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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Feature
Zwischen den Fronten
Kurdische Abgeordnete werden bedroht
Von Michael Enger
Sendung: Mittwoch, 8. Februar 2017
Redaktion: Birgit Morgenrath
Produktion: DLF/NDR/SWR 2017
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Atmo
Erzähler
Sie kommen nach Mitternacht. Schwerbewaffnete Polizisten stürmen in der Nacht
zum 4. November 2016 die Parteibüros der pro-kurdischen Partei HDP in Ankara und
Diyarbakir, der kurdischen Metropole im Südosten der Türkei. 13 Abgeordnete der
Demokratischen Partei der Völker, HDP, der drittgrößten Fraktion im türkischen
Parlament, werden in dieser Nacht verhaftet, neben den beiden Parteivorsitzenden
auch Ziya Pir in Diyarbakir.
O-Ton Ziya Pir
„Es war kurz nach ein Uhr nachts, saß ich zuhause, hab noch ein bisschen
gearbeitet, und dann hat es bei mir geklingelt. Da standen sie schwerbewaffnet, so
zehn, zwölf Mann und haben gesagt, ich soll mitkommen, haben mir die Unterlagen
gezeigt. Ich habe gesagt, das ist verfassungswidrig und gesetzeswidrig. Draußen
standen überall gepanzerte Wagen, vor der Haustür und dann auch außerhalb der
Siedlung war alles abgeriegelt. Ich habe gefragt, wie viele Leute nehmt ihr mit, die
ganze Siedlung? Nein, nur einen - also nur mich."
Erzähler
Ziya Pir ist einer von drei Abgeordneten der HDP, die in Deutschland aufwuchsen
und sich entschlossen, bei den Parlamentswahlen 2015 in der Türkei zu kandidieren.
Neben der deutschen besitzen Ziya Pir, Feleknas Uca und Ali Atalan auch die
türkische Staatsbürgerschaft. Sie hatten Deutschland verlassen, um bei der Suche
nach einer friedlichen Lösung in dem seit Jahrzehnten währenden Kurdenkonflikt zu
helfen, sagen sie. Die Friedensverhandlungen mit der PKK waren ins Stocken
geraten. Die Regierung hatte diese zwar selber initiiert und die HDP als Vermittler
vorgeschlagen, aber Staatspräsident Erdogan drängte auf einen Kurswechsel.
Nun hat die erneute Eskalation der Gewalt in den kurdischen Gebieten die
ehrgeizigen Ziele der drei Abgeordneten überrollt.
O-Ton Ziya Pir
"Abgeordneter der HDP zu sein bedeutet, dass man zwischen den Fronten sitzt,
dass man vor allem zwischen zwei Parteien ist, die sich bekriegen, die PKK auf der
einen Seite und auf der anderen Seite die Regierungspartei AKP. Wir müssen
versuchen, zwischen denen zu vermitteln, wir müssen versuchen, die Bevölkerung
zu motivieren, dass sie ihren Glauben an den Frieden nicht verlieren."
Sprecherin
Die Türkei unter Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan driftet immer weiter in
Richtung einer autokratischen Herrschaft und die drei aus Deutschland stammenden
Abgeordneten werden immer tiefer in den Strudel der Ereignisse hineingezogen. Ziya
Pir wird unter Auflagen wieder freigelassen. Aber nach Aufhebung der Immunität
ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen ihn und alle anderen HDP-Abgeordneten.
Gefängnisstrafen drohen.
Ansage
ZWISCHEN DEN FRONTEN
Kurdische Abgeordnete werden bedroht
Ein Feature von Michael Enger
Sprecherin
Diyarbakir, die heimliche Hauptstadt der Kurden. Freitag, 5. Juni 2015.
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Erzähler
Ein Hochsommertag mit Temperaturen über 30 Grad, der letzte Tag eines
turbulenten Wahlkampfes. Die pro-kurdische HDP hat zur Abschlusskundgebung auf
einer großen Straßenkreuzung gerufen. Zehntausende sind gekommen, vielleicht
sogar Hunderttausend, die Menschenmassen sind unüberschaubar. Ausgelassen
wird gefeiert und getanzt, denn alle Prognosen sagen voraus, dass die HDP die
Zehnprozent-Hürde überspringen wird. Für eine kurze Zeit scheinen die Menschen
zu vergessen, wie viele Opfer dieser Wahlkampf der HDP abverlangte: Übergriffe auf
Parteimitglieder, zuletzt Bombenanschläge auf Parteibüros in Adana und Mersin.
Sprecherin
Sollte die HDP ins türkische Parlament einziehen, wären Kurden dort zum ersten Mal
nicht nur mit unabhängigen Einzelkandidaten, sondern mit einer eigenen Partei
vertreten. Damit könnten sie die Pläne der Regierungspartei AKP zunichtemachen,
mit ihrer Mehrheit eine Präsidialverfassung zu beschließen, die Staatspräsident
Erdogan noch mehr Macht verleihen würde.
Erzähler
Die zahlreichen Pressevertreter stehen auf einer Plattform vor der Haupttribüne. Von
dort haben wir einen Blick auf die gewaltige Kulisse. Unzählige Menschen drängen
sich in den breiten Straßen, die sternförmig auf die große Kreuzung zuführen. Viele
tragen schmale Stirnbänder in den kurdischen Farben. Tausende schwenken HDPFahnen. Auf großen Transparenten sind die Porträts der beiden Vorsitzenden zu
sehen, Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş. Auf der Bühne präsentieren sich
die Kandidaten der HDP und winken den jubelnden Menschen zu. Unter ihnen sind
auch Ziya Pir und Feleknas Uca. Ziya Pir, dunkelgrauer Anzug, die oberen Knöpfe
seines weißen Hemdes weit geöffnet, hält eine flammende Rede. Dabei schreitet er
von der einen zur anderen Seite der Bühne.
O-Ton Rede Ziya Pir
Erzähler/Übersetzung
"Ergreift die Hand unserer Partei, damit die Mütter nicht mehr weinen müssen. Ich
bin Türke und habe die Gräber gefallener Soldaten besucht genauso wie die
gefallener Guerillakämpfer. Ich habe mit ihren Müttern geredet. Jede Mutter will den
Frieden."
Sprecherin
Ziya Pir hat früher eine Firma für Zahntechnik mit 30 Mitarbeitern in Duisburg
geleitet. Geboren wurde er 1970 in einer Region an der Schwarzmeerküste, kam mit
seiner Familie im Alter von neun Jahren nach Deutschland. Nach seinem Studium
arbeitete er bei verschiedenen Firmen als Projektleiter und Geschäftsführer.
Ursprünglich stammt er aus einem eher konservativ geprägten Umfeld, baute in
Deutschland sogar eine Lobbyorganisation für Erdogans AKP mit auf, der „Partei für
Gerechtigkeit und Entwicklung“. Aber über seine Familie ist er auch mit der
Geschichte der Kurden verbunden. Sein Onkel Kemal war Mitgründer der kurdischen
Arbeiterpartei PKK und kämpfte Ende der 1970er-Jahre mit der Waffe für die Rechte
der Kurden.
Erzähler
Neffe Ziya aber will mit politischen Mitteln und friedlich für die Aussöhnung zwischen
Türken und Kurden arbeiten.
