„Selig sind die Zukurzgekommenen“. Dieses Wort, das sich an die

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„Selig sind die Zukurzgekommenen“. Dieses Wort, das sich an die Seligpreisungen anlehnt,
hat mich sehr berührt und ist der Anstoss dazu, dass ich es als Predigtthema gewählt habe.
In der Sozialwissenschaft, jener Wissenschaft also, die sich mit den Gegebenheiten des
Zusammenlebens von Individuen befasst, kennt man die Methode des sogenannten
Soziogramms, die Aufschluss gibt über die Beziehung dieser Individuen zueinander. Man
stellt beispielsweise in einer Schulklasse jedem Kind ganz gezielte Fragen. Die eine Frage
heisst vielleicht: “Neben welchem Kind würdest du gerne sitzen? Du darfst drei Namen
nennen.“ Eine andere heisst logischerweise:“ Neben wem möchtest du keinesfalls sitzen?“
Die Auswertung dieser Fragen ergibt dann ein recht aufschlussreiches Beziehungsgeflecht
innerhalb dieser Gruppe. Es stellt sich heraus, welches Kind besonders beliebt und welches
weniger beliebt ist. Und dann gibt es da noch eine dritte Gruppe, die uns nachdenklich macht,
nämlich diejenige der Kinder, die von niemandem genannt werden, die also quasi gar nicht
vorkommen. Vielleicht eines dieser Kinder war einer meiner Jugendfreunde, Er hiess Jürg
und war ein stiller, unauffälliger Zeitgenosse, im Grunde genommen ein lieber Kerl. Er war
nicht besonders beliebt, auch nicht besonders verhasst, er stand niemandem im Wege, er war
einfach da. Früher einmal hatten seine Ohren weit abgestanden, weshalb ihn seine Eltern zu
einem plastischen Chirurgen geschickt hatten. Durch die Operation gewann er indessen nur
wenig an Ansehnlichkeit, denn nach diesem Eingriff, der eher einem Übergriff gleichkam,
sahen seine Ohren so aus, als wären sie am Kopf angeklebt.
Jürgs hervorstechendste Eigenschaft war die, dass er praktisch keine Eigenschaften besass. Er
hatte eine dünne Stimme, war nicht von überragender Intelligenz, war auch nicht eben kräftig
gebaut und von bescheidener Durchsetzungskraft. Fussball spielen konnte er auch nicht
besonders gut, was ihn aber nicht daran hinderte, von der Gründung eines Fussballvereins zu
träumen. Ich träumte halbherzig mit und stellte mich gar als Mitgründer zur Verfügung,
innerlich fest davon überzeugt, dass uns bereits der erste ernsthafte Gegner förmlich vom Feld
blasen würde.
Ich habe mir bei der Vorbereitung auf unsere Besinnung lange überlegt, ob ich seinen Namen
überhaupt erwähnen sollte; er hiess wirklich Jürg, aber er könnte tausende verschiedener
Namen tragen, denn er ist ja gewissermassen ein Grundtyp. Vieles, das ich mit ihm erlebt
habe, ist inzwischen verblasst oder vergessen, eines ist mir jedoch in lebhafter Erinnerung
geblieben. Er kam eines Tages in sichtlich bester Laune zu mir und eröffnete mir, eine Tante
habe ihn singen gehört und anerkennend gesagt, seine Stimme liesse sich gut und gerne mit
der Stimme eines damals berühmten Schlagersängers vergleichen und eine entsprechende
Karriere wäre jedenfalls nicht ausgeschlossen. Diese wohlmeinende Bemerkung schien ihn,
das merkte man sofort, förmlich zu beflügeln und ich hütete mich deshalb, ihm diese Illusion
auszureden. Die Aussicht, sich auf diese Weise einen Namen zu machen, das wäre für ihn die
Erfüllung eines Traumes gewesen.
Mir selbst ist Jürgs Situation auch nicht unbekannt. Auch ich habe als etwa Dreizehnjähriger
bei wie zufällig geöffnetem Fenster das Lieblingslied meiner Mutter, das Wolgalied aus dem
Zarewitsch in angemessener Lautstärke und mit allem mir zur Verfügung stehenden Schmelz
von mir gegeben, und als Nachbarn bei uns vorstellig wurden mit dem Rat, meine Stimme
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ausbilden zu lassen, hat mir dies durchaus geschmeichelt, zumal sie es offenbar nicht
sarkastisch meinten.
