DONNERSTAG, 2. JUNI 2016 KUNDENSERVICE 0 8 0 0 / 9 3 5 8 5 3 7 ** D 2,50 E URO Zippert zappt D Identität und Völkermord ROBIN ALEXANDER Machtbewusst: der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan Seite 24 FINANZEN Versicherer Ergo streicht 1800 Stellen Seite 13 SPORT John McEnroe über Freiheiten auf dem Tennisplatz Seite 18 FEUILLETON Commissario Brunetti löst seinen 25. Fall A GETTY IMAGES (2); DPA/LAURENT GILLIERON W THEMEN Nun rollen die Züge durch den neuen Gotthard-Tunnel Starker Mann in Polen: Jaroslaw Kaczynski, Chef der Regierungspartei PiS Drohung aus Ankara Warnung an Warschau Türkei verschärft die Tonlage vor der Armenien-Resolution des Bundestags EU-Kommission rüffelt Polens Regierung, weil sie dort den Rechtsstaat in Gefahr sieht m Tag vor der Armenien-Resolution des Bundestages hat die Türkei ihre Tonlage gegenüber Deutschland verschärft. Der türkische Regierungschef Binali Yildirim nannte die Bezeichnung des Massenmords an den Armeniern vor 101 Jahren als Völkermord „lächerlich“. Die Vorwürfe seien „aus der Luft gegriffen“. Die Tötung von Menschen unter Kriegsbedingungen sei „normal“. Sollte der Bundestag dies als Völkermord einstufen, werde das die deutsch-türkischen Beziehungen beeinträchtigen. Das Flüchtlingsabkommen mit der EU werde die Türkei deswegen aber nicht kündigen, sagte der Vertraute von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Der Bundestag will die von Union, SPD und Grünen getragene Erklärung am heutigen Donnerstag verabschieden. Darin wird die Ermordung von bis zu 1,5 Millionen Armeniern während des Ersten Weltkrieges Völkermord genannt. Die Aufarbeitung belastet noch heute das Verhältnis zwischen der Türkei und Armenien sowie etlichen westlichen Staaten. Am Mittwoch hatte Erdogan gewarnt, die Resolution würde „diplomatische, wirtschaftliche, geschäftliche, politische und militärische Beziehungen zwischen den beiden Ländern“ schädigen. Der armenische Präsident Sersch Sargsjan rief den Bundestag auf, sich von Er- I m Streit über die polnische Justizreform erhöht die EU-Kommission in Brüssel den Druck auf die nationalkonservative Regierung in Warschau. Zum ersten Mal in der EU-Geschichte wurde einer Regierung eine sogenannte „Stellungnahme zur Lage der Rechtsstaatlichkeit“ übermittelt. Das Beschwerdeschreiben ist Grundvoraussetzung dafür, dass bei einem ausbleibenden Entgegenkommen weitere Schritte und sogar Sanktionen eingeleitet werden könnten. In letzter Instanz könnte die EU-Kommission sogar vorschlagen, Artikel 7 der EU-Verträge anzuwenden. Dieser sieht bei „schwerwiegender und anhaltender Verletzung“ der im EU-Vertrag verankerten Werte als schwerste Sanktion eine Aussetzung der Stimmrechte des Mitgliedsstaates vor. Vizekommissionschef Frans Timmermans begründete die Verschärfung des Vorgehens mit den ergebnislosen Diskussionen. „Ich hoffe, das wird den Dialog voranbringen“, sagte er. Trotz aller Bemühungen und intensiver Gespräche habe man bisher keine Lösungen finden können. Die EU sieht den Rechtsstaat in Polen in Gefahr. Regierungsvertreter in Warschau zeigten sich verärgert. „Das bestätigt leider die Sicht all jener, die sagen, dass die EUKommission ... in die Angelegenheiten eines souveränen Staates eingreift, die Op- dogan nicht einschüchtern zu lassen. „Es ist nicht fair, wenn man den Völkermord an den Armeniern nicht Völkermord nennen darf, nur weil der Staatschef eines anderen Landes dann wütend wird“, sagte Sargsjan der „Bild“-Zeitung. An der Abstimmung nehmen voraussichtlich weder Kanzlerin Angela Merkel (CDU) noch Vizekanzler Sigmar Gabriel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (beide SPD) teil. Merkel redet am Vormittag auf einer Veranstaltung zu naturwissenschaftlichen Berufen und empfängt um die Mittagszeit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Steinmeier fliegt am Abend nach Südamerika. Kritik kam von der Türkischen Gemeinde in Deutschland. Die Resolution sei ein falsches Signal zur falschen Zeit, erklärte der Vorsitzende Gökay Sofuoglu in der „Rheinischen Post“. Das sensible Thema werde instrumentalisiert, um Türkenkritik zu üben. Demonstranten protestierten am Mittwoch vor dem deutschen Generalkonsulat in Istanbul gegen die Bundestagsresolution. Die rund drei Dutzend Teilnehmer verurteilten in Sprechchören