faulheit & arbeit Sonnabend/Sonntag, 10./11. September 2016, Nr. 212 n Drucksachen n Schwarzer Kanal n Reportage n ABC-Waffen Zeitweilig glücklicher durch Freihandel. Rede von Karl Marx in Brüssel vor der Demokratischen Gesellschaft 1848. Klassiker Putschstimmung. Die FAZ sieht in der AfD die einzige politische Kraft, die sich noch wehrt. Von Arnold Schölzel Ein Traum, der jedes Jahr neu wahr wird. Das Pressefest »Festa do Avante!« in Lissabon. Von Peter Steiniger Er hätte lieber eine Filiale der Deutschen Bank durchsucht als das Lessing. Nicht die Polizei. Von Franz Dobler PICTURE ALLIANCE / ZUMAPRESS.COM »Unsere humanitäre Tradition ist ein Mythos« Gespräch. Mit Amanda Ioset. Über Unterbringungen in Bunkern, Wendungen in der Asylpolitik und den zunehmenden Einfluss der Rechten in der Schweiz nfang Juni wurde in der Schweiz über eine Asylgesetzrevision abgestimmt. Eine Mehrheit votierte für die Vorlage – und damit gegen den Willen der rechten Schweizerischen Volkspartei. »Die SVP ist im asylpolitischen Abseits«, titelte die Tageszeitung NZZ daraufhin. Das sind neue Töne aus der Schweiz. Bislang war die Rechtspartei mit ihrem harten Kurs gegen Geflüchtete und Migranten sehr erfolgreich. Ja, es klingt toll. Doch die SVP war nur in dieser Abstimmung »isoliert«. Viele der Maßnahmen, die nun verabschiedet wur den, hatte die SVP selbst gefordert. Etwa die Beschleunigung der Asylverfahren. Doch die Partei hatte das Gefühl, stark genug zu sein, um 100 Prozent ihrer An liegen durchzusetzen. Betrachtet man die PRIVAT A Amanda Ioset … ist Geschäftsführerin von Solidarité sans frontières Asylpolitik hingegen insgesamt, wird der Kurs der SVP von vielen Parteien getra gen. Nur einen Tag nach der Abstimmung über die Asylgesetzrevision verfasste et wa die liberale FDP ein Communiqué. Darin erklärte sie, bei der Aufnahme von Menschen müsse die Schweiz restriktiver werden. Bleiben wir noch bei dieser bislang letzten Änderung des Asylgesetzes. In der Juni-Abstimmung ging es vor allem um die Einrichtung größerer Bundeszentren. Was steckt dahinter? Diese Revision zielt auf eine Zentralisa tion der Asylverfahren. Es bestehen be reits sogenannte Bundeszentren, etwa in Chiasso oder Kreuzlingen. Wer in der Schweiz ankommt und Asyl ersucht, wird zunächst in sie gebracht. Diese Zentren sollen nun ausgebaut und größer wer den. Erst in einem zweiten Schritt werden Geflüchtete dann an Kantone und Ge meinden überwiesen. Es gibt nun aber die Idee, dass der Bund selbst mehr Ge flüchtete unterbringt, damit die Verfah ren – und auch die sogenannten Ausschaf fungen – schneller gehen. Die wirklichen Probleme, die bestehen, werden damit aber nicht gelöst. Teilweise werden Zen tren, die bislang in kantonaler Hand wa ren, nun in Bundeszentren umgewandelt. Das passiert etwa im Kanton Neuchâtel. Schon jetzt sind in den Zentren teilweise 200 Menschen untergebracht, es dürften nun noch mehr werden. Am politischen Willen, für die Menschen passende Woh nungen zu finden, mangelt es. Und das sogar in Städten, in denen es einen großen Leerstand gibt – was ebenfalls in Neuchâ »Ein Resultat der schweizerischen Asylpolitik und jener der EU«: Hunderte Geflüchtete leben derzeit außerhalb der italienischen Stadt Como, nahe der Grenze zur Schweiz. Der Mythos Ein Gespräch mit Amanda Ioset über die »humanitäre Tradition« der Schweiz, Unterbringung von Flüchtlingen in Bunkern und den zunehmenden Einfluss der Rechten. Außerdem: Die »Festa do Avante!