Solche Regungen sind wohl den Meisten von uns gewiss nicht fremd, es ist halt schon etwas
Besonderes, wenn man es irgendwo ‚zu etwas bringt‘, wenn man heraustritt aus der grossen,
anonymen Masse, wenn man Aufmerksamkeit erregt.
Da gab es einmal einen bekannten Sportler, der es auf seinem Gebiet zu grosser Anerkennung
gebracht hatte. Nachdem die Zeit seiner Spitzenleistungen vorbei war, suchte er ein neues
Wirkungsfeld und versuchte es am Fernsehen als Humorist. Seine Darbietung war indessen
ziemlich peinlich und ein humorvoller Journalist schrieb in der Folge treffend, es wäre dem
Guten ein wohlmeinender Freund zu wünschen gewesen, welcher ihn am Ärmel liebevoll,
aber bestimmt aus dem Bereich der Fernsehkameras gezogen hätte.
Vor Jahren, als wir von der Expo im Zug nach Hause fuhren, sass uns gegenüber, seinem
Verhalten nach zu schliessen, ein geistig leicht behinderter junger Mann.
Er lehnte, die Hand am Ohr, an der Scheibe und war sichtlich in ein intensives Gespräch
vertieft:
„Es ist gut!- Etwa um halb sieben bin ich zu Hause!- Nein! – Nicht nötig! – Ich werde dann
schon!... Jaja! – Was meinst du? – Ja, mach nur! - Das ist schon in Ordnung! – Also!-Auf
bald!“
Als er das Gespräch beendet hatte, bemerkte ich: er hatte gar kein Handy in der Hand! Er
hatte uns das alles nur vorgespielt! Das Ganze hat mich nicht etwa belustigt, sondern zutiefst
gerührt. Diese junge Mann wollte doch auch dabei sein; bei jenen, die unterwegs in einem
öffentlichen Verkehrsmittel offenbar unaufschiebbare Telephonate erledigen müssen und ihre
Mitpassagiere freizügig
daran teilnehmen lassen. Diese Leute haben ihn, tragischerweise, tief beeindruckt.
Nun, unsere Welt ist nicht arm an Zeitgenossen, die sich danach sehnen, ‚jemand zu sein‘, auf
irgendeine Weise herauszuragen aus dem Heer der Namenlosen und sein Gegenüber zu
beeindrucken.
Die Verhaltensforschung kennt das Bestreben, Eindruck hervorzurufen als Imponiergehabe.
Dieses Verhaltensmuster kommt sowohl im Tierreich wie unter den Menschen vor. Doch
während dieses im Tierreich vor allem sozialen Zwecken dient, etwa um einen Gegner
abzuschrecken oder einem Weibchen besonders zu gefallen, nimmt das Imponiergehabe unter
Menschen bisweilen groteske Züge an. Das gibt es unter den Menschen natürlich auch, dass
man ‚einem Weibchen gefallen‘ will, und das nimmt dann die Werbung begierig auf, etwa
wenn sie eine Hautcreme anpreist, die zugeschnitten ist auf ‚Männer, denen alles ein bisschen
leichter fällt‘. Dabei fällt einem gewiss vieles etwas leichter, wenn man eben gerade nicht auf
solche Äusserlichkeiten angewiesen ist! Aber es gibt daneben noch auffälligere Formen des
Imponiergehabes, die unseren Mitmenschen ordentlich auf die Nerven gehen, etwa wenn sie
mit Motorenlärm oder lautstarker ’Musik‘ verbunden sind. Die Psychologie nennt solche und
ähnliche Persönlichkeitsstörungen, weil ihnen durchaus kindische Züge anhaften, das Peter
Pan-Syndrom. Es ist weit verbreitet, dieses Syndrom, das den Einzelnen dazu verführt, seine
tatsächlichen oder vermeintlichen Vorzüge, seine ‚Lässigkeit‘ zur Schau zu stellen, Eindruck
zu schinden. Das ist auch auf kulturellem Gebiet durchaus üblich, indem man sich besonders
gescheit und gewählt ausdrückt und dadurch zu erkennen gibt, mit welchem Kaliber es das
Gegenüber in Wirklichkeit zu tun hat. Vor solch elitärem Balzverhalten sind selbst kirchliche
Kreise nicht verschont, obwohl gerade diese es eigentlich besser wissen sollten.
