Frank Weiher Die Antithesen Bürger-Künstler und Geist

Frank Weiher
Die Antithesen Bürger-Künstler und Geist-Leben in der Thomas Mann-Forschung
Vor allem in Bezug auf die Helden der frühen Werke Thomas Manns hat es sich innerhalb der
Forschung schnell etabliert, sie unter antithetischen Paradigmen zu untersuchen. So stehen
etwa die Helden Tonio Kröger und Johannes Friedemann zwischen kontemplativer
Geistigkeit und (teils verdrängter) Sehnsucht nach dem Leben. Der Roman Buddenbrooks
zeichnet die Linie des vitalen Verfalls vor dem Hintergrund des geistig-ästhetischen Aufstiegs
der Familie. Künstler, wie wiederum Tonio Kröger und Gustav von Aschenbach, erscheinen
als Bürger auf Abwegen.
Doch auch in den späteren Werken Manns scheint diese antithetische Dialektik aufrecht
erhalten zu werden. So „schlägt“ etwa Mut-em-Enet „die Lebensrute“, in Form ihrer
aufblühenden Liebe zu Joseph, was dazu führt, dass der sorgsam errichtete und behutsam
gepflegte Kunstbau von Potiphars Haus einzustürzen droht. Der inspirierte Künstler Adrian
Leverkühn führt als Eremit ein Leben jenseits des Bürgertums. Sein Liebesverbot, das die
teuflische Bedingung für seine Inspiration bildet, bestätigt das Primat des Geistigen vor dem
Leben.
Der Vortrag geht zunächst auf die genannten Antithesen ein und untersucht an einigen
Beispielen die Plausibilität dieser Deutungsmuster. In einem zweiten Schritt wird hingegen
eine andere Lesart dieser dialektischen Gegenüberstellungen vorgeschlagen. Es wird zu
zeigen sein, dass der Begriff des ‚Lebens‘ bei Thomas Mann nur vor dem Hintergrund seiner
geistigen Durchdringung zu erfassen ist. Lediglich hinter der Folie des ‚Geistes‘ erscheint der
vermeintlich gegenteilige Begriff des ‚Lebens‘ als dessen Antithese.
Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff und den an ihn gekoppelten Vorstellungen des
Künstlertums. Zwar gibt es in gewisser Hinsicht eine Divergenz zwischen Künstler und
Bürger, dennoch bleibt zum einen Thomas Manns Künstlerbegriff unter dem Stichwort der
‚Leistungsethik‘ stark der bürgerlichen Sphäre verhaftet, zum anderen gibt es in Thomas
Manns Denken eine Unterscheidung zwischen Bürger und Bourgeois, die in den Hintergrund
der Aufmerksamkeit gerückt ist. Bzgl. beider Antithesen wird also zu zeigen sein, dass sie in
einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen und sich vielmehr gegenseitig synthetisch
bedingen und steigern als einander auszuschließen.