hermann Scherchen
SWR 2, 13. – 17. Juni 2016, 9h05 – 10h00
III
…mit Werner Klüppelholz, guten Morgen und willkommen zu „Die sieben Leben
des Hermann Scherchen“, Teil III
Indikativ
In Deutschland war 1933 Hermann Scherchens Bleiben nicht länger. Der hoch
gewachsene, blonde, blauäugige „Arier“ hatte sich – abgesehen von seiner
politischen Haltung – zu sehr auf die Neue Musik eingelassen; ihn traf das
nazistische Schwachsinns-Schimpfwort „Kulturbolschewist“ - erfunden von Hans
Pfitzner - mithin gleich doppelt. Scherchen wandert durch Europa, wohnt
kurzzeitig am Luganer See, dann in Straßburg, vorübergehend in Cambridge, wo
der mit Auguste gemeinsame Sohn lebt, dessen Erziehung er bislang postalisch
betrieben hatte, und lässt sich schließlich für längere Zeit im schweizerischen
Neuchâtel nieder. Was ebenfalls der Generationsgenosse Erich Kleiber erlebte:
Goebbels möchte die international bekannten Dirigenten wieder heim ins Reich
holen, doch Scherchen lehnt ebenso ab wie jener. Von der Westschweiz ist die
Ostschweiz nicht allzu fern, wo Scherchen weiterhin in jeder Saison zehn Konzerte
zu leiten hat. Das Musikkollegium Winterthur, gegründet 1630, hatte eine lange
Geschichte, doch nur eine geringe Größe. Ganze 28 Musiker fand Scherchen am
Anfang vor, neben Profis auch Dilettanten wie den Apotheker oder den
Weinhändler des Städtchens; bei Bedarf wurde das Orchester vergrößert. Werner
Reinhart, der alles finanzierte, saß selbst bescheiden an der dritten Klarinette.
Winterthur war für Scherchen ein Refugium, ein Ort, um einmal Atem zu holen auf
seinem Marathonlauf durchs Leben, aber zugleich waren die Verhältnisse
paradiesisch für ihn in einem weiteren Sinn; er konnte proben nach Herzenslust
und – ebenso wichtig – Scherchen konnte das Orchester erziehen, was Canetti
maliziös „vergewaltigen“ heißt. In seinem bekannten Buch „Masse und Macht“
bezeichnet Canetti den Dirigenten, Scherchen vor Augen, als „perfekte
Verkörperung der Macht“. Die Musiker in Winterthur hatten größte Achtung vor
Scherchens Autorität, denn beispielsweise hörte er die Quelle eines Fehlers sehr
genau und kannte die Fingersätze eines jeden Instruments; und sie hatten eine
nicht geringere Angst vor seinen Ausbrüchen. „Man muss ein Schwein sein, um
gute Musik zu machen“, bekennt Scherchen ganz offen. In dieser Hinsicht ist er
ein vollwertiges Mitglied der alten Kapellmeister-Schule, von Gustav Mahler über
Toscanini bis Karl Böhm. Wie bei Mahler mussten die Musiker brennen vor
Leidenschaft, und wenn einer kalt blieb, rief Scherchen „Sie gehören zu den
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kleinen Huren ins Niederdorf.“ Allerdings – so hat er den Apotheker, den
Weinhändler und alle anderen musikalisch entschieden weiter gebracht. Hier die
Winterthurer mit der Ouvertüre zu Offenbachs Operette „Orpheus in der
Unterwelt“, aufgenommen 1942.
Offenbach: Orpheus in der Unterwelt, Ouvertüre
Stadtorchester Winterthur, Ltg. H. Scherchen
DRA
8‘33“
Wie später Pierre Boulez lag Hermann Scherchen die Verbreitung des Neuen in
der Musik wirklich am Herzen. Daher führt er nun sogenannte Arbeitstagungen
durch, meist verbunden mit einem Dirigierkurs, dort wo es noch möglich ist, in
Straßburg, Paris, Genf, Budapest oder Brüssel. Hier gründet er - mit der gleichen
Absicht – ebenfalls einen Musikverlag namens „Ars viva“ und eine neue Zeitschrift
gleich mit, betitelt „Musica Viva“; ganze drei Hefte kamen zum Druck. Im Verlag
erscheinen zeitgenössische Partituren, aber auch die Bearbeitungen alter Musik,
die Scherchen nebenbei immer wieder vornimmt, Werke von Lully, Purcell, Haydn
oder Schubert. All das geht ins Geld, das Scherchen nicht besaß. Er nimmt bei
Freunden diverse Darlehn auf und ist für lange Jahre ziemlich pleite.
