Kabarettist Frank Lüdecke: Mein Jahr mit Hertha – 11 Freunde, Seite 16 Globale Ruhezone: Pakethauptstadt Berlin: So schläft die Welt Die Post weitet ihren Service aus – Seite 14 – Forschen, Seite 21 BERLIN, FREITAG, 13. MAI 2016 / 72. JAHRGANG / NR. 22 756 Mit Charme und Stimme: Senta Berger feiert ihren 75. Geburtstag – Seite 24 WWW.TAGESSPIEGEL.DE BERLIN / BRANDENBURG 1,50 €, AUSWÄRTS 2,00 €, AUSLAND 2,20 € AfD und Berlin Von Fabian Leber L Einladung in die Wunderkammer Foto: William Kentridge/Marian Goodman Gallery Die fantastischen Welten des William Kentridge: Der Berliner Martin-Gropius-Bau präsentiert eine Werkschau des südafrikanischen Künstlers. Er zeichnet, filmt, inszeniert – seine Figuren wie hier im Totentanz „More Sweetly Play the Dance“ spiegeln stets auch Afrikas Geschichte – Seite 19 Der Rand der Stadt Juncker: Visafreiheit ist Erdogans Problem Chef der EU-Kommission will sich vom türkischen Staatspräsidenten nicht unter Druck setzen lassen Von Albrecht Meier Berlin - EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat deutlich gemacht, dass sich die EU in der Flüchtlingskrise nicht von dem türkischen PräsidentenRecep TayyipErdoganunterDrucksetzen lassen will. „Ich zucke nicht zusammen, wenn Herr Erdogan das Wort ergreift“, sagte Juncker am Donnerstag in Berlin. Wenn Erdogan die Strategie verfolge, den Türken die im Rahmen der Flüchtlingsvereinbarung zwischen Ankara und der EU zugesagte Visafreiheit zu verwehren, dann müsse er das dem türkischen Volk gegenüber verantworten. „Das ist nicht mein Problem. Das wird sein Problem sein“, sagte Juncker beim WDR-Europaforum. Die Visafreiheit wäre eine entscheidende Erleichterung für zahlreiche Türken bei Verwandtenbesuchen oder Geschäftsreisen in die Europäische Union. Bei der im März geschlossenen Flüchtlingsvereinbarung war der Türkei ab Ende Juni eine Aufhebung des Visumszwangs in Aussicht gestellt worden, sofern Ankara die daran geknüpften Bedingungen erfüllt. Im Gegenzug verpflichtete sich die Türkei, den Zustrom der Flüchtlinge auf dem Weg nach Griechenland zu drosseln. Während Ankara dieses Versprechen eingehalten hat, tut sich die türkische Regierung mit der Erfüllung sämtlicher Bedingungen für die Visafreigabe schwer. Auch Erdogan verschärfte seinerseits den Ton in der Kontroverse mit der EU. „Da liegt der Ball auf der Seite der Türkei“ Frank-Walter Steinmeier, Außenminister „Seit wann lenkt ihr die Türkei? Wer hat euch diese Kompetenz gegeben?“, fragte der Staatschef am Donnerstag bei einer Veranstaltung in Ankara mit Blick auf die EU. Insgesamt muss die Türkei 72 Bedin- gungen erfüllen, bevor sie die Visafreiheit erhalten kann. Fünf dieser Kriterien hat die Türkei bislang nicht umgesetzt. So ist eine Reform der Anti-Terror-Gesetzgebung, die eine Verfolgung missliebiger Journalisten ermöglicht, bislang nicht in Sicht. Auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) forderte in Berlin Erdogan auf, die Anti-Terror-Gesetze zu ändern. „Da liegt der Ball auf der Seite der Türkei“, sagte er. Steinmeier sagte allerdings auch, dass die Europäer „ein nachhaltiges Interesse daran haben, dass dieses Abkommen über Migration nicht kollabiert“. Ähnlich äußerte sich auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Es führe kein Weg daran vor- bei, mit Staaten wie der Türkei, Jordanien und dem Libanon über Fluchtursachen und die Bekämpfung von Schleppern zu reden, sagte sie. Mehrere türkische Politiker hatten zuvor gedroht, die