Welche Präventionsmaßnahmen wirken in der Jugendarbeit? rainer kilb Übersicht • • • • • • • • • • Einstiegsthesen zum Sinn von Konflikten und Gewalt Zum Präventionsverständnis Allgemeine Wirkungseffekte bei Präventionsangeboten Exemplarische Betrachtung der Präventionsgegenstände „Konflikt und Gewalt“ Relevante Charakteristika des Handlungsfeldes OKJA Grenzen und Handlungsmöglichkeiten der Gewaltprävention in der OKJA Essentials methodischen Arbeitens Bewertung des Programms GEWALTIG in KA (Voraussetzungen gelingender kommunaler Prävention) Fazit: offensive Konfliktbearbeitung, um Gewalt zu verhindern Einstiegsthesen zum „Sinn“ von Konflikten und Gewalt • „Soziale Konflikte“ sind nach Simmel (1908) und Coser (2009) konstitutiv für sämtliche Sozietäten. • Konflikte festigen und sprengen System- und Gruppenstrukturen. • Gruppeninterne Wirkungen: Gruppenfähigkeit durch Ein- und Ausschluss, integrative und desintegrative Konflikte; • Konflikte schaffen Verbündete und Koalitionen sowie Abgrenzungsmöglichkeiten. • Konflikte sozialisieren, indem sie Ordnungen sowie Regeln und normative Systeme schaffen, in Frage stellen und auch verändern helfen. • Gewaltaktionen können neben ihrer Eskalationsdimension bei Konflikten auch Botschaften individueller Disparitäten und Konfliktlagen vermitteln. Fazit: Konflikte austragen, um Gewalt zu verhindern Prävention - eine Balance • Primäre Prävention als Strategie zur Verhinderung vermeintlicher Risiken und Gefährdungen birgt die Gefahr des Grundmisstrauens in eigenständiges und verantwortungsbewusstes Handeln und fokussiert einseitige Akzentuierung (sozial-)pädagogischer Arbeit unter Defizitaspekten. • im Rahmen sekundärer Prävention: als zielgenaues Handeln im Vorfeld von zu erwartenden gewaltbesetzten Konflikten und Gefährdungen mit Stigmatisierungsgefahr; • tertiäre Prävention im Anschluss an Schädigungen und Tatausübung. Konfliktstruktur: triadisches Verstehen von Konflikten (in Anl. an Faller 2014) Indirekt Betroffene Konfliktpartei A Zuschauer PERSON Konfliktpartei B Konflikt(arena) Ziele Abläufe Personen Struktur SACHE SYSTEM Kultur Umfeld Dimensionen der Kriminalprävention (Rössner 2011) Täter Primäre Kriminalprävention Sekundäre Kriminalprävention Tertiäre Kriminalprävention Allgemeinheit (Stärkung des Rechtsbewusstseins, Beseitigung sozialstruktureller Potentielle Täter (Konzentration auf Stärkung von Risikogruppen) Verurteilte Täter (Rückfallverhinderung) Mängel) Opfer Jede/r als mögliches Opfer (Aufklärung, Information) Potentielle Opfer (Schulung gefährdeter Personen, Sicherung von Objekten) Verletzte Opfer (Verhinderung erneuter Viktimisierung) Situation Allgemeine Situationen (Kriminalität abwehrende Örtlichkeiten und Bedingungen) Gefährdete Objekte (Erhöhung Tataufwand, Reduzierung Tat fördernder Gelegenheiten) "hot spots" (Entschärfung von Kriminalitätsbrennpunkten) Allgemeine positive Wirkungseffekte • Gleichermaßen zu beachtende System- („Arena“, Setting), Gruppen-, Individual- und Sacheigenschaften • Berücksichtigung von Risiko-, Bedürfnis- und Ansprechbarkeitsprinzip (Lösel 2013) • Themen- bzw. Deliktorientierung der Angebote, Methoden und Maßnahmen: Gewalt, Konflikte, Sucht usw. • Strukturkomponenten in den Angeboten selbst: Personenbezug, Authentizität und Erfahrungswissen der Personen, nachhaltig wirkende Zeitkorridore, BetreuerAdressaten-Verhältnis, Ankoppeln an Regelsetting oder Alltagssituationen Gewaltformen mit jeweils spezifischen Ursachen benötigen differenzierte Prävention Zweckorientierte Gewalt: Raub usw. Wertrationaler Gewalteinsatz: milieutypische „Ehrverständnisse“, Werte, Abgrenzungen usw. affektuelles Reagieren auf