IG Metall knickt ein

faulheit & arbeit
Sonnabend/Sonntag/Montag,
14./15./16. Mai 2016, Nr. 112
n Drucksachen
n Schwarzer Kanal
n Bilderstrecke
n XYZ
Lakaien der deutschen Imperialisten: Lenin
über den Einsatz der »Sozialisten« für von
anderen Staaten Unterdrückte
Rot-braune Gefahr aus dem Osten? Die
Zeit analysiert die Gefährdung des Westens
durch »die Autoritären«
Dokumente des Aufbaus in der DDR:
jW-Ladengalerie zeigt Fotografien von
Horst Sturm (1923–2015)
Ralsch und fichtig: Michael Wildenhain über
das Verhältnis von Literatur, Engagement
und Kapitalismus
PICTURE ALLIANCE/UYGAR ONDER SIMSEK/MOKU
»Und Europa schweigt«
Gespräch
Mit Feleknas Uca und Ziya Pir. Über den Terror des türkischen Staates, die
Kriminalisierung der kurdischen Bewegung und das Wegsehen der EU
WILLI EFFENBERGER
M
ehrere Monate lang
gab es in der Altstadt Diyarbakirs,
Sur, Gefechte und
Ausgangssperren.
Ein Teil der vor allem von Kurden
bewohnten Altstadt ist heute immer
noch abgeriegelt. Welche Auswirkungen hatte dieser Krieg auf die
Bevölkerung?
Feleknas Uca: Es sind jetzt über 160 Tage. So lange gibt es durchgängig eine Ausgangssperre in Sur. Die Militäroperation
wurde zwar im März durch den Innenminister für beendet erklärt, aber weder können die Bewohner der betroffenen Nachbarschaften zurückkehren, noch können
wir dorthin, um zu überprüfen, welches
Ausmaß die Zerstörung während der Ausgangssperren angenommen hat. Jetzt sind
die Gefechte zwar zu Ende, aber die Stadt
ist dennoch voll mit Polizisten. Überall
hängen türkische Fahnen, und es werden
zahlreiche neue Polizeiwachen gebaut.
Es gibt in Sur immer noch notdürftige
Feleknas Uca und Ziya Pir
… sind Parlamentsabgeordnete für die türkische »Halklarin Demokratik Partisi –
Demokratische Partei der Völker« (HDP). Ihr Wahlbezirk ist Diyarbakir, eine der
Städte, in denen türkische Armee und Polizei in den vergangenen Monaten verheerend gegen die kurdische Bevölkerung vorgingen. Derzeit strebt die Regierungspartei AKP die Aufhebung der Immunität der beiden Parlamentarierinnen wegen an-
Gräber, in denen Leichen junger Menschen liegen. Sie wurden nicht geborgen.
Ganze Straßenzüge sind zerstört, die engen Gassen, die charakteristisch für Sur
waren, findet man nicht mehr. Einwohner,
die ihr Hab und Gut aus den abgesperrten
Gebieten holen konnten, haben uns berichtet, dass dort überhaupt nichts mehr zu
finden ist. Alle Häuser werden abgerissen.
Man möchte das Ausmaß der Zerstörungen in diesem massiven Krieg verschleiern. Ich spreche von einem Krieg, weil alle
militärischen Mittel, die zur Verfügung
standen, eingesetzt wurden: Panzer, Artillerie, über zehntausend Soldaten, Polizisten und Sondereinheiten. Als die Stadt
Cizre zerstört wurde, gingen die Bilder
der Verwüstung um die Welt. Das will
man jetzt vermeiden, insbesondere fotografische Belege für den Einsatz schwerer
Waffen.
Deshalb werden die Häuser jetzt abgerissen. Der Schutt wird in einen Graben
Sur, 18. April: Um Teile
des Stadtviertels von
Diyarbakir ließ die türkische Regierung Mauern
ziehen
EU schaut weg
Wochenendgespräch mit den HDP-Abgeordneten Feleknas Uca und Ziya Pir über
den Terror des türkischen Staates gegenüber Teilen der eigenen Bevölkerung. Außerdem: Russland und China als »Kriegsverderber«. Das gefällt dem Westen nicht.
