Dr. Matthias Löwe Exposé zum Vortrag »Anachronistisches Erzählen: Moderne vs. Realismus« im Rahmen der Sektion »Von Denkfiguren und Klischees« »Das, was die Manns schreiben, interessiert uns nicht mehr. […] Es gibt Dinge, zu denen man nicht mehr zurück kann.« Diesem Vorwurf, den 1931 Alfred Döblin formuliert, sieht sich das Werk Thomas Manns bis heute immer wieder ausgesetzt. Aus Sicht einer AvantgardeÄsthetik, wie Döblin sie vertritt, erzählt Mann nicht auf der Höhe der Zeit, sondern klammert sich an veraltete ästhetische Normen des 19. Jahrhunderts. Und man kann es nicht leugnen: Das Arbeiter- und Angestelltenmilieu, soziale Mobilität, die Populärkultur, die Erfahrung neuer Geschwindigkeitsphänomene, Urbanitätsphänomene wie die Leuchtreklame, neue Medienerfahrungen wie der Kinobesuch, eine literarische Beschäftigung mit dem Drogenrausch, die Ästhetik des Hässlichen und des Ekels etc., all diese typischen Themen avantgardistischer Ästhetik stehen nicht im Aufmerksamkeitsfokus von Manns Erzählen. Zudem fehlen bei ihm formale Aspekte der Avantgarde-Ästhetik wie Formzertrümmerung und Unverständlichkeit, die den Leser verstören und aussperren sollen. Bis heute werden daher immer wieder Versuche unternommen, Mann aus dem Kernkanon der ästhetischen Moderne auszubürgern. Beinahe ebenso zahlreich sind allerdings auch die Rettungsversuche: Dabei geht es jedoch fast immer nur darum, Manns Werk mit jener normativen Vorstellung von ästhetischer Moderne zu versöhnen, die von Vertretern der Avantgarde selbst in Umlauf gebracht wurde. Man will nachweisen, dass sich hinter der wohlgefälligen, an den Realismus erinnernden Erzählfassade von Manns Romanen eigentlich subversiver Avantgardismus verberge. Ästhetische Moderne wird dabei zum bloßen Stilbegriff degradiert. Die Frage, ob Mann zur Moderne gehört, entscheidet sich dann lediglich daran, ob man ihm jene Schreibverfahren nachweisen kann, die für AvantgardeKunst ›zulässig‹ sind. Der Vortrag möchte zeigen, wie problematisch es ist, die normativen Moderne-Konzepte der Avantgarden unhinterfragt für eine literaturwissenschaftliche Beschreibung von ästhetischer Moderne zu übernehmen, denn Avantgarde-Künstler wie Döblin tendieren dazu, bestimmte Themen und Formen zur einzig legitimen ästhetischen Antwort auf gesellschaftliche Modernisierung zu erklären. Manns Modernität hängt daher gar nicht davon ab, ob man ihm subversiven Avantgardismus nachweist. Wie ich zeigen möchte, besteht die Modernität seiner Ästhetik vielmehr in ihrem ironischen Darstellungsmodus, der auf avantgardistische Ausschließlichkeitsansprüche verzichtet, Gegensätze offenhält und die Freiheitsspielräume des Lesers respektiert. Gezeigt werden soll zudem, dass Mann die Normativität avantgardistischer Moderne-Konzepte sogar literarisch problematisiert hat, vor allem im Doktor Faustus: Hier ist es ausgerechnet der ›Teufel‹, der – ausgiebig Adorno zitierend – Adrian Leverkühn die normative Rhetorik der Avantgarde beibringt und bestimmte Ausdrucksformen für zulässig, andere dagegen für obsolet erklärt.
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