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Bescheidenheit ist nicht bloss eine Zier, sondern sie zeigt uns einen goldenen Weg zum
Mitmenschen und ist deshalb eine Notwendigkeit! Und zudem ist es an sich besser und
gewiss eleganter, wenn andere von unseren Vorzügen nicht durch uns selbst erfahren!
Ein deutscher Architekt (Friedrich Theodor Fischer), dem die Affektiertheit seiner
Mitmenschen offensichtlich auf den Keks gegangen ist hat einmal etwas gesagt, das mir aus
tiefstem Herzen gesprochen ist:
„ Wie oft in einer Gesellschaft,
die sich für so recht gebildet und interessant hielt,
bei all dem Gerede und Feintun,
seufzte ich innerlich: Wenn doch nur ein Hund da wäre!“
Es ist schon so: Die einen kennt man an ihren Taten, die anderen an ihrem Getue. (Martin
Kessel)
Der Winterthurer Pfarrer Robert Heinrich Oehninger, bekannt unter anderem durch seinen
Roman ‚Die Bestattung des Oskar Lieberherr‘, schreibt in seinem zweiten Buch ‚Kriechspur‘,
das autobiographische Züge enthält und das von seiner Herzkrankheit handelt, von einer für
ihn wertvollen Erfahrung:
Er konnte offenbar leidlich gut Klavier spielen und deshalb setzte er sich in einer grösseren
Gesellschaft unvermittelt ans Klavier und legte munter los. Da trat ein Freund auf ihn zu und
flüsterte ihm leise vier Worte ins Ohr: „Hast du das nötig?“ Dieser eine gutgemeinte Satz,
schreibt Oehninger, habe ihn schlagartig und nachhaltig geheilt. Wohl dem, bei dem ein
solcher Hinweis auf fruchtbaren Boden fällt!
Ein zweites Beispiel: Ein Freund gab ein Klavierkonzert in Wallisellen. Beim anschliessenden
Apero trat ein jüngerer, tadellos gekleideter Mann an den Flügel und begann, den Blick
schwärmerisch und nachdenklich in die Unendlichkeit gerichtet, eine seltsam melancholische
Melodie zu spielen.
„Das tönt aber ganz gut, “ sagte ich zu meinem Freund. Der lächelte mild: “Ist ja logisch,
wenn man nur die schwarzen Taten benützt.“
Wie mancher spielt uns was vor und benützt dabei nur die schwarzen Tasten! Oder erliegen
wir gar oft selbst dieser Versuchung? Gott möge uns davor bewahren! Interessant wird es
doch erst dort, wo wir uns selbst nicht mehr so ernst nehmen, wo wir nicht mehr scheinen
wollen als wir sind. Es ist so wohltuend, wenn man über sich selbst bisweilen so richtig
lachen kann. Da ist Fröhlichkeit quasi vorprogrammiert, denn sich selbst hat man ja immer
dabei!
Aber was uns die tägliche Erfahrung lehrt, ist oft eher das Gegenteil. Wie viele unserer
Zeitgenossen befinden sich doch auf dem ‚Ego-Trip‘ und möchten sich selbst und ihr
vermeintliches oder tatsächliches Talent zur Schau stellen! Die Medien greifen das dankbar
und willig auf und suchen unentwegt nach Menschen mit besonderen Eigenschaften, aber
auch nach solchen, die bereit sind, sich als Abgewiesene, als Verlierer einer Talentschau
demütigen, beleidigen zu lassen.
Wir haben früher fröhlich gesungen: ‚Es, es, es und es…? Heute wäre wohl ein etwas
modifizierter Text angebrachter: „Ich, ich, ich und ich“
Es sind ja neuerdings solche Gestänge im Handel, an welchen Kameras befestigt werden
können, mit denen man sich bequem selbst photographieren kann.
Sind solche Selfies nicht ein Symbol für die Blickrichtung? Nicht der Nächste, wir selbst sind
das Objekt! Was wechselt, ist bloss der Hintergrund.
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Und ist diese Selbstbezogenheit nicht ein Hinweis auf ein grosses Defizit? Sind etwa die auf
sich selbst Fixierten, die Narzisten in gewisser Weise ebenfalls Zukurzgekommene?
Selig sind die Zukurzgekommenen.
Dieses Wort stammt nicht aus der Bergpredigt. Hanns Dieter Hüsch, ein Weiser, hat es
formuliert, und er hat mir damit zu denken gegeben. Und andernorts dazu gesungen:
„Ich sing für die Verrückten, die seitlich Umgeknickten,
die eines Tags nach vorne fallen und unbemerkt von allen
Sich aus der Schöpfung schleichen, weil Trost und Kraft nicht reichen
Und einfach die Geschichte überspringen –
für diese Leute will ich singen.“
Das, liebe Gemeinde, ist nun eine andere Dimension.