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O-Ton Ziya Pir
Wir sind selber Türken. Ich habe ein großes Interesse an diesem Kurdenproblem. Es
hat sich eine Verantwortung bei mir entwickelt, dieses Problem zu lösen. Und
aufgrund meiner Familiengeschichte habe ich auch einen besseren Zugang zu den
Menschen. Ich habe gesagt, ich gehe dahin, ich übernehme die Verantwortung.
Das Kurdenproblem gibt es in der türkischen Republik seit der Gründung der
Republik vor knapp 100 Jahren. Damals haben Kurden, Türken und andere Völker in
der Türkei die Republik gemeinsam gegründet. Später hat man in die türkische
Verfassung reingeschrieben - nach der Gründung - die Souveränität gehört dem
türkischen Volk. Das ist eine bewusste Ausgrenzung der Kurden. Die Kurden
verlangen seit 100 Jahren, dass sie einbezogen werden. Man muss dafür die
Verfassung ändern. Das ist seit 100 Jahren nicht gemacht.
Weil man den Forderungen der Kurden auf diplomatischem Weg und auf rechtlichem
Weg nicht nachkommt, sind einige in die Berge gezogen, um bewaffnet diese
Forderungen durchzusetzen. Das ist die Geburt die PKK gewesen, und 84 haben die
mit dem bewaffneten Kampf begonnen, und das geht seit über 30 Jahren so weiter.
Wir müssen jetzt dafür sorgen als Politiker, dass man den Forderungen der Kurden
nachkommt - das sind legitime Forderungen, das sind demokratische Forderungen und gleichzeitig die PKK anhält, die Waffen niederzulegen.“
Erzähler
Unter den HDP-Kandidatinnen auf der Bühne ist auch Feleknas Uca: In einem
bodenlangen, rot-schwarzen Kleid mit einer leuchtend-roten Schärpe um die Hüfte.
Ihre langen schwarzen Haare sind geflochten.
Sprecherin
Feleknas Uca wurde 1976 in Celle geboren und wuchs dort auf. Sie ist Jesidin.
Schon früh begann sie, sich politisch zu engagieren, saß später für Die Linke
mehrere Jahre im Europaparlament und arbeitete in den Ausschüssen für
Menschenrechte, für die Rechte von Frauen und Minderheiten.
Erzähler
Nun kandidiert auch sie für die HDP in Diyarbakir.
O-Ton Feleknas Uca
"Eigentlich war ich hier, um ein Frauenhaus aufzubauen. Ich lebe schon fast drei
Jahre hier. Als die Friedensverhandlungen angefangen haben, war ich in der
Hoffnung, dass ich die Erfahrungen aus meinem politischen Bereich hier einsetzen
kann, vor allem für die Friedensverhandlungen. Ich denke, die Kurden haben es jetzt
verdient, endlich in Freiheit und in Frieden zu leben, ihre Rechte zu bekommen, wie
alle anderen Menschen auch."
Erzähler
Ziya Pir hat seine Rede beendet. Weitere Kandidaten und Kandidatinnen sind
angekündet, bevor zum Abschluss der Veranstaltung Selahattin Demirtaş das Wort
ergreifen soll, einer der beiden Vorsitzenden aus der Doppelspitze der Partei.
Doch dazu kommt es nicht mehr. Eine gewaltige Explosion erschüttert den
Versammlungsplatz. Knapp fünfzig Meter von uns entfernt steigt eine schwarze
Rauchwolke hoch. Die Menschen sind konsterniert, viele schockiert. Zwei Bomben
sind hochgegangen. Eine weiter hinten und die zweite in der Nähe der Bühne, in
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einem Trafohäuschen, auf dessen Dach nun einige Männer stehen. Sie schreien und
signalisieren verzweifelt zur Bühne hinüber, dass man dringend Hilfe brauche.
Der Moderator wiederholt ununterbrochen seine Aufforderung, Korridore für die
Rettungswagen zu öffnen. Vor der Bühne versuchen einige über die hohen
Absperrgitter zu klettern, um aus dem Bereich herauszukommen. Dazwischen - wie
zur Ermutigung - Sprechchöre, für eine freies Kurdistan und gegen Staatspräsident
Erdogan. Andere fordern gar eine bewaffnete Antwort der kurdischen Guerilla. Bald
nahen die Sirenen der ersten Rettungswagen, die sich den Weg durch die Menge
bahnen. Noch immer sind Tausende versammelt. Ratlosigkeit, Verzweiflung, aber
auch Wut ist in vielen Gesichtern zu sehen. Wut über einen weiteren Anschlag auf
die HDP, hinter dem die meisten hier wohl Handlanger des Staates vermuten. Der
Ko-Vorsitzende Demirtas ruft derweil vor der Parteizentrale dazu auf, sich weder
einschüchtern noch provozieren zu lassen und stattdessen die Antwort an der
Wahlurne zu geben.
An den Eingängen des Universitätskrankenhauses kommt es zu dramatischen
Szenen. Verzweifelte Menschen versuchen zu ihren verletzten Angehörige ins
Gebäude zu gelangen, andere drängen sich vor den ausgehängten Namenslisten
der Verletzten. Ständig rasen Rettungswagen mit Schwerverletzten heran.
Auch Feleknas Uca ist da, versucht in dem Chaos zu helfen.
O-Ton Feleknas Uca
"Allein in dem Krankenhaus in der Universität haben wir 83 Verletzte. Mit ner
größeren Zahl wird noch gerechnet. Wir haben Todesopfer.
Politisch ist klar, man möchte die Kurden nicht im Parlament haben. Und aus diesem
Grund dann auch die ganzen Übergriffe auf die HDP, die Drohungen. Wir haben bis
jetzt über 100 Büros von der HDP, wo in Brand gesetzt worden sind oder zerstört
worden sind. Dann die beiden Bombenanschläge in Adana und in Mersin. Und heute
dann die Explosionen."
Sprecherin
Bereits am 18. Mai 2015 hatte es zeitgleich in den beiden Millionenstädten Adana
und Mersin im Südosten des Landes zwei Anschläge auf Parteibüros der HDP mit
mehreren Verletzten gegeben.
Erzähler
Aber weder diese Bomben noch der neue Anschlag in Diyarbakir halten die HDPWähler davon ab, zur Wahl zu gehen. Mit 13,1 Prozent der Stimmen und 80
Abgeordneten zieht die HDP in die sogenannte Große Nationalversammlung der
Türkei ein. Sie verhindert damit zunächst, dass die regierende AKP ihr angestrebtes
Präsidialsystem durchsetzen kann. Ziya Pir und Feleknas Uca werden in Diyarbakir
mit 78 Prozent der Stimmen gewählt.
Sprecherin
Die HDP konnte auch bei nicht-kurdischen Bevölkerungsgruppen in einigen Städten
der Westtürkei punkten. Sie wurde zum Sammelbecken linker und links-liberaler
Gegner der AKP-Regierung. Das Linksbündnis will für eine Demokratisierung des
Landes und für die Rechte von Minderheiten eintreten - ausschließlich mit politischen
Mitteln. Die HDP lehnt daher den bewaffneten Kampf ab.
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Erzähler
Politische Gegner halten dieses Bekenntnis allerdings für bloße Makulatur, und von
staatlicher Seite wird der HDP sogar vorgeworfen, sie habe enge Verbindungen zur
verbotenen Arbeiterpartei PKK, sei nur ihr verlängerter Arm.