Die Mischung des Alten mit dem Neuen (oder umgekehrt) ist ein Grundprinzip
von Scherchens Handeln, ebenfalls bei den Programmen in Winterthur. Er spielt
alles zwischen Monteverdi und Tschaikowsky, daneben die heute klassische
Moderne, Bartók, Strawinsky, Wiener Schule und über fünfzig Uraufführungen,
vorwiegend von Schweizer Tonsetzern wie Burkhard, Vogel, Schoeck,
Moeschinger oder Ferroud (die beiden letzten Namen hatte ich vorher auch
noch nie gehört). Und selbstredend alles vom bekanntesten Komponisten der
Schweiz, von Arthur Honegger. Der war, wie Dvorak, ein großer Liebhaber von
Lokomotiven,
was die Tonkunst um das Orchesterstück „Pacific 231“ bereichert hat. Das ist der
Name einer amerikanischen Schnellzuglokomotive mit zwei kleineren
Vorlaufrädern, drei großen Antriebsachsen und einem weiteren Rad, auf dem
der Führerstand ruht. Wer mag, kann mit den Ohren beobachten, wie die
stehende Dampflok anfährt und immer mehr beschleunigt; oder man konzentriert
sich auf die Choralvariationen, die in dem Stück ebenfalls enthalten sind.
Hermann Scherchen leitet das London Philharmonic Orchestra.
Honegger Pacific 231
London Philharmonic Orchestra, Ltg. H. Scherchen
DRA
6‘28“
Am Dirigierkurs in Budapest nimmt ein junger Schweizer teil, der diese Begegnung
im Rückblick als lebensentscheidend bezeichnen und Scherchen den „größten
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Musiker des 20. Jahrhunderts“ nennen wird. Das sagt nicht ein wichtigtuerischer
Ignorant, sondern Rolf Liebermann, ein überaus interessanter Komponist und
zugleich, in Hamburg und Paris, immerhin der bedeutendste Opernintendant des
Jahrhunderts. Im Budapester Kurs, er ging von morgens fünf bis Mitternacht,
stand ein Orchester natürlich nicht zur Verfügung, vielmehr hatte der Student
Scherchen zu dirigieren. Der pfiff die Musik, wobei er sich nicht auf die Melodie
der Oberstimme beschränkte, sondern unversehens von Instrument zu Instrument
sprang, vom Horn in die Flöte, von der Klarinette in die Bratsche. Die Rhythmen
von Strawinskys Sacre wurden mit dem Bleistift auf dem Tisch geklopft, Bachs
Instrumentalmusik hingegen wurde gesungen. Scherchen macht Liebermann zu
seinem Assistenten und der zwischenzeitlich in vierter Ehe, diesmal mit einer
Chinesin Verheiratete schreibt an seine zweite Frau: „Ich habe jetzt einen
Privatsekretär genommen, einen Schüler von mir, der Schweizer ist und – als bis
vor kurzem sehr reicher Junge – überall bekannt ist und gute gesellschaftliche
Beziehungen hat.“ Die nutzt Rolf Liebermann, um einmal vor einem richtigen
Orchester zu stehen, das der Lehrer nicht bezahlen kann.
Liebermann reist für einige Tage nach Zürich und kommt mit so viel Geld zurück,
das Scherchen ermöglicht, in Wien das „Musica Viva“- Orchester zu gründen.
Überwiegend mit jüdischen Musikern, die in den anderen Orchestern bereits in
vorauseilendem Gehorsam entlassen worden waren; wir sind noch vor dem
Anschluss Österreichs. Das erste Werk war nicht weniger als Mahlers Neunte
Sinfonie. Sie sollte der Beginn eines kompletten Zyklus werden und das 1937,
lange vor dem Mahler-Boom. Auf der Empore des Musikvereinssaals hört ein
älterer Herr zu, der noch bei Mahler selbst das Dirigieren gelernt und dessen
Neunte uraufgeführt hat und nun aus dem Staunen nicht mehr herauskommt.
Wie fabelhaft klingen plötzlich diese Musiker, die er, Bruno Walter, bloß zur
Aushilfe eingesetzt hatte. Sie haben nur das gespielt, was in den Noten steht,
erklärt ihm anschließend Scherchen fast entschuldigend. Hier ein Ausschnitt aus
dem vierten Satz, mit den Wiener Sinfonikern, geleitet von Hermann Scherchen.