Diese Worte umfassen so manches tragische Schicksal, das Schicksal von unschuldigen
Menschen, die gescheitert und vergessen sind, die zu kurz gekommen sind, weil sie sich nicht
wehren konnten oder wollten, weil ihnen die Kraft und der Mut dazu fehlten, weil sie
verachtet und misshandelt worden sind, weil sie vielleicht im Krieg zwischen die Fronten
geraten und Opfer von Fanatikern geworden sind.
Selig sind die Zukurzgekommenen… Und Hüsch fügt, wie es bei den Seligpreisungen auch
der Fall ist, eine wichtige Schlussfolgerung, eine Begründung bei: „Selig sind die
Zukurzgekommenen, denn sie tun einem nix. Das ist nun ein unübersehbarer Ausdruck der
Sympathie mit den Menschen auf der Schattenseite des Lebens. Wer so spricht, der steht auf
der Seite der Verlierer, der Zukurzgekommenen. Und der weiss, dass die Gewalt auf dieser
Welt, gegen Menschen und auch gegen die Natur nicht von solchen Menschen ausgeht. Denn
sie gehören nicht zu dieser Ellbogengesellschaft, in welcher das primitive Recht des Stärkeren
herrscht, das so viel Elend auf unserer Welt verursacht.
Das Wort nimmt einen Grundgedanken der Bergpredigt auf.
Die biblischen Seligpreisungen führen uns ins Zentrum des christlichen Glaubens. Und in
diesem Zentrum ist eines nicht zu übersehen: Das Christentum ist keine Religion der
Privilegierten und der Würdenträger!
Der Gott des Neuen Testaments ist der Gott der Armen und der Benachteiligten.
Für die Kranken ist der Arzt gekommen, nicht für die Gesunden.
Gott kennt sie alle, die Zukurzgekommenen. Und wenn wir vielleicht enttäuscht worden sind
von den Menschen oder auch enttäuscht von uns selbst, so dass uns unser Selbstvertrauen
oder unsere Selbstachtung abhandengekommen ist, so dürfen wir doch das Eine wissen: vor
Gott sind wir Jemand Gott nimmt uns ernst. So wie wir sind. Ihm können und müssen wir
nichts vormachen.
Doch eines können wir tun: wir können es weitersagen, dass unser Gott uns alle ernst nimmt.
Mit Worten können wir es weitersagen oder durch unser Handeln, durch die Art, wie wir uns
geben.
Mutter Teresa hat einmal gesagt:
„Lass nie zu, dass jemand zu dir kommt,
der nicht glücklicher von dir geht,
als er gekommen ist.“
So konkret ist unsere Aufgabe, dass wir im Umgang mit unseren Mitmenschen diese unsere
Achtung unsere Liebe und unsere Wertschätzung deutlich spüren lassen. Gemäss dem
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Christuswort:“ Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe“ (Joh
15,12)
Wir müssen unsere Mitmenschen darauf hinweisen, wie einzigartig sie in Wirklichkeit sind.
Und gerade die vor der Welt zu kurz Gekommenen müssen dies wissen! Was diese wirklich
brauchen, ist nicht bloss Mitleid, sondern Ermutigung, Mitgefühl und die Gewissheit, dass sie
von Gott und von uns geachtet, geliebt und ernst genommen sind. Und dies ohne
Vorbedingungen! Der Wert und die Grösse eines Menschen hängen nicht von seinen
Talenten, von seiner gesellschaftlichen Stellung und von der Grösse seines Wirkungsfeldes
ab. Es ist etwas anderes, das uns unseren wirklichen Wert verleiht:
Der italienische Dichter Dante Alighieri, der Verfasser der „Göttlichen Komödie“ formuliert
den eigentlichen Wert eines Menschen verblüffend prägnant und illustrativ: „Wenn du Liebe
hast, spielt es keine Rolle, ob du Kathedralen baust oder in der Küche Kartoffeln schälst.“
Ein Wort von Albert Schweitzer mit dem ich unsere heutige Besinnung abschliessen möchte,
hat mich besonders angesprochen und nachhaltig beschäftigt:
Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren der Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir
gehen.
5.10.15
Schriftlesung:
AT
Ps 126
NT
Mt 5, 1-12