die „Völkermordlüge“ und entrollten ein Transparent mit der Aufschrift: „Wir haben keinen Völkermord begangen, wir haben das Vaterland verteidigt“. Siehe Kommentar und Seite 6 position unterstützt und gegen eine Regierung auftritt, die für die Kommission unbequem ist“, sagte Justizminister Zbigniew Ziobro. Gleichzeitig warf er der Opposition, aber auch dem Verfassungsgericht vor, einen Kompromiss verweigert zu haben. Der Konflikt dreht sich vor allem um Änderungen bei Regeln zur Arbeit des polnischen Verfassungsgerichts, die die EU-Kommission für nicht vereinbar mit europäischen Grundwerten hält. Die neuen Vorgaben für das Gericht behindern nach Auffassung von Kritikern dessen Arbeit sehr. Der Gerichtshof selbst erklärte die Regeln für verfassungswidrig. Die Regierung erkennt das Urteil der Verfassungshüter jedoch nicht an. Timmermans betonte, dass die EUKommission die Entscheidungen der Führung in Warschau als „systembedingte Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit“ sieht. „Das Rechtsstaatsprinzip ist einer der Grundpfeiler der Europäischen Union“, sagte er. Die Kommission führt seit November informelle Gespräche mit der Regierung der konservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), dessen Vorsitzender Jaroslaw Kaczynski – obwohl zurzeit ohne Staatsamt – als starker Mann in Polen gilt. Deutsche EU-Politiker zeigten sich erfreut über das Vorgehen der Kommission. enn der Bundestag heute endlich den Völkermord des Osmanischen Reiches an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten anerkennt, sollte niemand von einer Sternstunde des Parlaments sprechen. Im Gegenteil: Auch einhundert Jahre nach dem staatlichen Mordbefehl hatten führende Politiker von Union und SPD türkischen Diplomaten bereits in die Hand versprochen, die Resolution erneut zu verhindern. Das Hohe Haus entging der Blamage nur, weil es von noch höherer Instanz zum Mut gezwungen wurde. Papst Franziskus und Joachim Gauck sprachen im vergangenen Jahr überraschend deutlich die Wahrheit aus. Sich gegen die historischen Fakten, den Bundespräsidenten und den Heiligen Vater zu stellen ging der Mehrheit der Unionsabgeordneten und ihrem Vorsitzenden Volker Kauder dann, Gott sei Dank, doch zu weit. Der Regierung nicht: Der SPD-Außenminister flieht bis nach Südamerika, um der Abstimmung nicht beiwohnen zu müssen. Und auch die Kanzlerin erwägt augenscheinlich, sich wegen ihres Flüchtlingsdeals mit dem türkischen Präsidenten Erdogan bei der Abstimmung über die Armenien-Resolution auf einer naturwissenschaftlichen Konferenz zu verstecken. Das ist peinlich. Wirklich traurig ist hingegen das Verhalten einiger türkischer Verbände in Deutschland. Manche Funktionäre, die vor einem Jahr nach der Attacke auf „Charlie Hebdo“ zur Mahnwache gegen islamistischen Terror gedrängt werden mussten, überschütten seit Tagen die Abgeordneten mit Pamphleten, Anrufen und vereinzelt auch Drohungen. Dass sie sich dabei vor allem auf Abgeordnete mit türkischem Hintergrund konzentrieren, sagte alles über ihr falsches Selbstverständnis: Diese Abgeordneten sind doch nicht Exklusivvertreter einer Minderheit oder gar Abgesandte eines fremden Staatschefs, wie Erdogan es gerne hätte! Nein, die MdBs Kiziltepe, Hakverdi oder Özoguz repräsentieren ganz genauso das deutsche Volk wie ihre Kollegen Ramsauer, Müller oder Müntefering. Diese Selbstverständlichkeit scheint mancher „Migrantenvertreter“ genauso wenig verinnerlicht zu haben wie AfDler, die mit schwarzen Nationalspielern fremdeln. Aber die Identitären irren, egal, ob sie der völkischen oder der islamistischen Variante ihrer Ideologie anhängen. Die Resolution, die den Völkermord an den Armeniern endlich anerkennt, betrieb maßgeblich Cem Özdemir, ein deutscher Abgeordneter mit türkischen Eltern. [email protected] DAX Potz Blitz! Potsdam Im Minus Durchbruch im Streit zwischen CDU und CSU: Der Ort für eine Aussprache steht fest Seite 15 Euro EZB-Kurs Punkte US-$ 10.204,44 –0,57% ↘ Dow Jones 17.40 Uhr 1,1174 17.745,94 +0,17% ↗ –0,23% ↘ Punkte ANZEIGE Der Talk mit Michel Friedman „Studio Friedman“ Heute um 17.15 Uhr Wir twittern Diskutieren live aus dem Sie mit uns Newsroom: auf Facebook: twitter.com/welt facebook.com/welt D ie Suche nach der inneren Mitte beschäftigt so manchen modernen Zeitgenossen. Auch