Die Predigt im Wortlaut als pdf - Evangelisch

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Predigt zu den Seligpreisungen Jesu (Matthäus 5, 1-12) zum Reformationstag,
31. Oktober 2015 im Gottesdienst der Evangelisch-reformierten Gemeinde
München zusammen mit der ungarischen und niederländischen Gemeinde
Als er nun die vielen Menschen sah, stieg er auf den Berg;
und als er sich gesetzt hatte, traten seine Jünger zu ihm
Und er tat seinen Mund auf und lehrte sie:
Selig die Armen im Geist - ihnen gehört das Himmelreich.
Selig die Trauernden - sie werden getröstet werden.
Selig die Gewaltlosen - sie werden das Land erben.
Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit
- sie werden gesättigt werden.
Selig die Barmherzigen - sie werden Barmherzigkeit erlangen.
Selig, die reinen Herzens sind - sie werden Gott schauen.
Selig, die Frieden stiften
- sie werden Söhne und Töchter Gottes genannt werden.
Selig, die verfolgt sind um der Gerechtigkeit willen - ihnen gehört das Himmelreich.
Selig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen
und euch das Ärgste nachsagen um meinetwillen
und dabei lügen.
Freut euch und frohlockt, denn euer Lohn im Himmel ist groß.
Denn so haben sie auch die Propheten vor euch verfolgt.
(Übersetzung nach der Zürcher Bibel)
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft
des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen.
Liebe Gemeinde,
zunächst verdient die Szene unsere Aufmerksamkeit. Der Evangelist Matthäus rückt
die Seligpreisungen und damit die ganze Bergpredigt in ein Setting, das mehr ist als
nur ein Bühnenhintergrund für eine große Rede: Als er nun die vielen Menschen sah …
Es ist eine ganze Menschenmenge, die da erwartungsvoll zu Jesus hinströmt. Im
Kapitel zuvor wird auch gesagt, was das für Menschen sind: Man bringt Kranke und
Behinderte zu ihm, auf dass er sie heilen sollte. Von weit her sind sie gekommen, aus
allen Himmelsrichtungen. Wie ein Lauffeuer hat sich die Nachricht verbreitet von
diesem besonderen Prediger und Heiler. Eine kleine Bemerkung des Evangelisten
dabei, sonst leicht überlesen, fällt heute ins Auge: „Und die Kunde von ihm
verbreitete sich in ganz Syrien.“ (Mt. 4,24)
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Geht es Ihnen wie mir? Eine Menge von Menschen, die da zusammenströmt in der
Hoffnung auf Rettung und Heilung, in der Hoffnung auf ein besseres Leben – auch
ohne das Stichwort „Syrien“: Wer von uns hat dabei eigentlich nicht sogleich die
Bilder der vielen Flüchtlinge vor Augen, die wir Abend für Abend in den Fernsehnachrichten und Morgen für Morgen in den Zeitungen herbeiströmen sehen.
Ja, diese Bilder holen uns auch in diesem Reformationsgottesdienst ein. Und nun ist
dieses Bild von den vielen bedürftigen Menschen der Hintergrund der Bergpredigt
Jesu. Dass Jesus nicht wegsieht, sondern dass er diese Menschen sieht und ansieht,
das ist der Ausgangspunkt. Und diese leidenden Menschen wird er auch im Blick
behalten während der ganzen Bergpredigt – und übrigens auch jene Leidenden, die
heute nicht in den Nachrichten vorkommen.
Die Bergpredigt Jesu mit dem Ruf zur Feindesliebe und Gewaltfreiheit ist also keine
esoterische Jüngerbelehrung hinter Klostermauern, abgeschieden von der Welt. So
hat man das oft verstanden und missverstanden. Um diesen radikalen Forderungen
nachzukommen, musst Du ein Heiliger sein, musst Dich zurückziehen von der bösen
Welt. Aber das entspricht nicht ihrem Sinn. Mitten in diese Welt hinein mit all ihrem
Elend spricht Jesus seine Worte. Unmittelbar vor Augen hat er die Leidenden. Denn
er möchte die Not der Menschen nicht verdrängen, sondern er möchte diese Not zum
Guten wenden.
Nicht wahr, manchmal können wir die Flut von Bildern mit notleidenden Menschen
gar nicht mehr verkraften. Wir möchten die Augen schließen, den Fernseher
ausschalten (oder wenigstens auf ein ablenkendes Programm umschalten), die
Zeitung abbestellen. Die Seligpreisungen Jesu zeigen: Gott sieht sie an, die ganze
Menge von Leidenden. Er sieht genau hin, jeden Einzelnen, und lässt es sich zu
Herzen gehen.
II
Und dann nimmt Jesus uns gewissermaßen mit auf den Berg. Die Menge der nach
Rettung dürstenden Menschen im Blick, sucht er mit seinen Schülern zunächst ein
Stück Abstand. Um Orientierung zu bekommen, dürfen wir uns gerade nicht
verschlingen lassen von den schier uferlosen Anforderungen, die Not und Leid vieler
Menschen an uns stellen. Gerade um ihretwillen, um der vielen Bedürftigen willen, ist
es notwendig, einmal die Hände ruhen zu lassen und sich auf das Wesentliche zu
besinnen und zu fokussieren.
