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DIEZEIT
WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR
9. JUNI 2016 No 25
Es lebe der Sand!
Unterwegs an der
Costa Verde – auf
der Suche nach dem
einsamsten Traum‑
strand Brasiliens
Z – Zeit zum Entdecken, Seite 58
Was geschieht nach dem Brexit?
ZEIT-Reporter haben in ganz Europa
recherchiert. Dazu schreiben 12 britische
Künstler und Intellektuelle, warum sie
gegen den Austritt sind – oder dafür
Volle Deckung
Ein Magazin
über den richtigen
Umgang mit
hohen Risiken
POLITIK UND FEUILLETON
24 SEITEN BEILAGE
BUNDESPRÄSIDENT
EUROPAMEISTERSCHAFT
Das Vermächtnis
Zarter Stolz
Deutschland braucht Joachim Gauck heute mehr denn je. Das
Ende seiner Amtszeit birgt eine bittere Pointe VON MATTHIAS GEIS
E
s gab Zeiten, da erschien Joachim
Gaucks Emphase für Freiheit und
Demokratie weniger wie der zeit‑
gemäße Modus eines Bundesprä‑
sidenten als wie die biografisch
plausible Marotte eines ehemaligen
DDR-Bürgerrechtlers. Heute ist solche Skepsis
ganz unzeitgemäß. Gaucks Lebensthema ist für
die Republik aktueller und essenzieller denn je.
Das ist der Grund, warum seine Entscheidung
gegen eine zweite Amtszeit so bedauerlich, ja
beunruhigend wirkt. Eigentlich ist Joachim Gauck
heute unersetzlich.
Dennoch hat er mit seinem Entschluss alles
richtig gemacht. Weder wollte er seiner Amts­
begeisterung nachgeben noch dem Drängen der
versammelten politischen Klasse. So dramatisch
einem die öffentliche Dimension seines Ver‑
zichts jetzt vorkommen mag, so verständlich ist
die persönliche. Gauck hat nicht einfach nur das
Amt, sondern auch sich selbst darin genossen.
Die Verlockung, im Bellevue zu bleiben, war si‑
cherlich groß. Umso mehr zählt, dass er sich von
solchen Gefühlen den nüchternen Blick auf sein
Alter und seine gesundheitlichen Perspektiven
nicht verstellen ließ. Selbst er sei nicht unsterb‑
lich, kokettierte er zu Wochenbeginn. Gauck hat
das Risiko einer zweiten Amtszeit im Schatten
schwindender Kräfte klar gesehen, und er hat
daraus die vernünftige Konsequenz gezogen.
Gaucks Programm ist die Begeisterung für
das Land und dafür, wie es geworden ist
Wollte man heute den Impuls seiner Präsident‑
schaft benennen, wäre es der Versuch, der Repu‑
blik ihre unerwartet glückliche Entwicklung
ganz zu Bewusstsein zu bringen. Gauck möchte
die Deutschen mit sich selbst befreunden. Sein
Programm ist die Begeisterung für das Land und
dafür, wie es seinen Weg gefunden hat. Er will
das Potenzial der deutschen Gesellschaft sichtbar
machen, aber auch die Verantwortung, die da‑
mit einhergeht. Als er zu Beginn seiner Amtszeit
diese Intention erkennen ließ, erschien sie nicht
nur aussichtsreich, sondern war im Begriff, sich
zu erfüllen. Die Republik war in guter Verfas‑
sung. Umso bitterer wirkt die Pointe, dass jetzt,
wo das Ende seiner Präsidentschaft in den Blick
gerät, die demokratischen Grundlagen, die Ge‑
lassenheit und die Verantwortungsbereitschaft
der Deutschen nicht mehr so selbstverständlich
erscheinen. Was bislang als unhintergehbarer­
zivilisatorischer und demokratischer Standard
galt, wird von einem wachsenden Teil der Bevöl‑
kerung plötzlich infrage gestellt.
Dabei haben die Deutschen ganz im Sinne
ihres Präsidenten während der Flüchtlingskrise
in ungekanntem Ausmaß Offenheit und Ver‑
antwortungsbereitschaft gezeigt. Zugleich aber
geriet die Willkommenskultur zur Initialzün‑
dung einer politischen Gegenbewegung, die
Gaucks Bild der Bundesrepublik drastisch kon‑
terkariert. Intoleranz, Demokratieverachtung,
Fremdenfeindlichkeit: Das sind die neuen Ten‑
denzen, die nun die Schlussphase seiner Präsi‑
dentschaft überschatten.