Sprecherin
Die HDP selber hat dies immer bestritten. Man verurteile die Terroranschläge der
PKK-Guerilla – ist von ihrer Seite zu hören. Aber es reiche nicht aus, die PKK als
terroristisch zu brandmarken, denn schließlich sei sie ein Produkt der langen
Unterdrückung der Kurden. Man müsse sie als politische Realität anerkennen und
den Dialog zwischen den beiden Seiten für eine friedliche Lösung des Konfliktes
weiterführen.
Erzähler
Die Attentate auf der Wahlveranstaltung in Diyarbakir im Juni 2015 fordern
insgesamt fünf Tote und Hunderte Verletzte. Wie die Polizei später ermitteln wird,
sind Mitglieder einer Terrorzelle des Islamischen Staates dafür verantwortlich.
Sprecherin
August 2015, wenige Wochen nach der Wahl.
Erzähler
Die Fahrt geht über einen holprigen Schotterweg durch eine hügelige Landschaft mit
verdorrten Wiesen und Feldern. Wir sind unterwegs auf dem Plateau des Tur Abdin.
Das Kalksteingebirge liegt einhundertfünfzig Kilometer südöstlich von Diyarbakir
nahe der türkisch-syrischen Grenze. Der Tur Abdin ist seit anderthalb Jahrtausenden
Heimat syrisch-orthodoxer Christen, die hier auch heute noch Aramäisch sprechen,
die Sprache Jesu. Aber in den letzten Jahrzehnten wurden die meisten Christen
vertrieben, genauso wie die Jesiden.
Am Steuer unseres Wagens sitzt Ali Atalan, frisch gewählter HDP-Abgeordneter. Er
ist Jeside und hat einen Großteil seines Lebens in Deutschland verbracht. Zu seinen
Aufgaben in der HDP gehöre die Interessenvertretung von Minderheiten, erzählt er
uns bei einem kurzen Stopp in einem Café.
O-Ton Ali Atalan
„Die Jesiden und auch Christen sind Anfang der 90er-Jahre aus dieser Region
vertrieben worden, so dass Hunderte von Dörfern jetzt leer stehen. In letzter Zeit sind
einige wenige zurückgekommen, je Dorf zwei, drei Familien. Die haben ihre Häuser
renoviert oder neue Häuser gebaut. Der Wille ist auf jeden Fall da bei den Jesiden
und auch assyrischen Christen, in ihre Dörfer zurückzukehren. Damals sind sie
aufgrund der massiven Unterdrückung geflüchtet. Diese Unterdrückungspolitik hat
nicht aufgehört, so dass der Wille leider torpediert wird durch Diskriminierung
gegenüber nicht-muslimischen Minderheiten."
Sprecherin
Ali Atalan wurde 1968 in der Stadt Midyat geboren, nahe der syrischen Grenze. Er
musste mit seiner Familie 1985 nach Deutschland fliehen, da war er 17. Er hätte im
Dorf oft mitansehen müssen, wie Soldaten die Menschen misshandelten, erzählt er.
In Deutschland studierte Ali Atalan und arbeitete später im Stadtrat von Dülmen. Er
war Ratsmitglied in Münster, zuerst bei Bündnis 90/Die Grünen, dann bei den Linken.
Zwei Jahre gehörte er dem Landtag von Nordrhein-Westfalen an.
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O-Ton Ali Atalan
"Über die Hälfte meines Lebens habe ich in Deutschland verbracht, also Deutschland
ist auch meine zweite Heimat, so dass ich ein Leben ohne Deutschland überhaupt
nicht vorstellen kann. Gleichzeitig, das Land, wo ich geboren bin, Türkei - Kurdistan
ist auch für mich ein großer Bestandteil meines Lebens, und bin ich auch emotional
richtig da gebunden, aber von den politischen Wertevorstellungen her bin ich
Europäer. Meine Kandidatur in der Türkei war mit der Hoffnung verbunden, das Land
gemeinsam mit gleichgesinnten, fortschrittlichen Kräften zu demokratisieren, mehr
Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zu installieren."
Erzähler
Die älteren Männer haben schon am Eingang des Dorfes auf die Gäste gewartet.
Nach einer herzlichen Begrüßung geht es über einen Schotterweg hinauf ins Dorf.
Xerabiya ist auf einem Hügel gebaut. Die erdfarbenen Steine der Häuser heben sich
kaum von der vertrockneten Landschaft ab. Es ist heiß, über 35 Grad im Schatten.
Die Männer führen uns auf eine weitläufige, schattige Hausterrasse. Ein
erfrischender Luftzug ist zu spüren. Familie Celik ist dort versammelt, um ihren neu
gewählten Abgeordneten zu begrüßen.
Erzähler
Unter den Anwesenden sind Angehörige aus Deutschland, die mit ihren Kindern hier
die Sommerferien verbringen. Auch Gastgeber Temo hat bis vor einem Jahr in
Deutschland gelebt. Mit Beginn der Rente beschloss er, seinen Lebensabend in der
alten Heimat zu verbringen. In seinem Dorf lebten einst 50 Familien. Jetzt gerade
noch zwei, nur ältere Leute. Temo versucht sich hier mit seiner Frau
durchzuschlagen. Andere Jesiden in Deutschland überlegen, ihm zu folgen, zögern
aber noch.
Erzähler
Ali hört sich die Sorgen der Leute an. Es geht um Probleme mit Wasser und Strom.
Die staatlichen Behörden scheinen wenig Interesse daran zu haben, das jesidische
Leben hier wiederzubeleben.
O-Ton Ali Atalan
„Paramilitärische Kräfte in den Nachbardörfern, die vom Staat offiziell Waffen
bekommen, Rückhalt haben in den Behörden, versuchen, die jesidischen Dörfer für
sich zu reklamieren, diese Dörfer gehören angeblich ihnen. Die wollen damit
natürlich Jesiden erpressen, Gelder zu bekommen.“
Erzähler
Ali Atalan drängt zum Aufbruch, denn er wird noch in zwei weiteren Dörfern erwartet.
Solche Besuche seien wichtig, um den Menschen zu zeigen, dass ihre Abgeordneten
hinter ihnen stehen, sagt er. Aber einfach sei das nicht.
O-Ton Ali Atalan
"Man ist Risiken ausgesetzt, wenn man in die Dörfer geht. Da kann man einfach von
Sicherheitskräften angehalten werden und zurückgewiesen werden mit der
Begründung, es gäbe eine Anweisung vom Gouverneur, die sie befolgen müssen.
Oder manchmal wird man beleidigt oder muss man sich herabwürdigende Worte
anhören."
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Seite 8
Sprecherin
Diyarbakir im September 2015.
Erzähler
Schüsse hallen über die Stadtmauer, Panzerwagen und Wasserwerfer fahren
Patrouille, Polizisten mit Maschinenpistolen im Anschlag kontrollieren alle Eingänge
zur Altstadt. Nach den Wahlen sind die bewaffneten Auseinandersetzungen in den
kurdischen Gebieten wieder aufgeflammt.
Sprecherin
Zwei Monate zuvor waren kurz nach einem Anschlag des IS zwei Polizisten bei
einem Attentat getötet worden. Staatspräsident Erdogan machte die PKK
verantwortlich und nahm den Vorfall zum Anlass, die Friedensverhandlungen mit der
PKK endgültig abzubrechen: Mit der PKK sei kein Friede zu machen. Danach
bombardierten Kampfflugzeuge der türkischen Armee Stellungen der PKK-Guerilla
im Nordirak. Diese beendete daraufhin die von ihr 2013 ausgerufene Waffenruhe.