Der Schwarze Kanal von Arnold Schölzel
geblicher Propagandadelikte für die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) an.
n Fortsetzung auf Seite zwei
ACHT SEITEN EXTRA
GEGRÜNDET 1947 · SA./SO./MO., 14./15./16. MAI 2016 · NR. 112 · 1,90 EURO (DE), 2,10 EURO (AT), 2,50 CHF (CH) · PVST A11002 · ENTGELT BEZAHLT
Eisbergsichtung
Mordsgeduld
Nervenflattern
Halbstark
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SPD-Chef Sigmar Gabriel will Kursänderung und seine Partei wieder
sozialdemokratisch machen
Im Todesfall des in Polizeigewahrsam
verbrannten Oury Jalloh fordert
Anwältin Justiz zum Handeln auf
Zwei Jahre Volksrepublik Donezk: Kiew
verstärkt Repressionen und stellt
Journalisten an den Pranger
WWW.JUNGEWELT.DE
Von wegen fast fünf Prozent: IG Metall
setzt bei Tarifabschluss in NRW
nur die Hälfte durch
Bomben auf Kurdistan
Hunderte Flüchtlinge
vor Sizilien gerettet
Türkei: Kampfflugzeuge attackieren Wohnviertel, Artillerie beschießt Häuser. Regime
verfolgt linke Politiker. Von Nick Brauns
REUTERS
I
Rom. Die italienische Küstenwache
hat nach eigenen Angaben am
Donnerstag rund 800 Flüchtlinge
gerettet. Die Menschen seien auf
zwei Schiffe verteilt gewesen und
vor Sizilien aufgegriffen worden,
teilte ein Sprecher mit. Neben
einem Syrer waren Ägypter, Somalier und Sudanesen an Bord, sagte
ein Sprecher der Internationalen
Organisation für Migration (IOM)
der Deutschen Presse-Agentur. Die
Boote seien vermutlich in Ägypten
gestartet. (Reuters/dpa/jW)
Treffen von Gabriel
mit Lafontaine?
SERTAC KAYAR/REUTERS
Frauen vor einem durch den Beschuss der türkischen Armee zerstörten Haus in Diyarbakir
wegen angeblicher Mitgliedschaft
in der PKK. Der Politiker wurde am
Freitag ins Gefängnis von Diyarbakir
gebracht. Die DBP regiert rund 100
Städte und Kommunen im kurdischen
Osten der Türkei und bildet die stärkste Mitgliedsorganisation der im Parlament vertretenen Demokratischen
Partei der Völker (HDP). Eine Mehrheit des 70köpfigen DBP-Parteirates
befindet sich inzwischen in Haft oder
wird per Haftbefehl gesucht, zwei Parteiratsmitglieder starben durch Polizeischüsse. Im Vorfeld des für Ende
Mai geplanten Parteitages erklärte das
Kassationsgericht bereits Teile des
Parteiprogramms für verfassungswid-
rig, die sich für »demokratische Autonomie« zur Lösung der kurdischen
Frage aussprechen.
In der kommenden Woche soll das
türkische Parlament in geheimer Abstimmung über eine von der Regierungspartei AKP beantragte Verfassungsänderung entscheiden, durch die
Abgeordneten die Immunität entzogen
werden soll. Das Gesetz zielt auf die
HDP, gegen deren Parlamentarier 350
Anklagen unter anderem wegen Propaganda für terroristische Vereinigungen
oder Beleidigung von Staatspräsident
Recep Tayyip Erdogan erhoben werden sollen. Die sozialdemokratische
CHP und die faschistische MHP ha-
ben im Verfassungsausschuss bereits
ihre Zustimmung zum Antrag der Regierung erklärt. Sollte das Gesetz verabschiedet werden, droht bis zu 50 der
59 HDP-Abgeordneten die Verhaftung
und im Falle ihrer Verurteilung der
Mandatsverlust. Die Regierungspartei
käme so der Zweidrittelmehrheit näher, die sie für die Einführung des von
Erdogan geforderten Präsidialregimes
braucht. Für Pfingstmontag rufen
kurdische und türkische Verbände in
mehreren Ländern Europas unter dem
Motto »Hände weg vom Willen des
Volkes und unserer Stimme im Parlament« zu Protesten vor türkischen
Konsulaten und Botschaften auf.
IG Metall knickt ein
Tarifabschluss in Metallindustrie: Unternehmer können Vereinbarungen aufschieben
I
n der Nacht zum Freitag einigten
sich Unternehmer und IG Metall
auf einen Tarifvertrag in der Metallindustrie für Nordrhein-Westfalen.
Der Pilotabschluss soll auch für alle
übrigen Regionen gelten. Das Ergebnis sieht eine Einmalzahlung in Höhe
von 150 Euro für die Monate April
bis Juni 2016 vor. Danach greift am 1.
Juli die erste Lohnerhöhung von 2,8
Prozent. Die zweite Stufe von zwei
Prozent gilt ab dem 1. April 2017 bis
zum Ende des Jahres.
