Presseinformation/Interview Neue Richtlinie zur Diagnostik des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls: „Wir haben die Diagnose noch etwas sicherer gemacht.“ Mehr als 100 Tage Praxistest sind absolviert: Bereits am 30. März genehmigte das Bundesministerium für Gesundheit die neue Richtlinie zur Diagnostik des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls. Durch die Veröffentlichung im Deutschen Ärzteblatt hat sie seit Juli 2015 Gültigkeit erlangt. Der umgangssprachliche Begriff „Hirntod“ wurde durch den medizinischwissenschaftlich präzisen Ausdruck „irreversibler Hirnfunktionsausfall“ ersetzt. Als Mitglied des Arbeitskreises des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer, der die Richtlinie überarbeitet hat, spricht Prof. Dr. med. Andreas Ferbert, 1. Vizepräsident der DGNI und Direktor der Klinik für Neurologie am Klinikum Kassel, über die Neuerungen der Richtlinie und was sich in den letzten Monaten bereits getan hat. Ein Fazit mit Ausblick. Professor Ferbert, wie wurde die neue Richtlinie aufgenommen? Prof. Ferbert: Die überarbeitete Richtlinie wurde intensiv rezipiert und diskutiert. Verschiedene Landesärztekammern, einzelne Kliniken und Fachgesellschaften bieten Weiterbildungen an. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) hat beispielsweise einen Kurs entwickelt, der erstmals während der Jahrestagung im September angeboten wurde und in das reguläre Angebot der Fortbildungsakademie der DGN aufgenommen werden soll. Gab es bereits Kritik? Prof. Ferbert: Es gab einzelne Nachfragen, wie bestimmte Formulierungen interpretiert werden müssen. Alle Einzelfälle kann eine Richtlinie nicht abdecken, hier sollte aber Abhilfe geschaffen werden. Ich könnte mir zum Beispiel eine FAQ Seite bei der Bundesärztekammer vorstellen, auf der Antworten zu Einzelfallanfragen gegeben werden. Wie lange haben Sie an der neuen Richtlinie im Beirat der Bundesärztekammer gearbeitet und was gab den konkreten Anlass dazu? Prof. Ferbert: Ungefähr alle 10 bis 15 Jahre findet eine Überarbeitung der Richtlinien statt. Die Dritte Fortschreibung der Richtlinie wurde 1997 veröffentlicht und 1998 im Rahmen des neuen Transplantationsgesetzes überarbeitet. Bei den ersten Planungen gab es keinen brisanten Grund, denn sie begannen bereits im Jahr 2011. Der Organspende-Skandal hat natürlich ein bisschen Druck gemacht, war aber nicht Grund der Überarbeitung. Welche Beteiligten waren im Arbeitskreis vertreten? Prof. Ferbert: Unter dem Vorsitz von Prof. Jörg-Christian Thonn und dem stellvertretenden Vorsitzenden Prof. Heinz Angstwurm wurden verschiedene Fachärzte und Fachgesellschaften, Juristen, Philosophen, die DSO, die zuständigen Behörden von Bund und Ländern sowie Mitglieder der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer mit einbezogen. Die Aufgabe der Kommission war: „Wie stellt man den Hirntod medizinisch eindeutig fest?“. Nicht: „Ist der Hirntod der Tod des Menschen?“ Diese Frage lässt sich wissenschaftlich schwer beweisen, muss aber als Prämisse für die Aufgabe der Kommission vorausgesetzt werden. Es fand also keine ethische Auseinandersetzung mit dem Thema statt. Warum ist es so wichtig, dass nach der neuen Regelung nun immer ein Neurologe oder ein Neurochirurg diese Feststellung durchführen müssen? Prof. Ferbert: Die Feststellung des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls erfolgt in drei Stufen: Voraussetzung ist sowohl nach der bislang gültigen als auch nach der fortgeschriebenen Richtlinie der zweifelsfreie Nachweis einer akuten schweren primären oder sekundären Hirnschädigung sowie der Ausschluss reversibler Ursachen. In einem zweiten Schritt müssen alle in den Richtlinien geforderten klinischen Ausfallsymptome nachgewiesen werden. Danach muss die Irreversibilität der klinischen Ausfallsymptome bestätigt werden. Die neurologische Untersuchung selbst ist nicht sehr schwierig, sie könnte auch von einem Internisten durchgeführt werden. Der schwierigere Teil ist die Prüfung der Voraussetzungen. Liegt zum Beispiel eine schwere Hirnschädigung vor oder besser: erklärt die diagnostizierte Erkrankung die Schwere der klinischen Hirnschädigung? Als Beispiel: Jemand hat ein Schädelhirntrauma