Viele Menschen – übrigens keineswegs allein in unserem Land - sind in diesen
Wochen bis an die Grenzen ihrer Kräfte damit belastet und beschäftigt, der Menge
von Menschen zu helfen und ihnen einigermaßen gerecht zu werden, die da aus den
Kriegs- und Krisenregionen zu uns kommen. Mitarbeitende der Aufnahmebehörden,
Sanitäter, Ärzte, Polizisten, Sozialarbeiter, Hausmeister, aber auch viele ehrenamtliche Helfer, besonders auch in den Kirchengemeinden.
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Vielleicht hören wir ja heute Abend noch etwas darüber aus anderen Ländern,
zumindest aus Ungarn und den Niederlanden: Wie dort die Menschen, die Behörden
und die Kirchengemeinden zu helfen versuchen. Denn die Wirklichkeit ist auch dort
oft noch etwas anders und differenzierter, als es uns die dramatischen Bilder in den
Medien vermitteln.
III
Nun aber sind wir mit Jesus auf den Berg gestiegen, um Orientierung zu bekommen,
Stärkung und Hoffnung für all die Schwierigkeiten, die vor uns liegen. Und Jesus
beginnt mit einer Überraschung: „Selig!“ sagt er. „Glücklich, gesegnet sind, die da
Leid tragen: die Armen, die Trauernden, die nach Gerechtigkeit Dürstenden, die
Verfolgten und die Verleumdeten!“
Diese Seligpreisungen Jesu drehen unsere spontane und gewöhnliche Wahrnehmung
geradezu ins Gegenteil! Unser Herz würde doch schnell sagen: „Ach, diese Armen, ich
möchte nicht in ihrer Haut stecken! Ein Glück, jetzt merke ich einmal wie vergleichsweise gut ich es selber habe.“
Aber Jesus dreht unsere normale Wahrnehmung um. Er sieht all die Armen mit den
Augen Gottes. Und er sieht an ihnen nicht nur ihr Leid. Sondern er sieht sie gerade
um ihres Leides willen als Gottes liebste und wertvollste Geschöpfe. Ausgerechnet
ihnen, die in ihrer Gesellschaft an den Rand gedrückt, ja um ihre Lebensmöglichkeiten
gebracht werden, gilt Gottes Augenmerk zuerst. Ihnen zuerst gelten all jene großen
Zusagen des Evangeliums: dass Gott mit ihnen ist, dass er sie retten, schützen, bergen
und heilen wird. Ihnen, den Bedrängten gilt diese Zuwendung und Zusage vor allem,
denn sie sind es, die davon am Wenigsten bei sich spüren und sehen können.
Liebe Gemeinde, es gibt etwas, was mich in meinem Pastorenleben immer wieder
überrascht hat. Wenn ich zu den ganz Armen gekommen bin, zu den Trauernden, zu
den oft erbärmlich Kranken, dann war es oft so, dass ich Hoffnung und Trost gar nicht
mitbringen konnte und musste. Denn zu meiner Überraschung waren ein Stück
Hoffnung und Trost schon da. Ich brauchte dann eigentlich nur noch darauf aufmerksam zu machen. Gerade leidtragende Menschen entwickeln oft eine ganz erstaunliche Kraft der Hoffnung und des Widerstands. Und gerade solche, die selber Schweres erlitten haben, haben oft die besten Ideen und den größten Mut, auch anderen
Menschen in Ihrer Not beizustehen. Kennen Sie auch solche erstaunlichen Geschichten, in denen diese Seligpreisung der Leidtragenden Wirklichkeit wird?
IV
Nun erklärt es sich, warum Jesus in einem Atemzug mit den Leidenden auch die
Menschen selig preist, die es vermögen, etwas gegen das Leid und seine Ursachen zu
tun und die Not zu wenden: die Gewaltlosen, die Barmherzigen, die Ehrlichen, die
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Frieden stiften. Sie gehören zusammen, die Leidendenden und die ihnen Beistehen.
Sie sind eine Gemeinde, sie sind die Gemeinde Jesu Christi.
Liebe Schwestern und Brüder, es ist eine Reformationsbewegung, die von den Seligpreisungen her unsere Kirche ergreift. Was wir auf dem Berg der Seligpreisungen
hören und sehen, ist Gottes Vision von der Kirche. Sie sind eine Gemeinde: die von
Jesus angesprochenen und berufenen, die von ihm getrösteten und mit einer Aufgabe betrauten, die Leidenden und die Helfenden, sie zusammen bilden die von Gott
reformierte Gemeinde.