Erzähler
Es hätte nicht viel gefehlt, um der Region den lang ersehnten Frieden zu bringen sagen uns Kurden, sie hätten große Hoffnung in die Gespräche gesetzt. Nun
eskaliert der Konflikt von neuem. Politische Freiheiten werden eingeschränkt und
viele oppositionelle Kurden verhaftet. In einigen Stadtvierteln errichten daraufhin
jugendliche Aufständische aus dem Umfeld der PKK Barrikaden gegen das
Vorrücken der Polizisten und liefern sich Schießereien mit ihnen.
Im Altstadtviertel Sur hörten wir Schüsse und Kanonendonner bisher nur nachts, nun
gellen sie auch tagsüber. Unser Hotel liegt unmittelbar hinter der Stadtmauer. Auf
dem Weg dorthin müssen wir Kontrollen passieren. Viele Gebäude in den
umkämpften Straßen zeigen Einschusslöcher in den Fassaden, zerschossene
Scheiben. Eine Zone sei vollkommen zerstört worden, erzählen uns Bewohner.
Vorbei an Barrikaden aus Steinen und Sandsäcken gelangen wir dorthin.
Das große Stadtteilzentrum in Sur ist vollkommen ausgebrannt. Polizisten hätten es
in Brand geschossen, erzählen einige Frauen. Sie sind verzweifelt, dass die
Ergebnisse ihrer jahrelangen Arbeit in Schutt und Asche liegen. Hier gab es ein Café,
einen Kindergarten, Schulräume für Computerkurse und Kleidersammlungen für
Flüchtlinge aus Syrien. Auch Hunderte Medikamente für Bedürftige aus dem Viertel
liegen verbrannt im Schutt.
Erzähler
Ziya Pir fühlt sich von dieser neuen Eskalation der Gewalt überrollt.
Er ist mit seinem Fahrer in der Provinz nordöstlich von Diyarbakir unterwegs.
O-Ton Ziya Pir
"Wir fahren jetzt auf einen Berg zwischen Hani und Lice. Auf einem Gipfel da sind
Soldaten stationiert, um die 500, 600 Soldaten, und auf einem anderen Gipfel da sind
die Guerillas. Wir haben gesagt, wir lassen euch keinen Krieg machen und wir stellen
uns genau dazwischen. Wir sind da seit über drei Wochen. Ich war die erste Woche
dort, habe die blutigen Kämpfe da miterlebt, und jetzt fahre ich wieder dahin. Ich
werde dort übernachten."
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Sprecherin
Die Guerilla, das sind Kämpfer der HPG, der so genannten Volksverteidigungskräfte.
Sie gelten als bewaffneter Arm der von vielen Staaten als Terrororganisation
eingestuften Arbeiterpartei Kurdistans, PKK.
Erzähler
Die Fahrt führt nun durch eine unwirkliche Gegend: Völlig schwarz und verbrannt,
soweit das Auge reicht. Die Armee habe hier alles großflächig in Brand gesetzt,
erklärt Ziya Pir. Insgesamt 15.000 Hektar Wald seien bisher auf diese Art vernichtet
worden.
O-Ton Ziya Pir
„Am Anfang gab es starke Auseinandersetzungen. Als sich die Soldaten sich da
stationiert haben, haben Guerillas versucht, dorthin zu gelangen und wurden von
Helikoptern beschossen. Es gab auch Tote dort, und von Helikoptern haben die
Feuerbälle geworfen, um diese ganze Gegend anzuzünden, falls da Guerillakämpfer
sind, in der Hoffnung, dass sie dann auch mitsterben. Der Tod von ein, zwei
Guerillas steht über allem, auch wenn dabei 20, 30 Zivilisten getötet oder Häuser
angezündet werden. Das Leben eines Menschen ist in der Türkei nicht viel wert, vor
allem hier in Kurdistan. Von einem Rechtsstaat erwartet man, dass, wenn Guerillas
da sind, man die fängt und bestraft. Aber der türkische Staat rächt sich an der
gesamten Bevölkerung hier, und das sollte in einem Rechtsstaat nicht sein."
Erzähler
In der Ferne ist jetzt der Berg auszumachen, auf dessen zwei Gipfeln sich Armee
und Guerilla verschanzt haben. Sie liegen knapp eineinhalb Kilometer auseinander.
Wir halten auf einer Anhöhe zwischen den beiden Gipfeln. Entlang der Straße sind
Hunderte Autos von Demonstranten geparkt, die sich hier als lebende Schutzschilde
- wie sie sagen - zwischen die Kontrahenten gestellt haben. Verstreut über das weite
Areal sitzen Gruppen im Schatten der Bäume, suchen Schutz gegen die stechende
Sonne.
Erzähler
Ziya Pir begrüßt eine Gruppe älterer Frauen. Sie alle tragen den Carik, das
schneeweiße, kurdische Kopftuch, und sitzen auf großen Teppichen. Sie seien schon
seit vier Wochen hier, seit die Gefechte ausbrachen, erzählen sie, seien auch schon
aus Militärhubschraubern beschossen worden. Trotzdem wollen sie weiter machen.
O-Ton Frau
Übersetzerin
"Wir sind für den Frieden hier. Es soll keine Gefechte mehr geben. Weder Soldaten,
noch Guerillakämpfer sollen hier sterben. Ob Soldat oder Guerillakämpfer, beide
haben eine Mutter, deren Herz blutet. Wir möchten, dass keine Mutter diesen
Schmerz erlebt."
Erzähler
Ein langer Demonstrationszug hat sich auf den Weg zu den Soldaten gemacht,
darunter auch Bewohner aus umliegenden Dörfern. Mehr als eineinhalb Tausend
mögen es sein. Die Armee will einen Militärstützpunkt an einer Stelle errichten, wo
antike, historische Stätten liegen. Die Demonstranten wollen die Bauarbeiten
verhindern. Eine Abordnung will mit dem Kommandanten reden, auch Ziya Pir.
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Seite 10
Ein Feldweg führt hinauf zu dem bewaldeten Bergplateau, auf dem die Soldaten
Posten bezogen haben. Ein Panzer ist zu sehen und eine große Gruppe Soldaten,
die durch die Sprechchöre und Rufe der vielen Demonstranten aufgeschreckt
wurden. Bei den Soldaten ist mittlerweile Hektik ausgebrochen.
Erzähler
Zum Gespräch mit dem Kommandanten kommt es nicht, stattdessen fallen die
ersten Schüsse. Kurz darauf ist der ganze Berg in dichte, ätzende Tränengaswolken
gehüllt. Demonstranten rennen den Feldweg hinunter, halten sich Tücher vors
Gesicht oder spülen sich die Augen aus.
O-Ton Ziya Pir
"Wir haben gesagt, wir wollen als eine kleine Delegation – drei, vier Leute - mit euch
reden. Aber in dem Moment haben die angefangen zu schießen auf uns. Also das
waren Gasgeschosse. Davor haben sie mit Panzern geschossen, bevor wir ganz
oben waren. Es gab acht Verletzte, zwei davon sehr schwer. Ich war ganz vorne,
mich hätte es genauso gut treffen können. Aber wir sind das der Bevölkerung hier
schuldig und wir sind das dem Frieden schuldig. Wenn niemand ein Risiko auf sich
nimmt für den Frieden, dann werden wir hier nie Frieden haben. Also wir werden hier
ausharren, bis die Auseinandersetzung zu Ende ist, also bis die Soldaten da weg
sind oder Guerillakämpfer weg sind, und es kein Risiko der Auseinandersetzung hier
gibt."