Flüchtlingsvereinbarung platzen zu lassen, wenn die Türkei keine Visafreiheit erhält. Im Bundestag kritisierte die Opposition die Vereinbarung mit der Türkei. Der Linken-Abgeordnete Jan Korte sagte, die Abmachung sei ein „dreckiger Deal“, der beendet werden müsse. Erdogan sei „nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems“ in der Flüchtlingskrise. — Seite 2 und Meinungsseite C Berlin - Die Zahl der von der Berliner Verwaltung notdürftig untergebrachten Wohnungslosen ist von 2014 auf 2015 von 10 000 auf 17 000 gestiegen. Der Anstieg folgt der hohen Zahl anerkannter Flüchtlinge, die derzeit keine eigene Wohnung finden, aber aus den Asylbewerberheimen ausziehen. Das bestätigte Sozialsenator Mario Czaja (CDU) dem Tagesspiegel. „Ich gehe davon aus, dass von den 44 000 Flüchtlingen, die derzeit insgesamt in Berlin im Asylverfahren sind, etwa die Hälfte ein Bleiberecht erhält und länger hierbleiben wird.“ Diese Männer, Frauen und Kinder brauchen Wohnungen, zumal Czaja gerade diejenigen Neuankömmlinge in Asylbewerberheime ziehen lässt, die noch in Er hat nicht alle Stimmen seiner neuen Koalition bekommen. 88 Abgeordnete von Grünen und CDU waren am Donnerstagim Stuttgarter Landtag bei derWahldes Ministerpräsidenten, 82 Stimmen bekam Winfried Kretschmann. Ein kleiner Makel, morgen vergessen. Kretschmann führt jetzt fünf Jahre lang die erste grünschwarze Koalition in den Ländern. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf der Bundesebene, also im politischen Berlin. Mit Grün-Schwarz ist eine weitere Komponente im Bundesrat vertreten, esgibt dort jetzt sieben Koalitionsvarianten, plus die CSU-Alleinregierung. Eine irgendwie geartete Mehrheit gibt es nicht mehr, was bedeutet, dass die Länderkammer zu einem schwierigen Ter- Turnhallen wohnen. Der Senator will deshalb die 2015 als Heime angekündigten Modulbauten nun als reguläre Wohnhäuser errichten lassen. „Keine Gemeinschaftsküchen, sondern Zwei- bis DreiZimmer-Appartements“, sagte Czaja. In diese Wohnungen auf zwölf Grundstücken in der Stadt sollen mittelfristig auch andere Wohnungslose und Studenten einziehen. Czaja hat dazu einen „Letter of Intent“ mit den Vorständen der sechs städtischen Wohnungsbaugesellschaften unterzeichnet. In dieser Absichtserklärung sei der „Bau und auch die Ausgestaltung der Gebäude“ schon festgelegt worden. hah Mehr Fehler in Kliniken, Praxen und Heimen DHM-Direktor Alexander Koch soll gehen Berlin - Im vergangenen Jahr sind mehr Patienten bundesweit Opfer anerkannter Behandlungsfehler geworden. Um 268 stieg die Zahl der von den Medizinischen Diensten der Krankenkassen (MDK) festgestellten Pannen in Kliniken, Praxen und Heimenauf4064Fälle,205Patienten starben. Fast 15 000 Verdachtsfällen gingen die MDK nach, die allermeisten stellten sich nicht als „Ärztepfusch“ heraus. Allerdings passieren mehr Fehler, als bekannt werden, denn in Deutschland gibt es keine zentrale Meldepflicht: Patientenbeschweren sich auch direkt bei den Kliniken. hah Berlin - Der Vertrag Alexander Kochs, seit 2011 Direktor des Deutschen Historischen Museums Berlin, steht vor der Auflösung. Nach Tagesspiegel-Informationenkam es zwischenihm und demKuratorium zum Zerwürfnis. Sein Verhältnis zu den Museumsmitarbeitern gilt als zerrüttet; sowohl Fachkritik als auch Zweifel an Kochs Führungsqualitäten wurden geäußert.Details wollten wederernoch Kulturstaatsministerin Monika Grütters mitteilen. Offenbar bemüht man sich um eine einvernehmliche Regelung, damit