« in Lissabon. Drei Tage steht die Welt Kopf. Fotoreportage n Fortsetzung auf Seite zwei Siehe Seite 16 ACHT SEITEN EXTRA GEGRÜNDET 1947 · SA./SO., 10./11. SEPTEMBER 2016 · NR. 212 · 1,90 EURO (DE), 2,10 EURO (AT), 2,50 CHF (CH) · PVST A11002 · ENTGELT BEZAHLT Anbiederei Auslandspersonal Ausverkauf Absurdistan 3 6 9 11 Niederlande: Ermittlungen gegen Sala- Israel: Regierung versteigert 24 Lizenfisten wegen Terrorfinanzierung. zen zur Erdgasförderung an Von Gerrit Hoekman Multis. Von Shir Hever Hauptstadtwahlkampf: Minderheitenschutz für Westberliner gefordert. Von Helmut Höge Staatsterror in Anatolien Türkische Regierung stellt kurdische Städte unter Zwangsverwaltung und suspendiert vor Schuljahresbeginn Tausende Lehrer. Von Nick Brauns D Brüssel. Zwei Reaktoren des belgischen Atomkraftwerks Tihange sind erneut ausgefallen. Der Reaktor Tihange 2 wurde am frühen Freitag morgen abgeschaltet, wie der Betreiber Engie Electrabel mitteilte. Die Ursache des Problems sei noch nicht bekannt, erklärte eine Sprecherin. Allerdings sei ein Eingriff im konventionellen Teil der Anlage nötig. Konkret gehe es um einen Dampfgenerator zum Antrieb von Turbinen. Tihange 2 sollte in der Nacht zum Samstag wieder anlaufen, Tihange 1, der bereits am Mittwoch abgeschaltet wurde, in der Nacht zum Montag. Der dritte Reaktor, Tihange 3, soll am Samstag für rund einen Monat für eine routinemäßige Wartung außer Betrieb gehen. Tihange liegt nahe der ostbelgischen Stadt Lüttich. Sie ist etwa 50 Kilometer von Aachen entfernt. Vor allem in Nordrhein-Westfalen gibt es Bedenken hinsichtlich der Sicherheit der Reaktoren. (dpa/jW) PICTURE ALLIANCE / ABACA er Ausnahmezustand in der Türkei soll bis 2017 verlängert werden. Das berichtete die sozialistische Tageszeitung Evrensel (Freitagausgabe) unter Berufung auf Politiker der sozialdemokratischen Opposition. Offiziell war der vorerst für drei Monate geltende Ausnahmezustand erlassen worden, um gegen die als Drahtzieherin des Putschversuches vom 15. Juli geltende Bewegung des Predigers Fethullah Gülen vorzugehen. Doch nun nutzt Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan seine Sondervollmachten, um gewählte Bürgermeister in Dutzenden Städten des mehrheitlich kurdisch bewohnten Südostens der Türkei absetzen und die Stadtverwaltungen unter Zwangsverwaltung stellen zu lassen. Die Regierung beschuldigt die von der links-kurdischen Demokratischen Partei der Regionen (DBP) regierten Kommunen, die Arbeiterpartei Kurdistans PKK zu unterstützen, weil sie im Sommer vergangenen Jahres ihre auf Volksräten beruhende »Selbstverwaltung« ausgerufen hatten. 28 Stadtverwaltungen seien bereits auf Grundlage des Dekrets abgesetzt worden, erklärte Innenminister Süleyman Soylu am Donnerstag. »Es geht um alles oder nichts. Wir sind dabei, denjenigen, die sich nicht der Macht des Staates unterwerfen wollen, eine Antwort in einer Sprache zu geben, die sie verstehen.« Als erste Kommunen wurden am Donnerstag der Altstadtbezirk Sur der Metropole Diyarbakir sowie die nahegelegene Kreisstadt Silvan den jeweiligen Bezirksgouverneuren als Treuhändern unterstellt. Beide Orte gelten als Hochburgen der kurdischen Befreiungsbewegung. Die Menschen in Diyarbakir lassen sich die Repression aus Ankara nicht gefallen So kam die linke Demokratische Partei der Völker (HDP), deren stärkste Mitgliedsorganisation die kommunalpolitisch tätige DBP ist, bei der Parlamentswahl im Oktober letzten Jahres in Sur auf 81,6 Prozent und in Silvan sogar auf 88,9 Prozent der Stimmen. Nachdem Jugendliche zum Schutz der selbstverwalteten Stadtviertel vor Polizeiübergriffen Barrikaden errichtet hatten, wurden beide Kommunen im Winter während wochenlanger Ausgangssperren von der Armee mit schweren Waffen beschossen. Anschließend wurden die vertriebenen Bewohner der zerstörten Stadtviertel per Dekret enteignet. »Wir erkennen diese Treuhänder nicht an. Sie können den Willen des Volkes nicht vertreten«, erklärte die Kovorsitzende der DBP, Sebahat Tuncel, am Donnerstag. »Dies ist ein Putsch. Und so wie unser Volk gegen den Putsch (vom 15. Juli, jW) Widerstand geleistet hat, wird es auch gegen diesen Widerstand leisten.