Fußball im Zeichen des Terrors: Wie sicher ist die EM in Frankreich? – Seite 2 Heute in AGENDA: Kirchen gegen Tests an Demenzkranken – Seite 5 Die Letzten ihrer Art: Berlin hat immer weniger Schülerläden – Seite 12 BERLIN, DIENSTAG, 17. MAI 2016 / 72. JAHRGANG / NR. 22 759 Berlin - Beim Karneval der Kulturen im Berliner Bezirk Kreuzberg wurden am Wochenende mindestens drei Frauen von größeren Gruppen Männern sexuell bedrängt. Die Polizei konnte drei Jugendliche im Alter von 14 und 17 Jahren festnehmen, die mit weiteren Tätern am Samstagabend zwei junge Frauen umringt, betatscht und bestohlen haben. Sie stammen aus der Türkei, einer ist „ungeklärter“ Nationalität. Nach Polizeiangaben sind es keine Flüchtlinge, zwei von ihnen sind in Berlin geboren. Einer dritten Frau wurde am Freitagabend von einem mutigen Zeugen geholfen, wie diese bei der Polizei angab. Die Polizei bittet mögliche weitere Opfer dringend, sich zu melden und Anzeige zu erstatten. Das Musikprogramm auf der Bühne, vor der die Taten geschahen, wurde um 8 Uhr abends abgebrochen, um weitere Vorfälle zu verhindern. Ha WWW.TAGESSPIEGEL.DE Udo wird echt 70 BERLIN / BRANDENBURG 1,50 €, AUSWÄRTS 2,00 €, AUSLAND 2,20 € Türkei und EU Ist der wirklich so? So easy, Alter? So Dubi-du-dumm? Und nimmt er denn nie den Hut ab? Zum Geburtstag erinnern sich Weggefährten an 70 Jahre Udo Lindenberg – Die Dritte Seite Weg vom Westen Von Thomas Seibert D Foto: Matthias Balk/dpa Übergriffe beim Karneval der Kulturen Keiner kopiert und parodiert besser: Der Schauspieler Michael Kessler im Interview – Medien, Seite 23 — Seite 7 Berlin muss mit Proteststurm aus Ankara rechnen Anerkennung des Völkermords an Armeniern belastet Beziehungen zur Türkei / „Das bringt Merkel in eine schwierige Lage“ Von Stephan Haselberger, Berlin, und Thomas Seibert, Istanbul Mitten im Streit um die Visafreiheit für Millionen Türken und den Flüchtlingspakt mit Europa stehen die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei vor einer neuen Belastungsprobe. Türkische Politiker und Verbände erwarten eine heftige Reaktion Ankaras auf die Bundestagsresolution zur Vertreibung und Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich. Die ehemalige Europaministerin Beril Dedeoglu sagte dem Tagesspiegel, sie rechne mit einer Schwächung der Verhandlungsposition von Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Das wird Merkel gegenüber der Türkei in eine schwierige Lage bringen.“ Mit Protesten und diplomatischem Druck wehrt sich die Türkei seit Jahren gegen eine internationale Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern im Ersten Weltkrieg. Ankara vertritt die Auffassung, dass der Tod mehrerer hunderttausend Angehöriger der armenischen und anderer nicht-muslimischer Minderheiten in den Jahren zwischen 1915 und 1917 zwar eine Tragödie, aber kein gezielter Völkermord war. Armenien und ein Großteil der internationalen Forschung sprechen dagegen von Genozid; mehr als 20 Länder erkennen das Verbrechen an. Im Bundestag wollen Union, SPD und Grüne die Resolution mit dem Titel „Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten vor 101 Jahren“ am 2. Juni als gemeinsame Entschließung zur Abstimmung stellen. Der türkische Botschafter in Berlin, Hüseyin Karslioglu, fragte in der „Rheinischen Post“, wie Deutschland mit der Bundestagsentschließung zurVersöhnung zwischenTürken und Armeniern beitragen wolle. Der türkische „Verband zur Bekämpfung der haltlosen Völkermordsvorwürfe“ warnte den Bundestag vor einem historischen Fehler, der die Beziehung beider Länder zu einem Zeitpunkt schwä- chen könne, in dem sie bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise eng zusammenarbeiteten. Die Organisation rief die türkische Bevölkerung dazu auf, einen auf ihrer Internetseite veröffentlichten Protestbrief an die deutschen Parteien zu schicken, und lieferte die entsprechenden Mail-Adressen mit. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) sagte mit Blick auf die zu erwartenden Proteste Ankaras: „Ich hoffe, dass die deutsch-türkischen Beziehungen durch die Resolution nicht belastet werden und wir weiter gut zusammenarbeiten können.“ Deutschland werde sich auchweiterhin für eine in die Zukunft weisende Versöhnung und Verständigung zwischenderTürkeiund Armenieneinsetzen.Als Beispiel nannte Steinmeier grenzüberschreitende Projekte für Begegnungen zwischen Armeniern und Türken. Vor fünf Jahren hatte die Türkei vorübergehend ihren Botschafter aus Frankreich abberufen, nachdem die Pariser Nationalversammlung ein strafrechtliches Verbot der Leugnung des Völkermordes beschlossen hatte. Im vergangenen Jahr rief Ankara auch den türkischen Botschafter beim Vatikan-Staat zu Konsultationen zurück, weil Papst Franziskus die Massaker an den Armeniern als „ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts“ gegeißelt hatte. Inzwischen sind die beiden Botschafterposten wieder besetzt. C Berlin - Berlins Brücken sind in dauerhaft schlechtem Zustand. „Wir können den Erhaltungsrückstand zwar kontinuierlich, aber auch nur in kleinen Schritten abarbeiten“, sagte der Sprecher der Senatsverkehrsverwaltung, Martin Pallgen, am Montag. Mehr Geld einzusetzen, bringe auch nichts, weil planerisch gleichzeitig nur an wenigen Brücken gearbeitet werden könne. Und mehr Personal einzustellen, sei auch schwierig, weil es kaum Brückenbauingenieure gebe, die sofort arbeiten könnten. So stehen in den nächs- Überall in Europa schwächeln die Sozialdemokraten. Was ist ihr Problem? Die Sozen waren die Stimme der aufsteigenden Arbeiterklasse. Die gibt es nicht mehr, weil der Industrieanteil am BIP sinkt. Um die 20 Prozent macht er aus, vor 25 Jahren waren es etwa zehn Punkte mehr. Zudem wächst die Konkurrenz im linken Segment. Grünspricht fürdie ökonomisch abgesicherte Kulturlinke (Öko, Multikulti, Genderismus), Hartlinks für die Abstiegsbedrohten (Umverteilung). Und die AfD spricht für die Abschotter, die Migranten als Arbeitsplatzräuber fürchten. Die SPD wird von allen zerrieben. Und was übrig bleibt, kriegt Merkel mit „Von allem etwas für jeden“. 50 Jahre chinesische Kulturrevolution: Warum war sie für viele Linke im Westen so faszinierend? Die Linke glaubt grundsätzlich an den „Neuen Menschen“, der den „Alten Adam“ ersetzen würde, wenn man ihn richtig umerzieht. Bei harter Landarbeit ten Jahren weiter nur wenige Bauwerke auf dem Neubauprogramm – unter anderem die Rudolf-Wissell-Brücke der Stadtautobahn, aber auch die Salvador-Allende-Brücke in Köpenick. Der Berliner Rechnungshof hatte vor Kurzem den Erhaltungsrückstand auf mehr als eine Milliarde Euro beziffert. Der Zustand der 821 Brücken des Landes habe sich seit 2005 „dramatisch verschlechtert“. kt — Seite 8 Vier Fragen an Josef Joffe Was macht die Welt? Eisern die Lippen schließen oder zur Desinfektion Caipirinha trinken Seehofer: Merkel verantwortlich für Erstarken der AfD München - Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihre Flüchtlingspolitik für das Erstarken der AfD verantwortlich gemacht. „Die AfD in dieser Größenordnung ist das Produkt der letzten Monate“, sagte Seehofer in der „Welt am Sonntag“. Mitte 2015 habe die Partei noch weit unter fünf Prozent gelegen, jetzt sei sie fast überall zweistellig, im Osten sogar bei 20 Prozent. „Die Gründe dafür liegen in der falschen Zuwanderungspolitik der Bundesregierung im Septem- würden