ein Nachfolger gesucht werden kann. Tsp — Seite 8 — Seite 4 — Seite 19 Der neue Konservative rain geworden ist. Es muss jetzt noch mehr koordiniert und vorbesprochen und abgewogen werden. Jetzt komme die Phase der „ganz, ganz großen Koalition“, sagteinerausderSPD,derindiesem komplexen Prozess eine zentrale Figur ist. Weil aber alles schwieriger wird, dürfte der Bundesrat noch mehr als bisher schon durch die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) als Entscheidungsgremium verdrängt werden. Genauer gesagt: durch die MPK, die sich nach getaner Vorbereitung mit der Kanzlerin und ihren zuständigen Ministern WIRTSCHAFT & BÖRSEN . . . . . . . . . 13 – 15 Der deutsche Leitindex Dax Dax schloss am Donnerstag mit einem Abschlag von 1,13 Prozent auf 9862 Punkte. WETTER Kretschmann wechselt zu den Schwarzen trifft. Diese Gipfel im Kanzleramt sind zum eigentlichen Regierungsorgan der Bundesrepublik geworden.Am Donnerstagabend beschäftigte sich die Runde mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz, Ende Mai werden es die Flüchtlingskosten und die Integration sein, Mitte Juni ist es vielleicht der Finanzausgleich. Kretschmann ist in diesem neuen Regierungssystem kein ganz unwesentlicher Akteur. Er ist der führende Grüne, und die Grünen regieren in zehn Ländern mit. Andererseits hat er in Stuttgart mit den Schwarzen zu tun. Und deswegen hat er jetzt die Seiten gewechselt. In der MPKwirddasgroße Plenum inParteirunden vorbereitet. Bisher saß der BadenWürttemberger mit seinen Kollegen von der SPD zusammen (plus Bodo Ramelow, dem ganz Linken). Aus der Runde hat sich Kretschmann kürzlich artig verabschiedet. Künftig sitzt er in der Vorbereitungsrunde der schwarzen Ministerpräsidenten. Also bei Horst Seehofer, Volker Bouffier, Stanislaw Tillich. Das ist nicht völlig abwegig, aber ein wenig verdutzt waren sie schon in der SPD (und bei den Grünen). Doch die alten Lager lösen sich gerade auf. Und vielleicht hat Kretschmann bei den Unionisten sogar mehr zu sagen. Immerhin ist die schwarze Runde deutlich kleiner als die rote. Albert Funk D 20 / 10 ............................................ 2 Sonne, Wolken, Regen: Es wird wechselhaft. Und deutlich kühler. WISSEN & FORSCHEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 SPORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 – 18 TAGESTIPPS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 MEDIEN/TV-PROGRAMM . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 IMPRESSUM & ADRESSEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 [email protected] TEL. REDAKTION . . . . . . . . . . . . . (030) 29021 - 0 TEL. ABO-SERVICE . . . . . . . (030) 29021 - 500 TEL. SHOP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (030) 29021 - 520 TEL. TICKETS . . . . . . . . . . . . . (030) 29021 - 521 Ihr wunder Punkt Ann Sophie Dürmeyer macht nach ihrer Nullnummer im ESC-Finale 2015 einfach weiter Seite 3 Fotos: picture alliance/dpa, dpa Zahl der Wohnungslosen in Berlin steigt auf 17 000 INDEX ISSN 1865-2263 50019 4 190662 202006 ange Zeit sah es so aus, als könne die AfD fast überall in Deutschland Fuß fassen, nur in der Hauptstadt nicht. „Die AfD passt nicht zu Berlin“, hatte der wenig später gestürzte SPD-Landesvorsitzende Jan Stöß noch im Februar verkündet. Und wohl gehofft, dass das Problem mit Sätzen wie diesem erledigt wäre. Tatsächlich wirkte es lange so, als würden zwei Dinge nicht zusammengehören: das sich gerne weltoffen gebende Berlin, das ein