« Die PKK hatte bereits vor einigen Tagen damit gedroht, die staatlichen Treuhänder anzugreifen. Kurz vor Beginn des neuen Schuljahres am 19. September hat das Bildungsministerium am Donnerstag 11.285 Lehrer in den mehrheitlich kurdisch bewohnten Landesteilen wegen angeblicher PKK-Verbindungen sus- pendieren lassen. In Diyarbakir löste die Polizei am Freitag eine Kundgebung der Bildungsgewerkschaft Egitim-Sen gewaltsam auf, mindestens 30 Lehrer wurden festgenommen. Während Erdogan am Donnerstag in Ankara von der »größten Militäroperation in der Geschichte« der Türkei gegen die PKK sprach, stößt die Armee auf starken Widerstand der Guerilla. Die Soldaten führten einen »Kampf um Leben oder Tod«, gab selbst der Oberkommandierende der Militärpolizei, General Yasar Güler, nach tagelangen verlustreichen Kämpfen in der Bergprovinz Hakkari gegenüber der Presse zu. Gesinnungs-TÜV für Incirlik AKP-Politiker will Sonderüberprüfung für Linke-Abgeordnete vor Besuch der türkischen Airbase D er türkische AKP-Abgeordnete Mustafa Yeneroglu erwartet eine gesonderte Überprüfung von Bundestagsabgeordneten der Partei Die Linke vor Besuchen auf der Luftwaffenbasis Incirlik. Als Grund nannte er die mutmaßliche Unterstützung von Teilen der Linksfraktion für die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans PKK. »Bei den Abgeordneten der Linke-Fraktion gehe ich davon aus, dass das türkische Außenministerium äußerst sensibel prüfen wird, ob auf der demnächst erwarteten Besucherliste auch solche sind, die die Terrororganisation PKK aktiv unterstützen«, sagte Yeneroglu am Freitag der Deutschen Presseagentur (dpa) in Istanbul. Der Obmann der Linkspartei im Verteidigungsausschuss, Alexander Neu, wertete die Äußerung als »Einschüchterung und Drohung«. Er fordere »die vollständige Gleichbehandlung zu den übrigen Abgeordneten seitens der türkischen Regierung sowie selbstverständlich eine Garantie für meine Sicherheit«, sagte Neu der dpa. Die Bundesregierung und den Bundestagspräsidenten forderte er auf, »derartige Äußerungen der türkischen Seite auf das schärfste zurückzuweisen«. Parlamentarier wollen am 5. Oktober die deutschen Soldaten in Incirlik besuchen. Tatsache ist, dass sich Politiker der Linksfraktion trotz unterschiedlicher Meinungen über die PKK gegen das seit 1993 bestehende Verbot der Partei in Deutschland einsetzen. Im Herbst 2014 dachte aber auch Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) laut darüber nach, die PKK im Kampf gegen die Terrormiliz »Islamischer Staat« durch Waffenlieferungen zu unterstützen. Inzwischen hat die Bun- Belgien: Reaktoren in Tihange abgeschaltet OLIVER BERG/DPA-BILDFUNK Nach Wahldebakel: MecklenburgVorpommerns Linkspartei macht weiter wie gehabt WWW.JUNGEWELT.DE desregierung ihre Linie wieder geändert. Um den Incirlik-Besuch zu ermöglichen, hatte Regierungssprecher Steffen Seibert am 2. September erklärt, die Resolution des Bundestags zu den osmanischen Massakern an den Armeniern 1915 und deren Einstufung als Völkermord seien rechtlich nicht bindend. Die Linke hat bisher offengelassen, ob sie in Incirlik sein wird. »Wir müssen das noch besprechen, wegen der Bedingungen, unter denen die türkische Zusage erkauft worden ist«, sagte Neu. (dpa/jW) BRD-Exporte brachen im Juli ein Wiesbaden. Rückschlag für den deutschen Außenhandel: Die Exporte sind im Juli gegenüber dem Vorjahresmonat um zehn Prozent auf einen Wert von 96,4 Milliarden Euro gesunken, wie das Statistische Bundesamt am Freitag in Wiesbaden mitteilte. Der Wert der Importe fiel demnach um 6,5 Prozent auf 76,9 Milliarden Euro. »Die ungewöhnlich vielen Krisenherde hinterlassen ihre Spuren«, erklärte dazu der Außenhandelsverband. Das führe zu »enormer Verunsicherung« und ausbleibenden Investitionen. Am stärksten schrumpften die Exporte den Statistikern zufolge in Länder außerhalb der EU. Aber auch Ausfuhren in EU-Länder außerhalb der Euro-Zone, zu denen etwa Großbritannien gehört, gingen zurück. (AFP/jW) Siehe Seite 9 wird herausgegeben von 1.867 Genossinnen und Genossen (Stand 12.8.2016) n www.jungewelt.de/lpg
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