Mucke am Mahnmal Wider die Wut Kontroverse ums Lollapalooza-Festival im Treptower Park in Berlin. Seite 11 »Wutfänger« heißt das neue Album von Anna Loos und Silly. Seite 15 Kim im Kampfmodus Nach 36 Jahren gibt es wieder mal einen Parteitag in Nordkorea – er wird eine EinMann-Show und soll die Macht des jungen Staatschefs festigen. Seite 7 Foto: dpa/Jens Wolf Freitag, 6. Mai 2016 STANDPUNKT Alle Macht für Erdogan 71. Jahrgang/Nr. 105 Bundesausgabe 1,70 € www.neues-deutschland.de Atempause vom Sterben EU will Flüchtlinge zwangsverteilen Neue Waffenruhe für Syrien hält zunächst / Assad will weiter »endgültigen Sieg« Unwilligen Staaten können sich mit Strafzahlungen freikaufen Klaus Joachim Herrmann über den Rückzug des türkischen Premiers Der starke Mann der Türkei hat jenen Punkt erreicht, an dem er meint, dass er am mächtigsten allein sei. Nach zwei Jahren treuer Dienste kann der Nachfolger Erdogans an der Spitze von Partei und Regierung gehen. In bester Abstimmung spielten sich bis dahin der Präsident und sein Premier Davutoglu die Bälle zu. Doch künftig will der Chef seine Tore ganz allein bejubeln. Als Lohn für die umstrittenen Dienste Ankaras bei der Abschottung Zentraleuropas vor den Flüchtlingen trieb Erdogan bereits machtbewusst, selbstgefällig und kompromisslos die lang verweigerte Annäherung seines Landes an die EU brutal ein. Kein Krieg gegen Kurden im eigenen Land, keine Missachtung demokratischer Grundsätze, von Menschenrechten und der Freiheit der Medien wollten ihm seine neuen europäischen Mitspieler noch ernstlich gegen die Visafreiheit aufrechnen. Solchen Ruhm mag der Präsident gewiss nicht mit einem nachgeordneten Kollegen teilen. Nicht vor seinem eigenen Volk und nicht vor der Welt. Den Präsidenten hat sein Erfolg im Passspiel mit Brüssel zum Stopp der Flüchtlinge vor Europas Grenzen besonders ermutigt. Das Wort vom »Machtkampf« in Ankara trifft mit Blick auf den scheidenden Partei- und Regierungschef kaum zu. Der redet seinem Chef kein böses Wort nach und rechnet sich weiter zur Familie. Davutoglu stürzt auch nicht; ihm ist es gestattet, zu verschwinden. Sein Nachfolger wird noch weniger Einfluss, Erdogan aber alle Macht haben. UNTEN LINKS Menschen mit Smartphone sind so vielen Risiken ausgesetzt, dass diese Spalte nicht ausreicht, auch nur einen Bruchteil davon aufzuzählen. Zur allseits bekannten Verkümmerung sozialer Fähigkeiten gesellt sich zu allem Überfluss die tödliche Gefahr, beim Lesen einer Nachricht oder dem Gespräch via Face time gegen die Straßenbahn oder einen Lastkraftwagen zu latschen. In Köln werden Ampeln auf den Erdboden verlegt – in der Hoffnung, die Generation Daddel kriegt alles da unten eher mit. Noch weiter unten ist die Ampel politisch betrachtet. Sie war beerdigt. Nur in Rheinland-Pfalz hat man sie aus Angst vor einem zweiten Anlauf der dominanten Julia wieder ausgebuddelt, nachdem dort die Gelben von den Toten auferstanden waren. Immer diese Experimente! Kann man nicht einfach einen Ampelmann an der Straßenbahn postieren, der die Faust ausfährt, wenn der Fußgänger nicht hochschaut? Zu brutal? Entschuldigung! Dann eben eine Ampelfrau. ott ISSN 0323-3375 Foto: dpa/KCNA Brüssel. Nach Bitten und Mahnen will die EUKommission die Flüchtlingsverteilung in der EU nun erzwingen. Brüssel schlug am Mittwoch eine »automatische« Verteilung von Flüchtlingen vor, um stark belasteten Ankunftsländern zu helfen. EU-Staaten, die sich nicht beteiligen, könnten sich nur durch ein »Strafgeld« von 250 000 Euro pro nicht aufgenommenen Asylbewerber freikaufen. Ungarn reagierte erbost. Die Reform des bisherigen Asylsystems gilt spätestens seit der Flüchtlingskrise als überfällig. Die sogenannten Dublin-Regeln sehen vor, dass Flüchtlinge ihren Asylantrag dort stellen müssen, wo sie zuerst europäischen Boden