permanenter Karneval der Kulturen zu sein scheint, und eine deutschtümelnde Protestpartei, die mit Ab- und Ausgrenzung punkten will. Aber offenbar ist auch Berlin nicht immun gegen Rechtspopulismus. Mit einem deutlich zweistelligen Ergebnis wird die AfD im September wohl ins Abgeordnetenhaus einziehen, darauf deuten im Moment alle Umfragen hin. Dabei war der Berliner Landesverband für die Bundespartei lange ein Problemkind, agierte unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Erst mit dem Auftritt der neuen Landesvorsitzenden Beatrix von Storch hat sich das geändert. Aufmerksamkeit ist der auf Krawall gebürsteten EU-Abgeordneten spätestens seit ihrer Schießbefehl-Äußerung gewiss. Mit Berlin-Kompetenz probiert sie es erst gar nicht. Schon allein aus Gründen der Provokation wird die AfD versuchen, Wahlkampf in Kreuzberg oder Friedrichshain zu machen. Jede Störaktion gegen Mitglieder dort wird sie auszuschlachten wissen. Gerichtet aber sind solche Opfergeschichten an ein anderes Publikum, das weiter draußen wohnt. Schon bei früheren Wahlen waren Gegenden wie Marzahn, Lichtenberg und Köpenick AfD-Hochburgen. Zu kurz aber griffe es, das als eine neue Ost-West-Spaltung zu interpretieren. Die gibt es zwar immer noch, und sie wird auch dadurch nicht geringer, dass die AfD tief in einstige Linke-Stammwählerschichten eindringen kann. Zumindest Teile davon sind anfällig für islamfeindliches Getöse, für Antiamerikanismus und Sozialpopulismus – und bisher hat die Linkspartei kein Mittel dagegen gefunden. Aber viel mehr noch wäre ein potenzieller AfD-Erfolg Ausdruck einer zweiten Spaltung der Stadt: einer in Zentrum und Peripherie. Denn auch am westlichen Stadtrand, in Spandau oder Reinickendorf, ist der Zuspruch groß. Vor allem Männer mittleren Alters mit mittlerem Bildungsabschluss neigen in Berlin überdurchschnittlich oft zur AfD. Wobei man wieder bei der so gerne verbreiteten Selbstwahrnehmung der Stadt als international, offen und trendy wäre. Offenbar fühlen sich nicht alle Berliner davon angesprochen. Und in der Tat hatte der Senat unter Michael Müller kein nachahmenswertes Beispiel in Sachen Willkommenskultur geliefert. Nicht erst die Zustände am Lageso zeigten, dass Ankommen und auch Integration in der sich multikulturell gebenden Stadt Berlin sogar schwerer sein können als anderswo. Bei der Berliner AfD weiß man, dass die momentane Stärke in den Umfragen vor allem auf den Vertrauensverlust zurückgeht, den die regierenden Parteien in der Flüchtlingsfrage zu verzeichnen hatten. Ihren Wahlkampf richtet die Partei unter ihrem landespolitisch unerfahrenen Spitzenkandidaten Georg Pazderski nicht allein darauf aus. Sie will sich auch als Protestbewegung gegen eine als schlampig wahrgenommene Senatspolitik verkaufen – wohl wissend, dass offen fremdenfeindliche Töne in Berlin dann vielleicht doch nicht so ziehen. So muss die AfD voraussichtlich gar nicht den großen Anti-Islam-Wahlkampf fahren, um hier Erfolg zu erzielen. Wähler, die ihre Ressentiments zum Ausdruck bringen wollen, glaubt sie ohnehin zu erreichen. Und gerade die von manchen als übermächtig empfundene strukturelle Linksdominanz in der Stadt nutzt ihr vermutlich sogar. Paradoxerweise könnte ein Einzug der AfD ins Parlament für eindeutige Verhältnisse sorgen: mit einer rot-rot-grünen Senatskoalition und einer Opposition aus CDU und AfD. Wobei das nicht nur für die Union keine Traumvorstellung ist.
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