In einem Kernkonflikt ist die Gewerkschaft eingeknickt. So wird es
»wirtschaftlich schwächeren Unternehmen« gestattet zu beantragen,
die zweite Entgelterhöhung sowie
die Auszahlung der Einmalzahlung
zu verschieben. Darüber sollen dann
aber nicht wie bislang Betriebsrat
und Unternehmen, sondern Gewerkschaft und Unternehmerverband vor
Ort verhandeln und innerhalb eines
Monats ein Ergebnis erzielen. Im
Vorfeld hatte die IG Metall der Unternehmerforderung einer solchen
»differenzierenden Wettbewerbskomponente« eine klare Absage erteilt. Sollten sich die Konzernchefs
nicht bewegen, wollte die Gewerkschaft nach Pfingsten zu 24-StundenStreiks aufrufen.
»Die Beschäftigten bekommen eine deutliche Erhöhung der Realeinkommen und damit einen fairen Anteil am wirtschaftlichen Erfolg«, urteilte der IG-Metall-Vorsitzende Jörg
Hofmann am Freitag gegenüber dpa.
Die Gewerkschaft setze »ihren Kurs
der verlässlichen Tarifpolitik fort«,
so Hofmann. Der Abschluss erhalte
»die Innovationskraft der Unternehmen«. Sein Gegenüber, Gesamtmetallpräsident Rainer Dulger, mimte
am Freitag den Märtyrer: »Einmal
mehr mussten wir an die Grenze der
Belastbarkeit der Unternehmen gehen. Für die Zukunft würde ich mir
mehr Lohnzurückhaltung seitens der
Gewerkschaft wünschen«, so Dulger
gegenüber dpa.
Ursprünglich hatte die IG Metall
fünf Prozent mehr Geld binnen eines
Jahres gefordert. Die Unternehmer
hatten 2,1 Prozent Entgelterhöhungen für zwei Jahre in zwei Stufen
angeboten, plus einer Einmalzulage
von 0,3 Prozent.
Simon Zeise
Siehe Seite 8
THOMAS FREY/DPA - BILDFUNK
n Kurdistan eskaliert der Krieg
der türkischen Regierung gegen
die Bevölkerung immer mehr.
Am Freitag kam es in der seit 60
Tagen belagerten Stadt Sirnak zu heftigen Kämpfen. Filmaufnahmen zeigen mehrstöckige Wohnhäuser, die
nach Panzerbeschuss einstürzen oder
in Flammen aufgehen. In Nusaybin
bombardierten am Donnerstag erstmals auch F-16-Kampfflugzeuge ein
Wohnviertel, wie die kurdische Nachrichtenagentur Firat meldete. In der an
der Grenze zu Syrien gelegenen Stadt
gilt seit dem 14. März der Ausnahmezustand. Viele der Einwohner harren
ohne Wasser- und Stromversorgung in
der durch Panzer und Artillerie beschossenen Stadt aus. Die aus der Jugendorganisation der Arbeiterpartei
Kurdistans (PKK) und Anwohnern
gebildeten Selbstverteidigungseinheiten YPS konnten das Eindringen von
Armee und Polizeispezialeinheiten in
mehrere verbarrikadierte Wohnviertel
von Nusaybin bislang verhindern –
doch der Preis dafür ist hoch.
In der Region Cukurca in der Bergprovinz Hakkari griff die PKK-Guerilla in der Nacht zum Freitag eine Einheit der Armee an, zahlreiche Soldaten sollen dabei getötet worden sein.
Die Aufständischen meldeten zudem
den Abschuss eines Kampfhubschraubers vom Typ »Cobra«. Die Armee
bestätigte den Absturz, bei dem die
Piloten starben, sprach aber von einem
technischen Defekt. Mehrere Soldaten
wurden zudem am Donnerstag bei einem Anschlag nahe einer Kaserne in
Istanbul verletzt.
Unterdessen erließ ein Gericht
Haftbefehl gegen den Kovorsitzenden der Demokratischen Partei der
Regionen (DBP), Kamuran Yüksek,
Berlin. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel bemüht sich angeblich
um ein Gespräch mit dem LinkenPolitiker Oskar Lafontaine (Foto).
Wie der Berliner Tagesspiegel
berichtete, wollte Gabriel am Freitag abend an einem industriepolitischen Kongress in der ehemaligen
Völklinger Hütte im Saarland teilnehmen und bei der Gelegenheit
mit Lafontaine zusammentreffen.
Es solle um einen politischen Austausch ohne konkrete Themen gehen. Eine unabhängige Bestätigung
für das Treffen gab es nicht.
Seit seinem Rücktritt als SPDChef und Bundesfinanzminister im
März 1999 gilt Lafontaine vielen
Sozialdemokraten als Reizfigur.
Gabriel selbst steht in seiner Partei
nicht zuletzt wegen katastrophaler
Umfrageergebnisse unter Druck.(jW)
Siehe auch Seite 3
wird herausgegeben von
1.832 Genossinnen und
Genossen (Stand 29.4.2016)
n www.jungewelt.de/lpg