Erzähler
Sie haben ihr Ziel zwar nicht erreicht, aber in den nächsten Tagen wollen sie einen
zweiten Versuch starten, mit den Soldaten ins Gespräch zu kommen - mit noch mehr
Demonstranten.
Sprecherin
Diyarbakir Ende Oktober 2015.
Sprecherin
Nach den Wahlen im Juni kam keine Koalition zustande, nun soll am 1. November
neu gewählt werden. Auch die drei aus Deutschland stammenden Abgeordneten
kandidieren wieder für die HDP. Es ist kein normaler Wahlkampf.
Erzähler
Die Kurden stehen noch unter dem Schock der letzten Anschläge, und die
bewaffneten Auseinandersetzungen sind weiter eskaliert.
O-Ton Feleknas Uca
„Die Menschen trauern, weil sie alles verloren haben und nur noch allein sich retten
konnten. Aus diesem Grund konnten wir zum 1. November nicht den Wahlkampf
führen, den wir gern führen wollten. Deswegen machen wir Wahlkampf von Tür zu
Tür, die Menschen auf der Straße ansprechen. Alle Menschen, die hier vor Ort leben,
sind einer massiven Bedrohung ausgesetzt. Die Übergriffe haben zugenommen. Die
haben uns ihre Stimme gegeben für den Frieden, und es tut dann weh, wenn man
mit anschauen muss, dass dieser Krieg weitergeführt wird und du schlicht
verhandeln möchtest und der türkische Staat nicht darauf eingeht. Oder wenn man
am Tag in einer Region wie Bismil vier Menschen beerdigen muss. Das ist nicht sehr
schön. Wenn man dann das Lächeln bei den Leuten auf dem Gesicht sieht, das
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Seite 11
erfreut einen, nur dass es denen ein bisschen besser geht oder dass die vielleicht in
dem Moment an was Anderes denken und nicht an den ganzen Schmerz."
Erzähler
Ein langer Autokonvoi schlängelt sich auf der abschließenden Wahlkampftour der
HDP durch Ofis, das lebendige Geschäftsviertel von Diyarbakir, vorneweg der große
Wahlkampfbus. Ziya Pir folgt in seinem Auto, anders als in früheren Wahlkämpfen.
O-Ton Ziya Pir
"Normalerweise sitzen wir im Bus bzw. wir steigen auf das Dach und grüßen die
Leute. Aber wir haben aus Sicherheitsgründen das absagen müssen. Nach all dem,
was in den letzten Monaten passiert ist in der Türkei, wir müssen eben vorsichtig
sein.“
Erzähler
Es hätte Hinweise auf einen möglichen Anschlag gegeben, erzählt Ziya Pir. Auch für
ihn persönlich sei die Bedrohung mittlerweile alltäglich geworden.
O-Ton Ziya Pir
„Ich versuche mich nach wie vor frei zu bewegen, alleine auch mal einkaufen zu
gehen. Aber das wird nicht gerne gesehen von unserer Partei, und ich wurde auch
von der türkischen Sicherheitsbehörde darüber informiert, dass mögliche Attentate
gegen mich stattfinden können. Dann gab es geplanten Selbstmordattentat auf uns,
morgens um sechs Uhr wollten wir einen Tierbasar besuchen, und die hatten schon
die Westen angezogen. Die Polizei hat die getötet. Dann hat man zweimal zwei
Leute festgenommen, die meine Wohnung ausgekundschaftet haben. Die
Bedrohung gibt es, aber mit der Zeit gewöhnt man sich dran, das ist ein bisschen
verrückt.“
Erzähler
Unter Jubel trifft Feleknas Uca am Wahltag vor einem Wahllokal ein, einer Schule im
Altstadtviertel Sur. Auf dem Schulhof drängen sich die Menschen. Auch Journalisten
aus dem Ausland sind gekommen. Feleknas Uca gibt ein Interview nach dem
anderen, schaltet fließend zwischen verschiedenen Sprachen hin und her. In Sur war
es auch in den letzten Wochen zu bewaffneten Auseinandersetzungen gekommen.
Zerschossene Scheiben und Einschusslöcher am Schulgebäude sind nicht zu
übersehen. Vor dem Eingang stehen zwei Panzer. Soldaten, martialisch anmutend
mit ihren Gesichtsmasken, haben auf dem Schulhof und im Gebäude Posten
bezogen. Das sei eine Drohkulisse, um die Menschen einzuschüchtern, sagt
Feleknas Uca. Seit dem frühen Morgen versucht sie, die Gerichte gegen diesen
Gesetzesverstoß einschreiten zu lassen. Bisher ohne Erfolg.
O-Ton
Feleknas Uca
"Nach dem Wahlgesetz dürfen die nicht mit den Waffen hier reinkommen. Sie dürfen
auch nicht in den Schulen rein, hier sind es Sondereinheiten, spezielle Teams. Wir
werden aber weitere Gespräche führen, dass wir die hier wegbekommen, weil das ist
ja keine faire Wahl."
Sprecherin
Trotz aller Übergriffe und Behinderungen schafft die HDP mit 10,8 Prozent der
Stimmen erneut den Sprung über die 10-Prozent-Hürde und zieht mit 59
Abgeordneten ins Parlament ein. Auch Ziya Pir, Feleknas Uca und Ali Atalan werden
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wiedergewählt. Erdogans AKP kann die absolute Mehrheit der Parlamentssitze
erreichen, hat es aber nicht geschafft, eine Zwei-Drittel-Mehrheit für die Etablierung
einer Präsidialverfassung zu erlangen.
O-Ton Gespräch Pir/van Aken
Ziya Pir: In den Häusern da, sind überall Löcher.
Jan van Aken: Alles Einschusslöcher? Das heißt, die Polizei ist bis
hierhingekommen?
Ziya Pir: Bei den ersten Vorfällen, jetzt sind sie drin."
Sprecherin
Ende Januar 2016
Erzähler
Rundgang durch ein Kriegsgebiet. Ziya Pir führt eine Delegation aus Deutschland mit
Jan van Aken, einem Bundestagsabgeordneten der Partei Die Linke, durch
Randgebiete von Sur. In dem Altstadtviertel toben immer noch Kämpfe zwischen
türkischen Soldaten und kurdischen Aufständischen. Die Armee hat mittlerweile
einen Belagerungsring um die Altstadt gezogen. Spezialeinheiten versuchen
vorzudringen.
Sprecherin
Die kurdischen Kommunen hatten nach der letzten Wahl ihre Selbstverwaltung
beschlossen – so auch in Sur. Es war ihre Antwort auf die Beendigung des
Friedensprozess, auf die staatlichen Einschränkungen politischer Freiheiten und die
vielen Verhaftungen. Die Regierung in Ankara wertet die Selbstverwaltung als
"Separatismus" und "Unterstützung des Terrorismus“ und will sie gewaltsam
beenden.
O-Ton Zia Pir
"Es gibt jeden Tag hier Tod, jeden Tag Tod auf beiden Seiten. Wir sind jetzt ziemlich
nah dran, hier noch 100 Meter weiter ist richtig Kriegszustand. Es sind sehr enge
Gassen. Die schießen mit den Panzern die Häuser auf einer Straßenseite alle
nieder, damit die mit den Fahrzeugen durchkommen können. Zu welchem Preis sind
die Sicherheitskräfte in diese Gebiete rein gegangen? Wenn man das vergleicht mit
dem Ergebnis, dann ist das eine Niederlage für die gesamte Türkei, für uns alle."
