SWR2 Zeitwort

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Zeitwort
16.06.1908
Die Transsibirische Eisenbahn bekommt einen doppelten
Gleissstrang
Von Pit Klein
Sendung: 16.06.2016
Redaktion: Ursula Wegener
Produktion: SWR 2016
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des
Urhebers bzw. des SWR.
Service:
SWR2 Zeitwort können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter
www.swr2.de oder als Podcast nachhören:
http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/zeitwort.xml
Autor:
Das Datum ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit falsch. Mit dem Bau
der heute noch längsten Bahn der Welt ist nämlich erst ein knappes Jahrzehnt vor
dem Ende des vorigen Jahrhunderts begonnen worden, sodass sie in Meyers
Konversationslexikon, das kurz vor der Jahrhundertwende herausgekommen ist,
noch gar nicht drinsteht. Da steht lediglich die Eisenbahn als solche drin, und die war
schon ein Jahrhundertwerk für sich. Die erste Eisenbahn, die dem öffentlichen
Verkehr diente, dampfte zwischen den englischen Orten Stockton und Darlington
hin.und her. Ein Viertel des vorigen Jahrhunderts war bereits, verstrichen, und die
Menschen hatten sich an die Zeit, in der sie mit Postkutschen und Schiffen
bestimmte Strecken zurücklegten, so sehr gewöhnt, dass sie mit der Eisenbahn und
der Geschwindigkeit zunächst überhaupt nicht zurecht kamen. Das Lied von dem
Bäuerle, der mit der schwäbsche Eisebahne fuhr und seinen Geißbock an den
letzten Wagen band, ist bekannt. Es bezeugt nicht, dass schwäbische Bauern der
damaligen Zeit dämlicher waren als andere Bauern, sondern vielmehr, dass sie sich
alle nicht klarmachten, dass ein Geißbock zwar mit einem Pferdefuhrwerk oder
einer.Kutsche, nicht aber mit einer Eisenbahn Schritt halten konnte. Deshalb kam
denn auch das Bäuerle an, der Bock hingegen nicht. Deshalb ist.aus heutiger Sicht
die lexikalische Erkenntnis voll und ganz zu bejahen: "Aus diesen Anfängen hat sich
das Eisenbahnwesen zu dem mächtigsten Kulturhebel der Neuzeit entwickelt."
Heinrich Heine schrieb bei der Eröffnung der Linien von Paris nach Rauen und
Orleans ahnungsvoll: " Was wird das erst geben, wenn die Linien nach Belgien und
Deutschland ausgeführt und mit den dortigen Bahnen verbunden sein werden! Mir
ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt." Was wird das
erst geben, lieber Heinrich Heine, wenn die Kontinente dieser Erde durch Flugzeuge
miteinander verbunden werden und der ozeanische Raum dazwischen vernichtet
wird? Dann wird so eine Eisenbahn wie die Transsibirische geradezu
raumpflegerische Qualitäten zurückgewinnen können. Von Moskau bis Wladiwostok,
über Jaroslawel, Swerdlowsk, Omsk, Nowosibirsk, Krasnojarsk, Ir-kutsk, Ulan-Ude,
Tschita und Chabarowsk. In fünf Tagen und fünf Nächten. Und Tage und Nächte vor
den Abteilfenstern Taiga und Tundra, ein winterliches Meer runder Eisschollen oder
im Sommer auf.tausenden von Kilometern nur Birken und Sonnenblumen. Und darunter Erdöl, Erdgas, Eisen, Kupfer, Zinn, Phosphate, Braunkohle, Steinkohle Bodenschätze in größeren Mengen als anderswo auf der Welt. Die englische
Eisenbahn war das Ergebnis der Industrialisierung, die Eisenbahnen der USA waren
ihre Voraussetzung. Die Transsib, wie sie auf russisch genannt wird, hat die
Industrialisierung der zwölfmillionen Quadratkilometer Sibiriens noch vor sich. Sie
verbindet als Hauptverkehrsader die Oberläufe der von Süden nach Norden
fließenden Ströme, durch Zweigbahnen sind weitere sibirische Wirtschaftsräume
angeschlossen. Doch nicht vollkommen angeschlossen. Ganz zu schweigen von
einer zweiten Transsibirischen Eisenbahn, der Bai-kal-Amur-Magistrale. Mitte der
achtziger Jahre war sie eingleisig verlegt, der "komplexen Entwicklung der
Produktivkräfte der fernöstlichen Wirtschaftsregion" stand nichts mehr im Wege, aber
dann wurde es sehr ruhig um die Magistrale. Ende der Achtziger machte sich dann
einer von der Izvestija auf, um nach den Ursachen für diese Ruhe zu forschen. Und
1
er schrieb: "Auf den kleinen Bahnstationen und Ausweichstellen im Ostabschnitt der
Baikal-A-mur-Magistrale herrscht im Allgemeinen eine vollständige Verödung“. Und
deshalb ist es auch richtiger, wenn es heißt, die Transsib sei nicht 1908, sondern
1938 zweigleisig geworden. Und das kann durchaus heute gewesen sein.
2