Hirntoddiagnostik – der Grenzbereich zwischen Leben und Tod Bevor Spenderorgane entnommen werden, muss der Hirntod des Spenders zweifelsfrei von zwei voneinander unabhängigen Ärzten festgestellt werden. Professor Reinhard Dengler, Direktor der Klinik für Neurologie an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), ist ein Experte auf dem Gebiet der Hirntoddiagnostik. Im Interview äußert er sich zu den strengen Diagnoseregeln in Deutschland und dem medizinischen Grenzbereich zwischen Leben und Tod. Herr Professor Dengler, was versteht ein Mediziner unter dem Begriff Hirntod? Dengler: Der Hirntod bezeichnet den irreversiblen Ausfall aller Hirnfunktionen von der Hirnrinde bis zum Hirnstamm. Das Gehirn ist unsere oberste Steuerzentrale. Fällt es aus, sterben die Nervenzellen ab, es gibt keine Reflexe mehr, das Schmerzempfinden ist ausgeschaltet und die selbstständige Atmung setzt aus. Ein hirntoter Mensch wacht – anders als ein Komapatient – nie wieder auf. Wie stellt ein Arzt den Hirntod eines Patienten fest? Dengler: Der Hirntod ist kein Dogma, sondern lässt sich medizinisch mit Sicherheit feststellen – wenn die strengen Richtlinien der Bundesärztekammer eingehalten werden. Voraussetzung ist zunächst der zweifelsfreie Nachweis einer schweren Hirnschädigung. Gleichzeitig muss der untersuchende Arzt andere eventuelle Ursachen für die tiefe Bewusstlosigkeit des Patienten ausschließen – etwa eine starke Unterkühlung, eine Vergiftung, ein Kreislaufschock, Koma oder die Kreislauf dämpfende Wirkung bestimmter Medikamente sein. Erst dann werden die Hirnfunktionen überprüft und das Ausmaß des Hirnausfalls festgestellt. Zum Schluss wird kontrolliert, ob die Hirnstammreflexe unwiederbringlich ausgefallen sind. Dazu zählen etwa der bekannte Pupillenreflex und die Spontanatmung. Sind all diese Funktionen irreversibel erloschen, stellt sich die Frage: Bleibt der Zustand des Patienten tatsächlich so oder ändert er sich noch? Und wie lässt sich das herausfinden? Dengler: Zum einen, indem nach zwölf Stunden die Untersuchungen wiederholt werden, zum anderen durch Zusatzdiagnostik, etwa mit Hilfe eines Elektroenzephalogramms, dem so genannten EEG, das die Hirnströme misst. Sieht der Arzt auf dem Gerät eine Nulllinie – etwa so wie beim EEG, wenn das Herz nicht mehr schlägt – ist der Hirnkreislauf komplett ausgefallen und das Gehirn irreversibel tot. Wenn die Diagnostik so eindeutig ist, warum wird das Thema Hirntod in der Öffentlichkeit so kontrovers diskutiert? Dengler: Bei der Diskussion um Hirntod und letztlich auch um Organspende werden oft Dinge vermischt, die nichts miteinander zu tun haben. Die Transplantationsskandale in einigen deutschen Kliniken bezogen sich auf die Vergabemethoden und die illegale Bevorzugung bestimmter Empfänger durch Datenmanipulation. Das hat mit dem Hirntod des Spenders gar nichts zu tun. Zudem gibt es unterschiedliche Ansichten, wie tot ein hirntoter Mensch tatsächlich ist. Aus medizinischer Sicht ist die Frage eindeutig, aber aus religiöser oder ethischer Erwägung könnte man auch die Meinung vertreten, der Hirntod sei nur ein Teil des Sterbens. Da ist jedoch eine philosophische Frage, die ich als Neurologe nicht allgemeingültig beantworten kann. Aber der Hirntod selbst ist offenbar auch für Mediziner nur schwer zu vermitteln. Dengler: Der Tod ist ein diffuses Thema. Für Angehörige ist das in der Regel ein schwerer Schock, wenn ihnen mitgeteilt wird, der Patient sei hirntot. Die Frage nach einer möglichen Organspende kommt dann für viele zum falschen Zeitpunkt. Zudem ist es für medizinische Laien nur schwer nachzuvollziehen, dass der Patient, der scheinbar nur bewusstlos daliegt, bereits tot ist. Mit Hilfe künstlicher Beatmung arbeiten alle Organe weiter, obwohl sie vom Gehirn dazu keine Aufforderung mehr erhalten. Doch ein Überleben ist ausgeschlossen. Die Körperfunktionen werden nur intensivmedizinisch aufrechterhalten, damit die Organe noch durchblutet werden und eine potenzielle Organspende möglich ist. Kommt diese nicht in Betracht, werden die Maschinen abgestellt und der ganze Körper folgt dem Gehirn und stirbt. Wie lässt sich das Problem denn lösen? Dengler: Für Angehörige ist die Frage nach einer möglichen Organspende eine schwere Entscheidung. Daher wäre es sinnvoll, wenn sich jeder schon zu Lebzeiten mit dem Thema auseinandersetzen und eine schriftliche Entscheidung treffen würde, die auch den Angehörigen mitgeteilt wird. So lässt sich das Unfassbare dann eher akzeptieren. Ein Hirntod ist immer eine plötzliche Sache, die durch einen schweren Unfall oder einen Schlaganfall ausgelöst wird und lässt daher keine Zeit mehr für spätere Eigenentscheidungen des Betroffenen. Da hilft nur immer wieder Transparenz zu schaffen, strenge Qualitätskontrollen durchzuführen und die Öffentlichkeit über Regeln, Gesetze und Abläufe zu informieren.
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