Erzähler
Wir sind in der Haupteinkaufsstraße von Sur mit ihren Basaren und vielen
Geschäften. Wo sich sonst die Passanten drängeln, ist es jetzt menschenleer.
Ununterbrochen sind Schüsse zu hören, dazwischen Detonationen, denn die Armee
antwortet mit schwerem Gerät. Nur in Begleitung der beiden Abgeordneten und nach
strengen Kontrollen dürfen wir so nah heran. Alle Seitenstraßen sind durch hohe
Gitter versperrt. Wir sehen Panzerwagen und kampfbereite Soldaten hinter
Sandsäcken, viele maskiert. Ständig kommen uns Mannschaftswagen entgegen. Der
Bundestagsabgeordnete Jan van Aken ist bestürzt.
O-Ton Jan van Aken
"Eigentlich kann einen überhaupt keine gelesene Nachricht auf das vorbereiten, was
einen denn hier tatsächlich erwartet hat. Mir war klar, dass es eine Art Bürgerkrieg
ist, dass ganze Stadtteile abgeriegelt sind. Aber wenn man da direkt daran vorbei
geht, wenn man die Einschusslöcher sieht in den Häuserwänden, wenn man das
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ganze Militär hier massiv auffahren sieht, die Schüsse im Hintergrund hört, ist schon
noch was Anderes. Wie die Menschen innerhalb des abgeriegelten Bereiches leben,
kann man sich gar nicht vorstellen. Denn wie dort jetzt noch jemand ohne Wasser,
ohne Strom, ohne Heizung, ohne Nahrungsmittel überleben soll. Es war wirklich
erschütternd, sie haben so viel Hoffnung in die Europäische Union, dass die endlich
in dieser Menschenrechtsfrage mal Druck auf Ankara machen und sie fühlen sich
wirklich von uns allein gelassen."
Erzähler
Auch andere kurdische Städte bieten diese erschreckenden Bilder: Viele Tote unter
der Zivilbevölkerung, der Haupt-Leidtragenden des Konfliktes. In den zerstörten
Stadtvierteln haben die Menschen alles verloren. Die türkische Armee spricht vom
Kampf gegen den Terrorismus und feuert mit schweren Waffen auf die verbliebenen
Aufständischen. Die PKK-Guerilla reagiert auf die Zerstörungen mit
Bombenanschlägen auf Polizei- und Militärstationen. Die kurdischen Gebiete
versinken immer tiefer in Krieg und Gewalt. Nach Angaben des türkischen
Menschenrechtsvereins forderten die Kämpfe in den Städten insgesamt 2.000 Tote.
800.000 Menschen wurden zu Flüchtlingen.
Sprecherin
Im Juli 2016 erschüttert ein Militärputsch die Türkei. Staatspräsident Erdogan nutzt
den fehlgeschlagenen Umsturzversuch zu einer politischen Säuberung im Land,
nicht nur unter den angeblichen Drahtziehern, Anhängern des Predigers Gülen,
sondern unter allen Gegnern und Kritikern. Der Ausnahmezustand wird über das
ganze Land verhängt, Zehntausende werden suspendiert, entlassen oder inhaftiert,
die Meinungs- und Pressefreiheit nahezu ausgehebelt. 150 Journalisten befinden
sich in Haft, 160 Radio- und Fernsehsender, Verlage und Zeitungen werden
verboten. 375 eingetragene Vereine und Organisationen werden per
Regierungserlass geschlossen, ihre Vermögenswerte beschlagnahmt.
O-Ton Ziya Pir
„Es ist gut, dass man den Putschversuch vereitelt hat, aber es hat ein Gegenputsch
stattgefunden, ein Putsch von Erdogan und seinen Gefolgsleuten. Die haben in der
Nacht noch eine Liste von Menschen veröffentlicht, die ihres Amtes enthoben
wurden. Viele waren Soldaten und Polizisten, aber auch sehr viele einfache Lehrer,
einfache Beamte. Und ich kenne einige, die haben mit den Gülenisten überhaupt
nichts zu tun. Die haben alle in einen Topf geworfen. Wenn das denen nicht in den
Kram passt, bist du Gülenist, bist du Putschist, bist du PKK-Mensch. Zusammen mit
den Gülenisten entledigen die sich auch den Kurden, In den letzten Tagen über 300
Leute wurden verhaftet, alles Mitarbeiter von uns, die mit Gülenisten gar nichts zu
tun haben. Der Putsch von Erdogan, der läuft auf Hochtouren. Jetzt regiert er per
Dekreten wie ein König die Türkei.“
Sprecherin
August 2016, Nusaybin, eine 100.000 Einwohner zählende Stadt an der türkischsyrischen Grenze.
Erzähler
Wir wollen Ali Atalan in Nusaybin treffen. Mit viel Glück haben wir es dorthin
geschafft. Journalisten sind in Zeiten des Ausnahmezustands hier nicht gern
gesehen, nicht in Diyarbakir und erst recht nicht in der Provinz. Man begegnet uns
mit akribischen Kontrollen, manchmal auch mit Schikanen und Drohungen. Nur mit
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Sondergenehmigung des Gouverneurs dürfe man hier arbeiten, bekommen wir zu
hören, als wir stundenlang festgesetzt und verhört werden. Weil wir vorgeben, weiter
in den Nordirak reisen zu wollen, dürfen wir schließlich weiterfahren.
Erzähler
Ali Atalan sitzt in kleiner Runde in einer Ecke des Bürgermeisterzimmers von
Nusaybin, eher ein großer Salon, mit einer Reihe wuchtiger, lederner Clubsessel, an
deren Kopf der ausladende Schreibtisch des Stadtoberhauptes steht.
Ali Atalan ist im Gespräch mit Sara Kaya, der Bürgermeisterin von Nusaybin, die vor
kurzem von Ankara ihres Amtes enthoben und wegen der Selbstverwaltung
angeklagt wurde. Ein Strafverfahren droht nun auch Ali Atalan, denn Ende Mai wurde
die Immunität fast aller HDP-Abgeordneter aufgehoben.
In Nusaybin hatten wir ein halbes Jahr zuvor einige Stadtviertel besuchen können,
bevor dort eine Ausgangssperre verhängt wurde. Kurze Zeit später hatten dann auch
dort Gefechte begonnen. Die sind jetzt im August zwar vorüber, ein Besuch in diesen
Vierteln ist jedoch unmöglich. Panzerwagen patrouillieren, und meterhohe, mit
Stacheldraht gesicherte Betonwände versperren den Zugang. Nur aus dem
fahrenden Auto heraus können wir von einem erhöhten Punkt einen heimlichen Blick
wagen. Das riesige Areal ist eine Trümmerwüste. Betonpfeiler von zerschossenen
Häusern ragen daraus hervor. Alles erinnert an die schockierenden Bilder, die wir
aus zerstörten Städten in Syrien kennen.
O-Ton Ali Atalan
"Die Sicherheitskräfte haben in Nusaybin sechs Stadtviertel dem Erdboden
gleichgemacht. Damit sind tausende Familien momentan ohne Dach über dem Kopf.