Dass auch hierzulande, nicht nur in den
Nachbarländern, Parteien und Bewegungen
Konjunktur bekommen, die gegen Europa,­
Demokratie und Flüchtlinge hetzen, hat sich
Gauck noch vor Kurzem nicht vorstellen kön‑
nen. Zu stabil erschien das historische Tabu. Das
Befremden, ja die Wut über die plötzlichen­
Anfechtungen seines geliebten, weltoffenen
Deutschlands hat Gauck bislang nur sehr zu‑
rückhaltend zum Ausdruck gebracht. Er wirkt,
wie die meisten Deutschen, von der jüngsten
Entwicklung überrascht.
Aber Gauck wäre nicht Gauck, würde er sich
durch die Wahlerfolge der Rechtspopulisten
oder den Zulauf zu Pegida in seinem demokra‑
tischen Optimismus und seinem Vertrauen in
die Deutschen und ihre Institutionen irrema‑
chen lassen. Den Umschlag von Selbstbewusst‑
sein, auch Selbstgenügsamkeit in Hysterie, der
allenthalben zu beobachten ist, wird er nicht
mit­machen.
Gaucks Stimme reicht bis in das Milieu, das
sich als anfällig für antidemokratische Stimmun‑
gen erweist. Das ist in der politischen Elite der
Republik eine äußerst selten gewordene Kom‑
petenz. Gerade deshalb hat ihn das Land gegen
Ende seiner Amtszeit noch nötiger als zu Beginn.
Als er Präsident wurde, war nur das Amt beschä‑
digt, heute stehen Liberalität und demokratische
Stabilität der Republik zur Debatte.
Gäbe es ihn nicht, man müsste ihn erfinden.
Es wird schwer sein, ihn zu ersetzen. Doch ganz
im Sinne Gaucks hilft auch im Falle seiner
Nachfolge am Ende nur das eine: demokratische
Zuversicht.
www.zeit.de/audio
Mit allen Mitteln
gegen Traurigkeit
Antidepressiva
werden heute schnell
verschrieben. Aber
wirken sie auch?
ZEITmagazin, Seite 16
Diese Fußball-EM kommt gerade recht: Sie fördert in Zeiten der
Verunsicherung das Gefühl kollektiver Stärke VON CATHRIN GILBERT
J
PROMINENT IGNORIERT
érôme Boateng und Antonio Rüdiger sind Kohl und François Mitterrand 1984 an der
schwarz, und sie bilden das Herz der deut‑ Hand hielten. Oder in Ausnahmezuständen,
schen Nationalmannschaft (hoffentlich wird ausgedrückt in der Anteilnahme unter dem Slo‑
Rüdiger nach seiner Verletzung schnell gan Je suis Charlie nach dem Anschlag auf die
wieder fit), sie bestimmen den Rhythmus, Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Ohne Emotio‑
das Tempo und das Gefühl. Sie strahlen nen kann jedoch keine Identität entstehen, und
Selbstbewusstsein aus, niemand wird häufiger an‑ so begreifen wir uns als Berliner, als Deutsche,
gespielt und angeschaut als die Innenverteidiger, sie die wenigsten jedoch als Europäer.
Die Nationalspieler lernen, europäisch zu
bauen den Angriff auf und fangen den Gegner ab.
Allein können sie nicht überzeugen, sie entwickeln fühlen. Acht deutsche Athleten spielen im Aus‑
land: Unter anderem Antonio Rüdiger in Italien,
ihre Stärke als Zweierbündnis im Kollektiv.
Die beiden verbindet noch mehr: Sie haben Lukas Podolski und Mario Gómez in der Türkei,
deutsche und afrikanische Wurzeln. Der eine, Bastian Schweinsteiger, Mesut Özil und Emre
Boateng, hat einen ghanaischen Vater, der andere Can in England. Nationaltrainer Joachim Löw
eine Mutter aus Sierra Leone. Beide stammen aus sagt, er profitiere von diesen Erfahrungsschätzen.
Neukölln, von Berlin aus eroberten sie, jeder auf Genauso wie sein türkischer Kollege Fatih Terim,
dessen Spieler größtenteils
seine Art, den Kontinent. Boa‑
in Deutschland aufgewachsen
teng spielt für die Bayern, Rü‑
sind und ausgebildet wurden.
diger für den AS Rom. Sie sind
Spricht man mit den Spielern
Kinder des bunten und erfolg‑
über ihre Erlebnisse, erzählen
reichen europäischen Fußballs.