Mahler: IX. Sinfonie, 4. Satz
Wiener Sinfoniker, Ltg. H. Scherchen
Orfeo C 228 901 A LC 8175
Eine der vielen Konzertreisen Scherchens führt ihn zu dieser Zeit zum PalestineOrchestra nach Tel Aviv. Gegründet vom weltbekannten Geiger Bronislaw
Huberman, bestand es aus jüdischen Emigranten, die den Nazis aus Deutschland
und Österreich entronnen waren. „Diese Tat“, kommentiert Scherchen, „in einer
Zeit der Niederbrüche, hoffnungslosen Verzweiflungen und
Gesinnungslumpereien gehört zu den Marksteinen menschlicher
Selbstbehauptung.“ Mit größtem Elan geht er die Probleme dieser
zusammengewürfelten Truppe an, arbeitet intensiv und begeistert die Musiker so
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sehr, dass sie ihn am Ende gar nicht mehr ziehen lassen wollen. Auch Leo
Kestenberg ist enthusiasmiert, der in der Weimarer Zeit - und bis heute wirksam das deutsche Musikleben entscheidend geprägt hat und jetzt Manager des
Orchesters ist. Scherchen interessiert sich ebenfalls für die gesellschaftliche
Situation der Menschen und äußert sein Unverständnis über die feindliche
Haltung der Juden gegenüber den Arabern, die doch nur auf Eseln reiten
würden, während die Juden schon Autos besäßen. Trotz der unerträglichen
Sommerhitze verlängert er seinen Aufenthalt in Palästina, um noch einen
Dirigierkurs abzuhalten, dabei bekleidet mit nichts als einer Unterhose, und auch
das nur „wegen der Mädchen“, wie ein Teilnehmer berichtet. Später konnte es
vorkommen, dass Scherchen splitternackt die Wohnungstür öffnete und schlicht
zum Besucher sagte: „Come in!“ Erbe der Jugendbewegung oder
fortgeschrittene Zerstreutheit? Neue Musik stand bei seinen Konzerten in Tel Aviv,
Haifa und Jerusalem nicht auf dem Programm, mit einer Ausnahme, „Pelleas und
Melisande“, das erste der Werke Schönbergs, die Scherchen in seiner Jugend
zutiefst beeindruckt hatten. „Das war“, erzählt ein beteiligter Oboist, „für unser
Publikum damals ultramodern und vollkommen neu. Er hat es durchgespielt, eine
Pause gemacht, dann darüber einen Vortrag gehalten und das Stück noch
einmal gespielt, damit die Leute es besser verstehen.“ Hier leitet Scherchen das
Rundfunksinfonieorchester des WDR.
Schönberg: Pelleas und Melisande op. 5, Beginn mit Oboen-Solo
RSO des WDR Köln, Ltg. H. Scherchen
DRA
8‘19“
Zurück in die Schweiz, wo Scherchen während des Zweiten Weltkriegs eine
Dirigentenklasse am Berner Konservatorium leitet, Kurse über „Vier Jahrhunderte
orchestraler Musik“ abhält und im Dorf Gstaad Beethovens Neunte aufführt, mit
einem neuen „Musica Viva“- Orchester und einem Chor aus Lehrern und Bauern.
Die Schweizerische Rundspruchgesellschaft tritt an Scherchen heran, und er zieht
nach Zürich, wird Musikchef bei Radio Beromünster, dem deutschsprachigen
Sender der Schweiz, und zugleich Leiter des dortigen Mini-Orchesters. Erneut ist
Rolf Liebermann Scherchens rechte Hand, diesmal als Tonmeister, der bei
Aufnahmen die Mikrophone so platzieren soll, dass wenige Musiker den Eindruck
von vielen erwecken. Scherchens Ziel bleibt in Beromünster das gleiche wie
seinerzeit am Sender Königsberg: Die gespeicherte Musik soll genau so klingen,
wie er sie am Dirigentenpult hört. Daher verändert er im Studio ständig all das bei
der Aufstellung des Orchesters, was ihm im Konzertsaal schon lange missfallen
hat. Wo die Pauke ganz hinten steht und ihr Schall von der Rückwand noch
verstärkt wird, die Töne der Tuba nur die Decke treffen oder die Schalltrichter der
Hörner gegen die Wand gerichtet sind, was ihre Klangfarbe verzerrt.
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Um diese Zeit, als noch der Rundfunk auf Langwelle alle Kontinente erreichte,
notiert Scherchen ein „Bekenntnis zum Radio“, das für ihn in seiner
weltumspannenden Menschheitsverbindung dem Buchdruck vergleichbar ist.
Anders als im Konzertsaal mit seinen Störungen und Ablenkungen der Blicke
erlaube der Rundfunk eine vollkommene Konzentration auf die Musik, hier sei sie
„endlich autonom“ geworden. Die heutige Lage des Radios als so genanntes
Begleitmedium hat der Idealist offenbar nicht vorausgesehen, wo schon so
manche Sinfonie vom Föhn übertönt oder von der Petersilien-Präparierung
zerhackt wurde. Eines bleibt der Rundfunk immerhin, ein Weg zur
Demokratisierung der Tonkunst, an der nunmehr jeder teilhaben kann,
Scherchens zentrales Anliegen seit seinen Konzerten in Arbeitervierteln. Um
diesen Weg zu erleichtern, verfasst er eine Allgemeine Musiklehre, mit zahlreichen
Notenbeispielen, am Anfang steht „Fuchs, du hast die Gans gestohlen.“ Das
Buch trägt den Titel „Musik für Jedermann“ und ist „Dem unbekannten
Radiohörer“ gewidmet. Hören wir zum Abschluss ein Ergebnis der Arbeit
Scherchens bei jenem Schweizer Sender, das Finale aus Schuberts V. Sinfonie mit
dem Studio-Orchester von Radio Beromünster im Jahr 1945.
Schubert: V. Sinfonie, 4. Satz
Studio-Orchester von Radio Beromünster, Ltg. H. Scherchen
Gravesano 1891 – 3 ohne LC
4‘35“
Diese „Musikstunde“ mit Werner Klüppelholz ging zu Ende mit dem Finale aus
Schuberts
V. Sinfonie, gespielt vom Studio-Orchester von Radio Beromünster, geleitet von
unserer Titelfigur Hermann Scherchen.