betreten. Dadurch wurden Länder wie Griechenland und Italien vollkommen überlastet – und ließen die Flüchtlinge ungeregelt in andere Staaten weiterreisen. Um dies zu verhindern, schlug die Kommission einen »Fairnessmechanismus« vor. Er soll automatisch aktiviert werden, wenn die Zahl der Asylbewerber in einem Land eine festgelegte Schwelle übersteigt. AFP/nd Donald Trumps Rivalen geben auf Immobilienmilliardär hat freie Bahn für Präsidentschafts-Kandidatur Aleppo ist längst eine Trümmerwüste – laut Militärs von strategischer Bedeutung. Aleppo. Nach fast zwei Wochen heftiger Kämpfe hat eine neue Waffenruhe in der nordsyrischen Stadt Aleppo zunächst weitgehend gehalten. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte meldete am Donnerstag nur vereinzelte Verstöße gegen die Feuerpause. Allerdings hätten viele Anwohner aus Angst vor neuer Gewalt ihre Häuser nicht verlassen. Auch der lokale TV-Kanal Halab Today meldete, in Aleppo herrsche gespannte Ruhe. Die USA und Russland hatten sich auf die Waffenruhe geeinigt, nachdem die Gewalt in Aleppo in den vergangenen Tagen eskaliert war. Allerdings gab es Verwirrung um den Beginn der 48-stündigen Feuerpause. Syrischen Staatsmedien zufolge trat sie am Donnerstagmorgen in Kraft. Nach Darstellung des USAußenministeriums war das schon 24 Stunden vorher der Fall. Die zwischen Regime und Rebellen geteilte Stadt ist der am härtesten umkämpfte Schauplatz in Syriens Bürgerkrieg. Menschenrechtsbeobachtern zufolge waren zuletzt mindestens 285 Zivilisten bei Luftangriffen und Gefechten getötet worden. Aus Protest gegen den Anstieg der Gewalt hatte Syriens Opposition die Genfer Friedensgespräche verlas- Foto: Reuters/Abdalrhman Ismail sen. Insgesamt sind seit Ausbruch des Bürgerkriegs vor mehr als fünf Jahren nach UNAngaben rund 400 000 Menschen ums Leben gekommen. Das US-Außenministerium erklärte, es setze darauf, dass Russland seinen Einfluss auf das Regime von Präsident Baschar al-Assad geltend mache. Die USA würden das ihre tun. Von russischer Seite hieß es, der Schritt könnte der »Prolog zu einer vollwertigen Feuerpause« sein. Assad machte zugleich in einem Schreiben an Russlands Präsident Wladimir Putin klar, dass er weiter auf einen »endgültigen Sieg« gegen die Rebellen setzt. dpa/nd Seite 7 Flüchtlingsdeal bringt Türken Reisefreiheit Regierungschef Davutoglu gibt Amt auf / EU-Kommission empfiehlt Aufhebung des Visa-Zwangs Der Türkei wird von der EU Visa-Freiheit angeboten, doch mit Premier Davutoglu muss ein Architekt des Erfolgs gehen. Istanbul. Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu gibt seine Ämter als Partei- und Regierungschef auf. Davutoglu kündigte am Donnerstag in Ankara einen Sonderparteitag der AKP in zweieinhalb Wochen an, bei der er nicht mehr für den Vorsitz der islamisch-konservativen Partei kandidieren werde. Das bedeutet auch, dass Davutoglu danach nicht mehr als Regierungschef weitermachen wird. Er werde seine Arbeit als Abgeordneter weiterführen, sagte er. Davutoglu versuchte den Eindruck zu zerstreuen, sein Rücktritt sei auf einen Konflikt mit Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zurückzuführen. »Ich werde die Loyalitätsbeziehung zu unserem Präsidenten bis zu meinem letzten Atemzug weiterführen«, sagte Davutoglu. »Seine Familienehre ist meine Familienehre. Seine Familie ist meine Familie.