2 Seiten Fußball jede Woche
sie von einem Gefühl, das sie
Am Freitag beginnt die Eu­
»Wir sind kein Hühnerhaufen«
im Ausland erst kennenge‑
ro­pameisterschaft mit dem Er‑
Gespräch mit Oliver Bierhoff.
lernt haben: den Stolz auf ihre
öffnungsspiel zwischen Frank­
Thomas Hitzlsperger: Was im
deutsche Heimat.
reich und Rumänien in Paris.
Trainingslager läuft S. 18/19
Dieser zarte Nationalstolz,
Viele der teilnehmenden Spie‑
der sowohl bei Spielern als
ler sind wie Rüdiger und Boa‑
auch bei Fans zu finden ist,
teng in verschiedenen Kulturen
aufgewachsen. Diesmal fällt die EM in eine Zeit, wird nicht oktroyiert, er entwickelt sich neben‑
die anders ist als alle Fußballfreudensommer zu‑ bei. Nicht nur oben, in der von Transfersummen
vor. Europa zerlegt sich gerade selbst inmitten von und Sponsorengeldern in Millionenhöhe domi‑
Terrorgefahr, Flüchtlings- und Wirtschaftskrise. nierten Spitze, sondern auch unten, auf den
Die Menschen sind verunsichert und scheinen Amateurplätzen Deutschlands, verbünden sich
sich in diesem Gefühl der Angst und Orientie‑ Kinder und Eltern verschiedener Nationalitäten.
rungslosigkeit immer mehr voneinander und von Die Identität liegt hier im Bunten: Egal, woher
du kommst, Hauptsache, du verteidigst gut.
Europa zu entfernen. Es fehlt das Wir-Gefühl.
Die Europameisterschaft hatte bisher für die Diese Selbstverständlichkeit ist das Schöne am
wenigsten Fußballfans etwas mit dem politischen Prinzip Rüdiger und Boateng.
Nicht die Institutionen machen den Fußball
Europa zu tun. Die meisten Zuschauer wollen
sich am schönen Spiel erfreuen, es ist diese gelös‑ groß und widerstandsfähig, sondern die Fähig‑
te Unbekümmertheit, die den Zauber eines Fuß‑ keit, Emotionen zu leben, Gefühle und Sehn‑
ballturniers ausmacht. Vielleicht gibt es auch süchte im Kleinen und im Großen zu wecken.
diesmal keinen Zusammenhang zwischen dem Deshalb prallt auch jegliche Form der politischen
politischen Europa und der EM – vielleicht aber Instrumentalisierung an ihm ab. Deshalb ist es
in diesem Sommer doch. Denn die Angst vor auch kein Problem, dass diese EM ohne einen
dem Terror raubt zumindest den Fans, die das Präsidenten des ausrichtenden Verbandes, der
Turnier im Stadion besuchen, einen Teil der Uefa, stattfindet. Das wäre auch eine schöne
Leichtigkeit. Das ist traurig. Aber vielleicht liegt Vorstellung für Europa: Selbst wenn die einzel‑
darin auch eine Chance: Europa bewegt selten nen Nationen schwächeln, ist der Gedanke so
unser Herz, abgesehen von einzelnen ergreifen‑ groß, dass er den Kontinent trägt.
den Augenblicken wie etwa dem Besuch des Sol‑
datenfriedhofs von Verdun, bei dem sich Helmut
www.zeit.de/audio
Extra zur EM
Foto: Shutterstock/Montage DZ
Titelillustration: Smetek für DIE ZEIT
WENN
DIE
BRITEN
GEHEN
YOU
tell him
NOT
to retire
Ewige Weisheiten
»YOU tell him to retire« – »Sag DU
ihm, dass er aufhören soll«.Der
Spruch stand auf dem Hemd des
Trainers von George Foreman, als
der, 46-jährig, noch in den Ring
stieg. Schade, dass Angela Merkel
keine Ahnung vom Boxen hat. Sie
hätte sonst ein Hemd mit dem
Spruch »YOU tell him NOT to re­
tire« getragen – und Gaucks zweite
Runde eingeläutet. So gilt für den
BuPrä nun die alte Boxer-Weis‑
heit: They never come back. PED
Kleine Fotos (v.o.): Luiz Maximiano für DIE ZEIT;
Katrin Binner für ZEIT GELD
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