diePrivilegierten dasrichtige Bewusstsein lernen. Und die Gleichheit würde obsiegen, wenn der Professor putzt, gräbt undpflügt. Dass dabei unsägliches Elend entsteht, dann die Wirtschaft zugrunde geht, haben die Ideologen nie auf dem Zettel. Denn die Erlösung ist ja so nah, und wo gehobelt wird, fallen Späne. Hauptsache, wir sind auf der richtigen Seite der Geschichte. An die30Millionen sindin der Kulturrevolution umgekommen. Brasilien steckt tief in der Krise: Können wir uns noch auf die Spiele dort freuen? Das könnten, äh, „Scheißspiele“ werden, jedenfalls im Wassersport. Schwimmer, Ruderer und Segler werden in ungeklärten Abwässern (etwa die Hälfte) kämpfen müssen. Bis zum Sommer wird Brasilien das Fäkalienproblem nicht lösen. Also eisern die Lippen schließen, wer ins Wasser fällt. Danach ein Desinfektionsbad. Oder zwischen den Events den Mund antibakteriell ausspülen. Aber ber letzten Jahres und dem weiteren Umgang damit“, sagte der CSU-Vorsitzende. Die Kanzlerin hatte im vergangenen September die deutsche Grenze für die Flüchtlinge aus Ungarn geöffnet. Seehofer bekräftigte seine Warnung, sich in der Flüchtlingskrise zu eng an die Türkei zu binden. Er sei zwar nicht gegen Gespräche. „Aber ich halte es für gefährlich, sich so von Ankara abhängig zu machen.“ Auch dieser Deal mit der Türkei habe der rechtskonservativen AfD geholfen. dpa Landathleten müssen sich nicht sorgen, essei denn, sie trinken ausDesinfektionsgründen zu viel Caipirinha. Ein letztes Wort zu Amerika ... Wie üblich zum Trumpator. Der hat sich mit dem zweitmächtigsten Mann Amerikas, Paul Ryan, dem Speaker des Unterhauses, getroffen. Und dieser Ryan hat Trump Nachhilfe in der US-Verfassung gegeben, insbesondere zum Artikel 1, der dem Kongress die exklusive Macht über ein paar Kleinigkeiten verleiht, die Trump nicht so richtig checkt: über Haushaltund Steuern, Einbürgerung(Mexikaner und Muslime raus!), Handel (Strafzölle und so), Kriegserklärung. Das sind die berühmten „Checks and Balances“. Vielleicht macht’s jetzt Trump keinen Spaß mehr, und er verzieht sich wieder ins Immobiliengeschäft. D FREUDIG ENTTÄUSCHT . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Salomon Kalou spielt eine gute Saison, verbaselt aber ein noch besseres Abschneiden – genau wie Hertha. WETTER ............................................ 2 Am Dienstag wechseln sich in Berlin und Umgebung 14 /8 Sonne und Wolken häufig ab. Nachmittags kann es kurz regnen. Aussichten: Es wird wieder wärmer. WISSEN & FORSCHEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 SPORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 + 18 TAGESTIPPS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 MEDIEN/TV-PROGRAMM . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 IMPRESSUM & ADRESSEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 [email protected] TEL. REDAKTION . . . . . . . . . . . . . (030) 29021 - 0 TEL. ABO-SERVICE . . . . . . . (030) 29021 - 500 TEL. SHOP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (030) 29021 - 520 TEL. TICKETS . . . . . . . . . . . . . (030) 29021 - 521 DER THEATERPREIS BERLIN geht an Shermin Langhoff und Jens Hillje für Postmigrantisches am Maxim Gorki. Seite 19 Fotos: Bernd von Jutrczenka/dpa, Jörg Carstensen/dpa Berlins Brücken bleiben noch auf Jahre eine Baustelle INDEX ISSN 1865-2263 20020 — Josef Joffe ist Herausgeber der „Zeit“. Er lehrt zurzeit an der Stanford University. Fragen: mal 4 190662 202006 ass sich die EU und die Türkei in der Flüchtlings- und in der Visafrage streiten, ist an sich nicht allzu schlimm. Interessenskonflikte sind kein Beinbruch. Fatal wird der Krach erst durch den grundlegenden Dissens, der dahinter sichtbar wird. Die Frage ist, ob das Verhältnis zwischen Ankara und Brüssel so grundlegend erschüttert ist, dass es nur noch schwer zu kitten sein wird. Anzeichen dafür nehmen jeden Tag zu. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan wirft der EU vor, mit der Auszahlung der versprochenen Milliardenhilfen für die Flüchtlingshilfe zu zögern und die zugesagte Visafreiheit an immer neue Bedingungen wie die Revision der türkischen Antiterrorgesetze zu knüpfen. Abgesehen davon, dass die EU jedes Draufsatteln bestreitet, muss sich Erdogan den Vorwurf gefallen lassen, vorherige Zusagen Ankaras wieder zu kassieren. Der von ihm entmachtete Premierminister Ahmet Davutoglu hatte der EU die Umsetzung aller 72 Kriterien für die Visafreiheit versprochen. Davon will Erdogan nun nichts mehr wissen. Mit seiner offener Drohung, Flüchtlinge nach Europa zu schicken, falls die EU seine Position nicht akzeptiert, gewinnt die Türkei ebenfalls keine neuen Freunde. Man darf Erdogan unterstellen, dass er all dies tut, obwohl er sich über die Folgen für das türkisch-europäische Verhältnis im Klaren ist. Vieles deutet darauf hin, dass der Präsident den Streit um Visa, Terrorgesetze und Flüchtlinge für den Versuch nutzt, das Verhältnis zwischen seinem Land und Brüssel radikal neu zu gestalten. Ausgangspunkt ist Erdogans Ansicht, dass sich die Türkei auf Augenhöhe mit der EU befindet; er will sich den Direktiven aus Europa nicht mehr unterordnen. „Seit wann regiert ihr eigentlich das Land?“, fragte Erdogan in einer Rede vor wenigen Tagen, an die EU-Politiker gerichtet. Damit bedient der Präsident das bei den Türken weitverbreitete Gefühl, dass westliche Staaten ihr Land von sich abhängig machen wollen. Es geht aber um mehr als bloß um einen Politiker, der geschickt mit nationalen Empfindlichkeiten seiner Wähler spielt. Erdogan setzt sich bewusst vom Westen ab, weil er die Zukunft der Türkei nicht als Bestandteil des Westens sieht, sondern als eigenständige Macht zwischen Balkan, Zentralasien, Nahost und Nordafrika. Seit Monaten bemüht sich der Präsident um eine Annäherung an die sunnitische Führungsmacht Saudi-Arabien und präsentiert sich und sein Land als Hoffnung der islamischen Welt. Selbst wenn der aktuelle Streit mit der EU durch einen Kompromiss beigelegt werden könnte, würde sich an dieser Vision des Präsidenten nichts ändern. Erdogan vollendet eine europapolitische Kehrtwende, die schon vor einigen Jahren begann. Nachdem er in der ersten Phase seiner Regierung in der ersten Hälfte des vorigen Jahrzehnts mit europapolitischen Reformen Furore machte, erkaltete das Verhältnis zu Brüssel anschließend immer weiter, nicht zuletzt durch die offene Ablehnung, die der Türkei trotz des Beginns der Beitrittsgespräche im Jahr 2005 entgegenschlug. Spätestens seit seinem Wahlsieg von 2011 kümmert sich Erdogan nicht mehr groß um die Europäer; als er im Arabischen Frühling eine Führungsrolle anstrebte, tat er das als Vertreter der eigenständigen Regionalmacht Türkei, nicht als Chef eines EU-Vorpostens. Jetzt will er den Europäern die Visafreiheit abringen, ohne die Kriterien der Europäischen Union zu erfüllen. Seine Keule ist die Drohung, syrische Flüchtlinge nach Westeuropa zu schicken. Doch der Staatspräsident könnte dabei sein, den Bogen zu überspannen. Die EU wird nach Wegen suchen, mit dem Flüchtlingsansturm auch ohne türkische Mithilfe zurechtzukommen – auch weil sie gesehen hat, dass man sich auf Zusagen aus Ankara nicht verlassen kann. Nach den Verhandlungen von Davutoglu hatte die Türkei in Europa einen Fuß in der Tür. Erdogan legt darauf offenbar keinen Wert mehr.
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