« Davutoglu war Erdogan in seinen Ämtern als Partei- und Regierungschef gefolgt, als dieser im August 2014 zum Präsidenten gewählt wurde. Türkische Medien hatten über eine wachsende Unzufriedenheit Erdogans mit einer zunehmend eigenmächtigen Partei- und Regierungspolitik Davutoglus berichtet. Für die EU und Bundeskanzlerin Angela Merkel war Davutoglu in der Flüchtlingskrise der Verhandlungspartner auf türkischer Seite. Davutoglu und Merkel gelten als Architekten des Flüchtlingspaktes. Die EU-Kommission hatte am Mittwoch die Aufhebung des Visa-Zwangs bei Reisen in den Schengen-Raum bis spätestens Ende Juni empfohlen, wenn Ankara bis dahin noch fehlende Voraussetzungen erfüllt. Vize-Kommissionspräsident Frans Tim- mermans betonte, es werde »keinen Freifahrtschein« für Ankara in der Visa-Frage geben. Die Türkei müsse alle 72 Voraussetzungen erfüllen. Bei sieben ist das noch nicht der Fall. Dabei geht es um Standards zu Korruptionsbekämpfung und Datenschutz, ein Kooperationsabkommen mit der EU-Polizeibehörde Europol, die Justizzusammenarbeit bei Strafsachen und eine Einschränkung des weiten türkischen Terrorismusbegriffs. Ein vereinbartes Rücknahmeabkommen tritt am 1. Juni in Kraft und wäre dann als Kriterium erfüllt. Bei der siebten fehlenden Bedingung, der Einführung von biometrischen Pässen nach EU-Standards, gibt es eine Übergangszeit, die bis zum Jahresende geht. zunächst wird visafreies Reisen mit einer vorläufigen Version eines biometrischen Reisedokuments möglich sein. Auf ihm müssen ein Bild des Besitzers und seine Fingerabdrücke gespeichert sein. Bei Aufhebung der Visa-Pflicht wären türkische Staatsbürger berechtigt, unbürokratisch in den aus 26 Staaten bestehenden Schengen-Raum einzureisen. Die Aufenthaltsdauer ist auf 90 Tage pro Halbjahr begrenzt. Die türkische Regierung hatte mehrfach gedroht, die Rücknahme von Flüchtlingen aus Griechenland zu stoppen, sollte die EU die VisaFreiheit auf die lange Bank schieben. dpa/nd } Lesen Sie morgen im wochen-nd 8. Mai: Schicksale von zwei Überlebenden des Warschauer Ghettos Deutschlandstipendium – ein Erfolgsmodell? Spargel & Wein im Test Indianapolis. Der Kampf um das Weiße Haus läuft 2016 auf ein Duell von Hillary Clinton mit Donald Trump hinaus. In den verbleibenden Vorwahlen ist der Immobilienmilliardär Trump nach dem Rückzug der letzten Konkurrenten einziger Bewerber der Republikaner für das Amt des US-Präsidenten. Anders als der Unternehmer verlor bei den Demokraten die frühere Außenministerin Hillary Clinton die Vorwahl im Bundesstaat Indiana. Sie führt gegen den Parteilinken Bernie Sanders bei den Delegiertenstimmen aber praktisch uneinholbar. Zermürbt von Trumps Siegen und rechnerisch chancenlos, beendete der rechte Senator von Texas, Ted Cruz, seinen Wahlkampf. Am Mittwoch folgte auch John Kasich, der Gouverneur von Ohio. Beide hatten für den Republikaner-Parteitag im Juli auf eine Kampfabstimmung gesetzt. Trump (69), der nie zuvor ein politisches Amt bekleidet hat, kann sich nun an den verbleibenden acht Vorwahltagen die Mehrheit seiner Partei sichern. dpa/nd Kommentar Seite 4 IG Metall droht mit Tagesstreiks Tarifrunde bleibt festgefahren Berlin. In der Tarifrunde für die rund 3,8 Millionen Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie hat die IG Metall angekündigt, nach Pfingsten zu 24-Stunden-Streiks aufzurufen, wenn es kein neues Angebot gibt. Ab dem 18. Mai könnte es zu Streiks kommen, sagte NRW-Bezirksleiter Knut Giesler am Sonntag der dpa. Die Tagesstreiks hatte die IG Metall auf dem Gewerkschaftstag 2015 beschlossen. Eine Urabstimmung ist dafür nicht nötig. Der Tagesstreik wird als eine Eskalationsstufe zwischen dem Warnstreik und dem unbefristeten Streik gesehen. Seit Ende der Friedenspflicht haben sich nach Gewerkschaftsangaben bundesweit über als 328 000 Beschäftigte an Warnstreiks beteiligt. Nach Meinung der Unternehmer könnte es in Nordrhein-Westfalen mit seinen vielen mittelständischen Betrieben zu einer Einigung kommen – »aber nicht um jeden Preis«. Der Verband Gesamtmetall fordert ein sofortiges Ende der Warnstreiks. Die IG Metall verlangt fünf Prozent mehr Geld auf ein Jahr, die Unternehmer bieten 2,1 Prozent auf zwei Jahre und eine Einmalzahlung. jme Seite 10
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