Das macht über die Hälfte der städtischen Bevölkerung aus, also d.h. die sind auf
der Straße, so dass man hier von einer Katastrophe sprechen kann. Neun Städte
sind über 50 Prozent zerstört. Wir sind täglich mit solchen Problemen beschäftigt.
Die Menschen kommen zu uns. Wir versuchen natürlich denen Unterstützung zu
geben. Aber parlamentarische Arbeit leider können wir nicht ausüben, denn Erdogan
hat das Parlament völlig außer Kraft gesetzt."
Erzähler
Ein längerer Aufenthalt in Nusaybin ist für uns zu riskant. Direkt neben dem Rathaus
liegt eine Polizeistation. Unser Aufenthalt dürfte nicht unentdeckt geblieben sein.
Deshalb müssen wir die Stadt schon bald verlassen.
Erzähler
Zwei Wochen später treffen wir Ali Atalan in Deutschland wieder. Er ist in Europa
unterwegs, um auf Veranstaltungen und in Gesprächen mit Politikern über die
besorgniserregende Entwicklung in der Türkei zu informieren. Zwei Tage hat er sich
Zeit für die Familie genommen, die er nur selten sehen kann. Ein einfaches
Reihenhaus in einer Siedlung in Nordrhein-Westfalen, eine kleine Terrasse mit
angrenzendem Garten dahinter. Ehefrau Türkan hat Tee gekocht, auch ihre beiden
Kinder sitzen mit am Tisch. Türkan ist Kurdin. Sie war über Alis Kandidatur für die
HDP nicht glücklich, weil die Familie dann getrennt wäre. Aber er sei halt mit
Leidenschaft Politiker. Das hätte sie ihm nicht nehmen wollen, sagt sie. Allerdings
mache sie sich bei schlechten Nachrichten aus der Türkei ständig Sorgen.
O-Ton Türkan Atalan
"Da geht es mir nicht so gut. Seitdem er da gewählt worden ist, gibt es Probleme.
Dieser Friedensprozess mit Kurden und Türken ist eskaliert. Dann ist Immunität
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aufgehoben worden. Dann diese Putsch-Geschichte. Und dort ist ja richtig Krieg.
Und obwohl ich gebrochen türkisch verstehe, verpasse ich keine Stunde
Nachrichten."
O-Ton Lorin
"Ich stand am Anfang hinter seiner Entscheidung und tue es jetzt immer noch.
Erzähler
Tochter Lorin ist fünfzehn.
O-Ton Lorin
Er engagiert sich für die Demokratie, für die Gleichheit und gegen die Unterdrückung
in der Türkei und... Klar macht man sich auch Sorgen, schreibt dann direkt, ob es
ihm gut geht. Auch für die Leute dort tut es mir dann auch leid, wenn man das so
sieht. Man sieht das ja in den Medien. Dort posted er z.B. auf Facebook immer was.
Dann sieht man Bilder, und dann telefonieren wir auch manchmal, und dann erzählt
er uns das auch alles. Das ist dann schon sehr beunruhigend.“
Erzähler
Ali Atalan berichtet über einige Erlebnisse der letzten Wochen. Die Situation in den
kurdischen Gebieten sei katastrophal, sagt er. Es kämen womöglich noch härtere
Zeiten auf sie zu. Der Ausnahmezustand mit all seinen Sonderrechten bedeute, dass
der Rechtsstaat völlig außer Kraft gesetzt sei.
O-Ton Ali Atalan
"Das kann nicht akzeptiert werden, dass ca. hunderttausend Menschen, innerhalb
von paar Wochen vom Dienst entfernt werden. Woher hatten sie diese Listen?
Woher wussten sie, dass diese Menschen in irgendeiner Partei oder Organisation
tätig sind. Also das heißt, diese Listen gab es schon vor dem Militärputsch. Das was
jetzt passiert, ist nicht weniger schlimm als der gescheiterte Militärputsch."
Erzähler
Was ist angesichts dieser Entwicklung von seiner anfänglichen Aufbruchsstimmung
geblieben, von der Hoffnung, das Land zu demokratisieren?
O-Ton Ali Atalan
"Damals war das politische Klima friedlicher, und wir hofften, dass das natürlich so
weitergeht, Türkei ein Vorbild für den gesamten Nahen und Mittleren Osten wird, mit
ihrer Demokratie, mit Gerechtigkeit, Freiheit für alle. Aber leider ist das gescheitert.
Aber ich denke schon, dass sich das lohnt, die Türkei nicht denjenigen zu
überlassen, die dieses schöne Land in totalitäre, diktatorische Verhältnisse
umformen wollen."
Erzähler
Niemand könne wissen, was Erdogan noch im Schilde führe und wie es weiter gehe,
ergänzt er. In der Türkei sei alles möglich. Nach der Aufhebung der Immunität habe
er nun eine Vorladung bekommen.
O-Ton Ali Atalan
"Wir haben einen Entschluss: kein einziger von uns geht freiwillig zur
Staatsanwaltschaft, weil das ist ein politischer Prozess, gegen den wir auch politisch
vorgehen müssen. Das hat mit Justiz und mit Rechtsstaatlichkeit nichts zu tun.
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Gewählte Abgeordnete können aufgrund ihrer Gesinnung oder Meinungsäußerung
nicht vor Gericht gestellt werden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass einige von uns
auch verhaftet werden."
Sprecherin
Ali Atalan sollte Recht behalten. Im Oktober 2016 werden die beiden Bürgermeister
von Diyarbakir inhaftiert, Anfang November die beiden Vorsitzenden der HDP, sowie
acht weitere Abgeordnete. Staatsmedien vermelden nun jeden Tag neue Übergriffe
gegen demokratisch gewählte Bürgermeister und Abgeordnete. Sie werden
abgesetzt, viele verhaftet. Mittlerweile sind fast alle der 97 HDP-Bürgermeister und
Bürgermeisterinnen davon betroffen. Ankara ersetzt sie durch staatliche
Zwangsverwalter.
Erzähler
Was das bedeutet, können wir im November selber erleben. Der komplette Bereich
in und um die Altstadt von Diyarbakir ist besetztes Gebiet - Kontrollen, hohe
Absperrgitter, Panzerwagen. Sie stehen auch vor dem Rathaus und allen Gebäuden
der Kommunalverwaltung - dort, wo nun der Zwangsverwalter das Sagen hat. Im
Rathaus stehen Polizisten in Uniform und Zivil auf den Gängen. Mitarbeiter der Stadt
wurden von ihren Schreibtischen verdrängt, viele entlassen, und durch Leute der
AKP ersetzt, erzählt man uns. Was die AKP in den kurdischen Regionen durch
demokratische Wahlen nicht geschafft hätte, würde sie nun mit Zwang durchsetzen.
Erzähler
Im Parteibüro der HDP treffen wir, ganz anders als sonst, nur wenige Mitarbeiter an,
jene, die noch nicht verhaftet sind, oder die es wagen, hierher zu kommen. Mehr als
fünfeinhalbtausend Mandatsträger und Mitglieder der HDP wurden innerhalb eines
Jahres verhaftet.
Erzähler
Im größten Raum sitzt Feleknas Uca in einem ausladenden Ledersessel. Vor dem
Fenster ein Schreibtisch, an der Wand eine weiße Fahne mit den farbigen
Buchstaben H-D-P. In einem Fernseher läuft ein Nachrichtenprogramm. Feleknas
Uca telefoniert und liest gleichzeitig auf einem zweiten Handy neue Meldungen über
Verhaftungen.