Angela Merkel und Horst Seehofer. Dabei wollten sowohl CDU als auch CSU immer schon „Partei der Mitte“ sein. Die Mitte lag nach Unionslesart allerdings immer „Mitte-rechts“. Die CDU hingegen möchte mit rechts schon lange nichts mehr zu tun haben, neuerdings auch nicht mehr als kleines Mitte-Anhängsel. Als „Mitte-links“ schätzte unlängst sogar die Mehrheit der Befragten eines Forschungsinstituts die Partei Angela Merkels ein. Rechts will die AfD sein, so rechts, dass schon wieder links rauskommt, bei Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine, denen die SPD viel zu mittig geworden ist. Richtig schwierig ist die Sache mit der Mitte aber erst geworden, als CDU und CSU nach den letzten verlorenen Landtagswahlen vereinbarten, sich „in der Mitte“ zu treffen, um sich auszusprechen. Gemeint war die geografische Mitte zwischen Berlin und München. Doch selbst die war erstaunlich schwer zu finden. Nach wochenlangem Streit der Generalsekretäre wurde die Ortsfindung sogar an die Parteivorsitzenden delegiert. Der Entfernung nach wäre man in Franken gelandet, was nicht wirklich zu Bayern gehört, aber immerhin zum Freistaat gleichen Namens. Seehofer bot das sächsische Leipzig an, Merkel wollte vor der Sommerpause nach Berlin laden und anschließend zur Kompensation einmal nach München. Nun – kurz bevor der UN-Sicherheitsrat eingeschaltet wurde – einigten sich CDU und CSU doch noch: auf Potsdam. Liegt etwas näher an Berlin. Ein Sieg für Merkel, könnte man meinen. Aber das wäre zu schlicht gedacht. Denn Merkel wollte einen geschäftsmäßigen Termin in den Parteizentralen, Seehofer hingegen den großen Gipfelauftritt vor eindrucksvoller Kulisse. Und da ist Potsdam ideal. Wir empfehlen Schloss Cecilienhof, wo nach dem Zweiten Weltkrieg Stalin, Churchill und Truman berieten. Weil sie die Mitte nicht fanROBIN ALEXANDER den, beschlossen sie die deutsche Teilung. NOCH EINEN TAG! MORGEN IN D E R W E LT DIE GUTEN SEITEN DER WIRTSCHAFT. „Die Welt“ digital Lesen Sie „Die Welt“ digital auf allen Kanälen – mit der „Welt“-App auf dem Smartphone oder Tablet. Attraktive Angebote finden Sie auf welt.de/digital oder auch mit den neuesten Tablets auf welt.de/bundle DIE WELT, Axel-Springer-Straße 65, 10888 Berlin, Redaktion: Brieffach 2410 Täglich weltweit in über 130 Ländern verbreitet. Pflichtblatt an allen deutschen Wertpapierbörsen. Tel.: 030 / 2 59 10 Fax: 030 / 2 59 17 16 06 E-Mail: [email protected] Anzeigen: 030 / 58 58 90 Fax: 030 / 58 58 91 E-Mail: [email protected] Kundenservice: DIE WELT, Brieffach 2440, 10867 Berlin Tel.: 0800 / 9 35 85 37 Fax 0800 / 9 35 87 37 E-Mail: [email protected] ISSN 0173-8437 127-22 A 3,20 & / B 3,20 & / CH 5,00 CHF / CZ 95 CZK / CY 3,40 & / DK 25 DKR / E 3,20 & / I.C. 3,20 & / F 3,20 & / GB 3,00 GBP / GR 3,40 & / I 3,20 & / IRL 3,20 & / L 3,20 & / MLT 3,20 & / NL 3,20 & / P 3,20 & (Cont.) / PL 15 PLN / SK 3,20 € + © Alle Rechte vorbehalten - Axel Springer SE, Berlin - Jede Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.axelspringer-syndication.de/lizenzierung DW-2016-06-02-zgb-ekz- 8b9c5e34d97a3e53c37255c6534f9d45 ZKZ 7109 B I L A N Z . D E ANZEIGE Seite 21 Dax Schluss Nr. 127 KOMMENTAR ie Zeit der politischen Großkonzerne ist vorbei. Laut einer Umfrage geht der Trend eindeutig weg von anonymen Politdiscountern wie der CDU, hin zu kleinen, feinen Parteien wie der SPD – einem Traditionsunternehmen, von dem die wenigsten wissen, welche Positionen es heutzutage herstellt. Neu im Angebot ist mal wieder die FDP, eine echte Luxuspartei. Keiner braucht sie, aber wenn es sie nicht gäbe, würde etwas fehlen – nämlich die FDP. Sehr beliebt ist auch die AfD, eine Art Manufactum der Politik, Firmenmotto: Es gibt sie noch, die ewig gestrigen Überzeugungen. Hier wird Politik mit der Hand aus dem Bauch heraus gemacht, auf Wunsch kann man sich das Parteiprogramm durch ein Bakelit-Telefon vorlesen lassen. Das ist individuelle Angstmache, wie sie sich der besorgte Bürger wünscht. Die Deutschen wollen regional wählen, und zwar unter lokaler Betäubung. Beispielsweise: die CSU, ein rein bayerisches Unternehmen, das niedrigste Gesinnung und höchste Alkoholpegel zu einer maßgeschneiderten Politik für die bayerischen Ureinwohner verbindet. PANORAMA B
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