nicht alltägliche Reize („neuronale Entgleisung“): z. B. traumatische Blitzreaktion Kompensierende Gewalt: Projektion, Übertragung eigener „Traumata“, fehlende Anerkennung, erfahrene Demütigung Gewalt als Instrument adoleszenter Identitätsgenese mit Grenzüberschreitungen, Unterdrückung, Positionieren oder als spielerisch-ernste Interaktionsform („Der falsche Blick“ ) Gewalt als „Eigenwert“: Lust an körperlicher Selbsterfahrung durch Kampf, Intensität der Anspannung („Kick“), Erregung, Risikolust usw. Täterschaft: Modell Bedingungsfaktoren Geschlecht männlich .10 .29 .51 .23 Arbeitslosigkeit/ Sozialhilfe Gewalt legitimierende Männlichkeitsnormen .13 .10 .40 .28 Gewalthaltige Medien .20 Migrationshintergrund .17 Delinquente Freunde .31 .17 .11 .19 .16 .16 .39 Mehrfachgewalttäterschaft .11 .25 .12 Erlebte Elterngewalt .44 .13 .23 .21 .36 .10 Intensives Schulschwänzen .11 .11 Haupt-/ Förderschule .16 .21 .24 .13 .13 .17 .50 Alkohol-/ Drogenkonsum .22 Modell-Fit: chi2 = 23.180, df = 8, CFI = .999, TLI = .997, RMSEA = .007, alle Pfade signifikant bei p <.001, standardisierte Koeffizienten, abgebildet sind nur Pfade ≥ .10, blau: soziodemographische Merkmale und deren Koeffizienten, grün: Korrelationen Übersicht zu Ansätzen, Methoden und Strategien im Umgang mit Gewalt und Konflikten • Arbeit mit einzelnen Personen: Lerntheoretische Trainings für aggressive Kinder und Jugendliche nach Petermann, Soziales Training, Täter-Opfer-Ausgleich, DENKZEIT-Programm, Anti-Aggressivitätstraining (AAT), Trainingscamps für delinquente oder dissoziale Jugendliche, Beratung und Therapie mit Gewaltopfern. • Arbeit mit Gruppen: Streetwork, Soziale Gruppenarbeit, Soziales Training, Diverse Sport- und erlebnispädagogische Programme: Mitternachtssport (Basketball und Fußball), Kampfkunst-Ansätze, Outward Bound, City Bound, Adventure Based Counseling (ABC), Fußballfanprojekte, AAT/CT, Beratung von Gewaltopfern, Opferselbsthilfegruppen. • Arbeit mit/ in Familien: Frühwarnsysteme der Gesundheits- bzw. Jugendämter, SPFH-Ansätze, Mediation, Inobhutnahme. • Arbeit im Gemeinwesen/ Quartierarbeit: Streitschlichter- und Konfliktmanagement-Programme, Streetwork/ Aufsuchende Arbeit, Mediationsverfahren. • Schulbezogene Arbeitsansätze: FAUSTLOS (Kompetenzprogramm für Grundschulen), „Erwachsen werden“ (Sek. I), Coolness-Training (CT), TrainingsraumMethode, Kompetenz- bzw. Selbststärkungstrainings nach Jugert oder Opp, Programme des Sozialen Lernens (Buddy-Prinzip). • Auf Multiplikatoren zielende Angebote: Konstanzer Trainingsmodell (KTM) für Lehrer, Professional Assault Response Training (PART). Kontextueller Entstehungsprozess von Gewalttaten Taterfahrung und ggf. Neuausprägung von Zweck und Zielen Entwicklungskette einzelner Stufen gewalttätiger Aktionen/ Präventionsebenen • Spezifische personengebundene Ausgangsdispositionen z. B. Persönlichkeitsmerkmale, neuroanatomische Besonderheiten • Hintergrundkontexte • • • • • entwicklungspsychologische: Adoleszenz, Postadoleszenz Familiensituation: Lerneffekte, fehlende Anerkennung, Demütigungen gesellschaftliche: Perspektivlosigkeit, Status- und Bewältigungsdruck, Konkurrenzparadigma und Individualisierung, Begleitumstände: fehlende Anerkennung, Milieueinbindungen oder segregierte Stadtteile, Beschleuniger: z. B. die Peergroup, Suchteinwirkung, Masseneinfluss, Rituale und Exzesse Handlungsmuster: z. B. medial vermittelt oder familiär oder peererlernte Anlässe und Gelegenheiten: anonyme Räume, Szenen Auslöser: subjektiv wahrgenommene Provokation (Trauma, Übertragung, Ehrekodizes) • Subjektiver Abwägungs-/ Entscheidungsprozess • Intrinsische Gewaltexzesse im Tatausübungszusammenhang