„Reformiert“ zu sein, ist dann kein Konfessionsbegriff mehr, sondern ein Qualitätsmerkmal. Denn die da miteinander von Jesus selig gepriesen werden, sind ja nicht
allein Angehörige einer Konfession oder einer Religion. Es ist etwas anderes, was sie
zusammenführt und aneinander bindet: Es ist der Ruf Gottes. Der griechische Begriff
für Kirche, „Ekklesia“, heißt wörtlich: Die Herausgerufenen, oder: die von Gott zur
Hoffnung berufenen Menschen. Wenn wir diesen Ruf hören und ihm folgen, werden
wir vielleicht ganz überrascht sein, wen wir da neben uns finden, als Schwestern und
Brüder in dieser Gemeinde der Zukunft.
Auch Menschen anderer Konfession und Religion werden dann an unserer Seite und
im Licht dieses Rufes stehen, und jawohl: auch Muslime. Vor mehr als einem Jahr
erreichte uns ein Notruf der evangelischen Kirchen und Gemeinden aus dem
Mittleren Osten. Unsere Synode hat im Frühjahr darauf geantwortet. Was uns
aufhorchen ließ, war dies: Der Kampf dort heißt nicht: Islam gegen Christentum.
Sondern der Kampf dort heißt: Terror gegen Menschen, die dort in Frieden
zusammen leben wollen.
Bewegend heißt es in diesem Notruf: Wir bitten um Eure Hilfe, nicht allein für uns,
sondern auch für die übergroße Mehrheit der hier lebendenden Muslime. Sie werden
von IS und Co genauso bedroht wie wir, und wörtlich: Es sind „unsere Schwestern
und Brüder“. Liebe Gemeinde, dieses evangelische Zeugnis aus dem Mittleren Osten
im Ohr, werden wir denen deutlich widersprechen, die alle nach Europa flüchtenden
Muslime unter Generalverdacht stellen. Nein, es sind keine Terroristen, die hier
kommen, sondern im Gegenteil: Es sind Menschen, die vor dem Terror fliehen.
V
Zuletzt aber: Worauf gründet eigentlich die große Vision von der reformierten
Gemeinde der Seligpreisungen? Sie gründet in nichts Geringerem als in der Zukunft
Gottes. All die Nachsätze der Seligpreisungen verweisen auf diese Zukunft, die allen
hier Seliggepriesenen zugesagt ist: sie werden getröstet werden ... sie werden das
Land erben … sie werden gesättigt werden … sie werden Barmherzigkeit erlangen …
sie werden Gott schauen. Es ist eine Fülle von Zusagen, die nun auf die andere Seite
der Waagschale gelegt wird. Nur so bekommen wir ein Gegengewicht, ja ein
Übergewicht zu all den bedrückenden Erfahrungen von Leid und der Gewalt. Am
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Anfang und am Ende aber werden all diese Zusagen zusammengefasst und
überschrieben mit der Erwartung: Ihnen gehört das Himmelreich.
Hier erfahren wir, dass unsere Hoffnung sich nicht allein auf diesseitige Ziele richten
kann, genauso wenig wie sie eine rein jenseitige Größe ist. Unsere Hoffnung ist, dass
das, was wir allein Gott zutrauen können, schon heute mitten unter uns aufleuchtet.
Im Vaterunser ist das in einer Bitte zusammengebunden: wie im Himmel, so auf
Erden.
Liebe Gemeinde, ich bin davon überzeugt: Anders als mit einer in Gottes Zusagen
gegründeten Hoffnung können wir die Herausforderungen unseres Lebens und die
Herausforderungen unserer Gegenwart nicht bestehen. Der zuversichtliche Satz
unserer Kanzlerin: „Wir schaffen das!“ wird nur dann beständig und kräftig bleiben,
wenn er in einer Hoffnung gründet, die über das hinaus geht, was „wir schaffen“
können. Unsere große Hoffnung auf das „Himmelreich“, auf Gottes künftiges Reich
der Gerechtigkeit und des Friedens, zeigt sich in der kleinen Münze unseres
persönlichen Beitrags zum besseren Zusammenleben in unserer Gesellschaft.
Das ist auch all denen zu sagen, die sich verunsichert oder gar bedrängt fühlen davon,
dass mit den Flüchtlingen auch die Zahl der Muslime in unserer Gesellschaft wächst.
Eine neue Studie über die Jugendlichen in unserem Land hat erstaunlich viel Positives
und Hoffnungsvolles zutage gebracht, aber auch dies: Die muslimischen Jugendlichen
sind im Durchschnitt frommer als die christlichen. Liebe Gemeinde, das sollte uns
nicht ängstigen, sondern das fordert uns heraus. Wir sind als reformierte Kirche
gefordert, noch deutlicher zu sagen und zu leben, worauf sich unsere Hoffnung
gründet. Hier aber, auf dem Berg der Seligpreisungen Jesu, wird uns solche Hoffnung
in großer Fülle zugesagt.
Und der Frieden Gottes, der höher ist als alles, was wir begreifen können, bewahre
unsere Herzen und Sinne in Christus Jesu, unserem Herrn.
Amen
Dr. Martin Heimbucher, Leer
Kirchenpräsident
Evangelisch-reformierte Kirche