O-Ton Feleknas Uca
"Du musst damit rechnen, jederzeit festgenommen zu werden hier und dass dir jeden
Moment was zustoßen kann. Durch diesen Ausnahmezustand, den es jetzt offiziell in
der Türkei gibt, kannst du statt 24 Stunden bis zu 30 Tage ohne verhört zu werden
auf einer Polizeiwache festgehalten werden. Das ist natürlich eine ganz andere
Politik, die ich auch im Europaparlament erlebt habe. Du konntest deine Meinung frei
äußern. Aber hier im Lande, sobald du deine Kritik abgibst, bekommst du Verfahren
oder wirst festgenommen."
Erzähler
Auch Ziya Pir ist eingetroffen, verfolgt die Nachrichten auf dem TV-Bildschirm. Er
wirkt abgekämpft, der Tribut für seinen unermüdlichen Einsatz auf der
diplomatischen Bühne. Gerade ist er aus Ankara von einem Treffen mit dem
deutschen Außenminister zurückgekehrt. Morgen ist er mit europäischen
Parlamentariern in Istanbul verabredet. Es wäre gut, wenn sie mehr als nur "besorgt"
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wären, sagt er, in Anspielung auf die Stellungnahme der Bundesregierung zur
Situation in der Türkei.
O-Ton Ziya Pir
"Die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union sollten weitergehen.
Vielleicht kann man die für eine Weile auf Eis legen bis sich die Situation in der
Türkei verbessert. Ich möchte nicht, dass die Bevölkerung bestraft wird. Aus der
Europäischen Union fließen sehr viele Gelder in die Türkei, bis 2020 jährlich um die
900 Millionen Euro, insgesamt 4,45 Milliarden Euro, für die Stärkung der Demokratie
und der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei. Das kann man z.B. ansprechen und sagen,
was macht ihr mit diesem Geld? Da kann man den Hahn zudrehen."
Erzähler
Ziya Pir erzählt, die verbliebenen HDP-Abgeordneten hätten beschlossen, nicht mehr
an der parlamentarischen Arbeit teilzunehmen. Die Würde des Parlaments sei
verletzt worden, und nur Erdogan bestimme, welche Gesetze erlassen, welche Leute
verhaftet würden. Überall hätte er seine Richter und Staatsanwälte platziert. Auch
gegen ihn selbst hätte man den Pauschalvorwurf erhoben, Unterstützer oder sogar
Mitglied der PKK zu sein.
O-Ton Ziya Pir
"Ich habe gesagt in einer Rede: Die Kurden haben ein Recht auf Selbstverwaltung.
Dieser Satz stammt aus unserer Parteisatzung, und die Parteisatzungen in der
Türkei müssen von Gerichten abgesegnet werden. Und das haben die gemacht vor
ein paar Jahren. Die haben gesagt, die PKK fordert Selbstverwaltung für Kurden, du
forderst das auch, also bist du Mitglied in der PKK. Der Vorwurf, Mitgliedschaft in
einer Terror-Organisation, das ist lächerlich. Wir wollen diesen Krieg nicht. Wir haben
eine Kommission aus drei Leuten bei uns gebildet. Ich war einer von diesen. Die
Regierung sollte Vertreter schicken. Und dann sollten wir zwischen dem Staat und
der PKK vermitteln, dass dieser Krieg in den Städten aufhört. Wir haben alles dafür
gemacht und die Regierung war eigentlich auch bereit. Aber der Erdogan hat das
abgelehnt. Seit einem Jahr, anderthalb, möchten wir noch mal vermitteln zwischen
PKK und zwischen der Regierung. Aber die lassen das nicht zu.
Da ist es wirklich absurd, dass die Regierung uns jetzt Nähe zur Terror-Organisation
vorwirft. Wir sind in der Mitte von beiden Kriegstreibern. Die Menschen sterben hier,
die Soldaten sterben dort. Und wir als HDP müssen die politische Rechnung dafür
bezahlen, obwohl wir die einzigen sind, die versuchen, diesen Krieg zu verhindern."
Erzähler
Momentan gebe es wenig Hoffnung, sagt Ziya Pir. Sein Gerichtsprozess werde wohl
bald beginnen. Währenddessen habe er Ausreiseverbot. Obwohl er einen deutschen
Pass besitze. Das Verfahren könne bis zu zwei Jahre andauern.
O-Ton Ziya Pir
"Wir sind in den dunklen Tagen in der Türkei. Der Erdogan regiert, wie er möchte,
und ich glaube, die Türkei driftet in eine - man muss es ganz klar sagen - in eine EinMann-Diktatur. Wenn die EU, wenn Deutschland zum Beispiel auch, wenn die nicht
härter mit der Türkei umgehen, dann haben wir, glaube ich, sehr bald eine Diktatur in
der Türkei."
Sprecherin
Ende 2016, Anfang 2017.
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Erzähler
Neue Terrorakte erschüttern die Türkei und fordern wieder viele Tote. Mal
übernehmen kurdische Extremisten der Splittergruppe TAK - die sich nach eigenen
Angaben von der PKK abgespalten hat - die Verantwortung, mal bekennt sich der so
genannte Islamische Staat zu neuen Terroranschlägen.
Sprecherin
Die TAK hat sich nach eigenen Angaben von der PKK abgespalten, weil ihr deren
Aktionen nicht weit genug gingen und sie gegen Verhandlungen mit dem türkischen
Staat war. Verbindungen zwischen TAK und PKK sind umstritten. Während die PKK
diese bestreitet, sieht die Erdogan-Regierung in der TAK nur einen terroristischen
Ableger der PKK.
Erzähler
Die Regierung spricht inzwischen offen von "Vergeltung" und "Rache". Obwohl auch
die HDP alle Anschläge auf das Schärfste verurteilt, antwortet der Staat mit weiteren
Verhaftungen Hunderter HDP-Politiker. Moderate Stimmen finden kein Gehör mehr.
Kein Dialog - so die Devise. Auch nicht mit den drei aus Deutschland stammenden
Abgeordneten.
O-Ton Feleknas Uca
"Trotz allem sagen wir als HDP: Wir wollen, dass der Erdogan-Putsch endlich ein
Ende hat und wieder Verhandlungen stattfinden und dass eine politische Lösung
gefunden wird. Wir wollen eine demokratische Türkei. Wir wollen nicht einen Staat,
wo alle nur unter der Machtherrschaft von Erdogan leben, sondern wir wollen eine
friedliche Gesellschaft, wo alle Menschen gleichberechtigt leben."
Erzähler
Auch wenn zurzeit alles in die entgegengesetzte Richtung laufe - sagt Feleknas Uca
- die Hoffnung, dass irgendwann auch der Kurdenkonflikt politisch gelöst werde,
habe sie noch nicht aufgegeben. Wenn es an anderen Krisenherden auf der Erde
gelungen sei Frieden zu schaffen, warum solle das nicht auch in der Türkei möglich
sein?
Absage
Zwischen den Fronten
Kurdische Abgeordnete werden bedroht
Ein Feature von Michael Enger
Es sprachen: Matthias Kiel, Judith Jakob und Sylvia Sytermans
Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Jens Müller
Regie: Matthias Kapohl
Redaktion: Birgit Morgenrath
Sie hörten eine Co-Produktion des Deutschlandfunks mit dem Norddeutschen
Rundfunk und dem Südwestrundfunk 2017.
Atmo
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