Charakteristika des Handlungsfeldes Jugendarbeit und das Phänomen der Gewalt • Gewalt kann eine Kommunikationsform in einem durch die Adressaten (peers) häufig wenig geregelten und von Fachkräften nur eingeschränkt regelbarem Feld sein; • Gewalt als Übertragungs- und Projektionsphänomen bzgl. Fachkräfte • Gewalt als Ventil • Gewalt als adoleszente Orientierungs- (Grenzverletzung) und Positionierungsstrategie • Personenbezug und Gruppenstruktur stehen über inhaltlich-methodischen Varianten • Selbstorganisation, -orientierung und -regulation in der Peergroup als Gestaltungs-, Erfahrungsraum und als Lernsetting Bearbeitbare Gewaltumstände im Handlungsfeld Kinder- und Jugendarbeit und Schule • Gewalt als „sozialer Konflikt“ (L. A. Coser/ G. Simmel/ Max Weber) • Episodisches Gewalthandeln in der Adoleszenz • Impulsive testende Grenzverletzungen (Ausrasten, Auslöser) Lernziele präventiver Angebote • • • • • Erlernen von Impulskontrolle Einfühlen können in andere Personen und Rollen Soziale Kontrolle durch Gruppenregulation Antizipation von Handlungsfolgen Fokus auf Integrations-, Orientierungs-, Anerkennungs-, Absicherungs- und Unterstützungsdilemmata. Grenzen bzw. eingeschränkt bearbeitbare Gewaltumstände • Persönlich verfestigte „intrinsische“ und kriminogene Gewaltmuster • instrumentelle Gewaltformen (z. B. Raubdelikte), die anderen Zielen dienen und präprofessionell-kriminellen Charakter besitzen • In Gruppen/Milieus bereits verfestigte Gewaltmuster Biografische Verlaufsketten bei Gewaltkarrieren (in Anlehnung an Sutterlüty 2008) Phase des Erleidens Familiäre Gewalt (Angst- und Ohnmachtserfahrung als Opfer bzw. Beobachter) Anerkennungsleere) Missachtung in der Familie (Erniedrigung und negatives Selbstkonzept „Epiphanische“ Erfahrungen und biografische Wendepunkte aus Erniedrigungstrauma wächst gewalttätige Handlungsmacht Handlungsebene Gewaltaffine Interpretationsregimes (Bedrohungs- und Erniedrigungs-, Missachtungsphantasien) Gewaltmythologien Berauschend wirkende Selbstwahrnehmung Schmerzes während der gewalttätigen Aktion Genießen des Verarbeitungsebene Gewaltmythologien Neutralisierung Ungeschehenmachen Individuelle Perspektive: Angenommene Ausgangssituation bei gewalttätigen Jugendlichen • Adoleszente Krise: Instrument der Identitätsentwickung mit Divergenz zwischen Real- und Ideal-ICH • hierdurch bedingte extreme narzisstische Kränk- und Erregbarkeit • positive Erfahrungen mit dem Machtgefühl bei Gewalttätigkeit: Aggressivität als Vorteil, als Konfliktlösungsmuster und als statussichernd • Anerkennungsdefizite und selbst erfahrene Demütigungen: Opfer dient als “Tankstelle” für einen “Selbstwertrausch”: “Gott-sein über...” • Irritationen bei Wahrnehmungen: Interpretation des “Angeguckt Werdens” • Mangel an Antizipationsfähigkeit: Tatfolgen sind nicht präsent • fehlendes Einfühlungsvermögen in andere Personen und Rollen • Gewalt als erlerntes Durchsetzungsmuster • Revanchistische Impulse durch eigene direkte oder indirekte Opfererfahrungen • Fehlende Impulskontrolle und soziale Regulation • Exklusionsdruck/ gescheiterte Integrationsversuche: Kontinuität wiederkehrender Brüche Kindesbezogene und adoleszente Risiken und Bewältigungsanforderungen bei gewaltaffinen jungen Menschen (in Anl. an Böhnisch 1997) • Erfahrung von Selbstwertverlust, Demütigung und fehlender Anerkennung • Erfahrung sozialer Orientierungslosigkeit • Erfahrung fehlender sicherer Bindung und sozialen Rückhaltes • Suche nach erreichbaren Formen sozialer Integration Programm GEWALTIG in KA Ziele: Methoden: • Sensibilisierung der Selbst- und Fremdwahrnehmung • erfahrungsorientiertes und erkundendes Lernen • Förderung des Einfühlungsvermögens • Arbeiten in Kleingruppen • Stärkung der Fähigkeit, eigene Gefühle sowie Aggressionsauslöser erkennen und benennen zu können • Rollenspiel • Gespräche • Stärkung des Selbstwertgefühls • Einsatz von Medien • Einüben eines konstruktiven Umgangs mit Wut und Aggressionen • Auswertung / Reflexion • Erarbeitung von Handlungsalternativen im Umgang mit Gewalt • Erweiterung sozialer Kompetenzen Voraussetzungen gelingender kommunaler Prävention • Lokalisierbarkeit spezifischer sozialräumlicher und milieuspezifischer Gefährdungs- und Delinquenzpotenziale • Anerkennung transdisziplinärer Ursachenforschung • Bereitschaft zu interdisziplinären Methoden und administrationsübergreifenden Handlungsstrategien Lokale Häufungen verschiedener Deliktarten am Beispiel Frankfurt am Main Körperverletzung • • • • • • • • • • • Sossenheim Hausen/Nelkenstr. Bonames Seckbach/Atzelberg Höchst Schwanheim/Goldst. Gutleutviertel Griesheim Heddernheim Sindlingen Am Bügel Deindustrialisierte Stadtteile Hochhaussiedlungen Gentrifizierte Quartiere Hohe Armutsquoten Eigentumsdelikte 48% 41% 40% 39% 35% 34% 33% 32% 30% 29% 28% • • • • • • • • • • • • • • • Eschersheim (U 1,2,3/ NWZ) Preungesheim (U 5) Dornbusch (U 1,2,3/ NWZ) Nied (S 1,2) Fechenheim Bockenheim (Gentrification) Sachsenhausen (Gentrific.) Gallus (S 3,4,5,6) Niederrad (S 7,8,9/Airport) Ffmer Berg (S 6) Bergen-Enkh. (Hessencent.) Ginnheim (U 1/ NWZ) Niederursel (NWZ) Nordend-Ost (Gentrification) Innenstadt (MyZeil) 83% 73% 70% 68% 66% 65% 65% 64% 62% 60% 60% 59% 58% 56% 55% Körperverletzungsdelikte in Hochhaussiedlungen und deindustrialisierten Stadtteilen heterogener Bewohnerstrukturen Häufung von Eigentumsdelikten in Stadtteilen mit Konsumzentren oder guter Verkehrsanbindung an diese und materiell unterprivilegierte Bewohnerstruktur Persönlichkeit, Personenbezug und Methodentauglichkeit Persönlichkeit Klient Persönlichkeit Fachkraft Fallverstehen was ist der Fall ? Authentizität Methode Fazit in Thesenform 1 • Kinder- und Jugendarbeit an sich ist zunächst allgemeine (Gewalt-) Prävention: Impuls-Auslöser-Kontrolle-Dialektik • Das Feld kann spezifische Resilienz- und Präventionsfaktoren verstärken: soziale Orientierung (normative Regulation), Stabilisierung und Sozialfertigkeit, Gruppenintegration/ teilweise auch Rückhalt und Gruppeneinbindung/ Solidaritätserfahrung und Anerkennung. • Wirkungen gewaltpräventiver Ansätze lassen sich auf Grund ihrer Eingebundenheit in bzw. ihrer Korrespondenz zu zahlreichen anderen Einflussfaktoren der Lebenswelten nicht valide nachweisen (Lindner 2006). • Nachhaltige Wirkungen besitzen vor allem Angebote, die sich auf die Präventionsthematik direkt beziehen (im Rahmen der sekundären, tertiären Prävention). Fazit in Thesenform 2 • Die Wirksamkeit hat häufig weniger mit den Programminhalten als mit den Programmbedingungen und –strukturen zu tun: Gruppengröße, Personenbezug, strukturelle Einbindung in Einrichtungsalltag usw. • Das Feld bietet gleichermaßen experimentelle Möglichkeiten der Selbstregulation wie auch diejenigen von Eskalationsspiralen an. • Damit Prävention richtig wirkt, müssen die Risikofaktoren bzw. Auslöserbedingungen identifiziert werden. • OKJA wäre damit überfordert, mit verfestigten kriminellen Mustern (in Gruppen) umzugehen. Vielen Dank! rainer kilb Literatur • • • • Cierpka, M. (2005): Faustlos. Herder Faller, K./ Faller, S. (2002): Kinder können Konflikte klären. Ökotopia Glasl, F. (1999): Konfliktmanagement. Haupt Kilb, R. (2012): Konfliktmanagement und Gewaltprävention. SpringerVS • Schwarz, G. (2010): Konfliktmanagement. Gabler
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