und liegt nun in einem tiefsten Koma und es sieht aus, als müsste man nun den Hirntod diagnostizieren. Grundsätzlich kann man sagen, dass das Schädelhirntrauma die häufigste Ursache ist, die zum Hirntod führt. Ein Blick auf das Computertomogramm lässt eine Kontusion erkennen, die aber zu klein ist, um den Hirntod verursacht zu haben. Nun stellt sich die Frage, ob der Patient sich z.B. intoxikiert hat, aufgrund dieser Intoxikation gestürzt ist und sich dabei eine leichte Schädel-Hirn-Verletzung zugezogen hat. Nun ist er also nicht hirntot, sondern „nur“ intoxikiert. Die Voraussetzungen für die Hirntoddiagnostik wären also in diesem Fall nicht erfüllt und sie darf entsprechend auch nicht durchgeführt werden. Für einen derartigen Fall muss unbedingt ein Neurologe oder Neurochirurg als Facharzt hinzugezogen werden, um andere Ursachen in jedem Fall ausschließen zu können. Die zentrale Frage muss sein: Ist die Diagnose hinreichend erklärend für die Schwere der Ausfälle? Das kann nur ein Neurologe oder Neurochirurg beantworten, denn das ist sein täglicher Job. Inwiefern hat sich die Dokumentation verändert? Prof. Ferbert: Wenn Problemfälle aufgetreten sind, ging es selten um die Frage, ob der Hirntod fälschlicherweise diagnostiziert wurde. Vielmehr war es immer besonders kritisch, dass die Untersuchungen nicht in der korrekten zeitlichen Abfolge durchgeführt wurden. Die Hirntoddiagnostik muss beispielsweise inkl. Apnoetest zuerst klinisch abgeschlossen sein, bevor ein Zusatzverfahren erfolgt. Bislang war die Abfolge noch nicht so eindeutig formuliert. Auch wenn es bereits unzulässig war, bestand trotzdem ein gewisser Freiraum beispielsweise das EEG dem Apnoetest vorzuziehen. Nun ist ganz klar und unmissverständlich festgelegt, was wann erfolgen muss, um eine Hirntoddiagnostik durchführen zu können. Warum ist es so wichtig, dass diese zeitliche Abfolge eingehalten wird? Prof. Ferbert: Erst wenn der Hirnfunktionsverlust klinisch untersucht wurde, also die korrekte Reihenfolge der Untersuchungen eingehalten wurde, können Zusatzdiagnostiken Anwendung finden. Die Zusatzdiagnostiken sollen die Irreversibilität des Hirnfunktionsverlusts bestätigen. Daher dürfen sie erst nach der klinischen Untersuchung erfolgen. Die aktualisierte Richtlinie wurde bis ins Detail überarbeitet und deckt nun Unklarheiten besser ab. Revolutioniert haben wir das Verfahren damit nicht. Wir haben allerdings eine größere Anzahl an kleinen und wichtigen Veränderungen vorgenommen, die nun keinen Zweifel mehr an der korrekten Vorgehensweise lassen. Als neue Regel in der Qualitätssicherung wurde eingeführt, dass jede Klinik ein Qualitätssystem vorhalten muss. Können Sie das näher beschreiben? Prof. Ferbert: Das ist nicht weiter im Detail festgelegt. Jede Klinik muss für sich selbst ein System zur Qualitätssicherung ausarbeiten und künftig vorweisen können. Sollte eine Klinik beispielsweise selbst keine eigene Neurologie haben, sondern mit einem externen Neurologen zusammenarbeiten, dann sollte in ihrem System festgelegt sein, dass die Qualifikationen dieses externen Arztes vorab genau geprüft werden. Wie genau dieses System allerdings aussieht, hat die Kommission bewusst offen gelassen. Denn nicht alle Kliniken haben in ihrer Neurologie und Neurochirurgie die gleichen Voraussetzungen. Deshalb muss auch die Qualitätssicherung individuell auf die jeweilige Klinik zugeschnitten werden. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder die Diskussionen, ob die Hirntoddiagnostik sicher ist. Glauben Sie, dass die neue Richtlinie entscheidend zur Sicherung der Hirntoddiagnostik beitragen wird und Restzweifel ausräumen kann? Prof. Ferbert: Ich denke ja. Allerdings glaube ich auch, dass die Diagnostik früher bereits sicher war. Bei den Fällen, zu denen die Diskussionen aufkamen, ging es nicht darum, dass die Diagnose falsch war, sondern vielmehr, dass die vorgeschriebene Reihenfolge der Untersuchungen nicht eingehalten wurde. Insofern haben wir das Verfahren gesichert, damit künftig diese Zweifel nicht mehr aufkommen können. So müssen z.B. nun zwei Fachärzte, davon mindestens ein Neurologe oder Neurochirurg, mit nachweislich langjähriger Erfahrung in der Intensivmedizin die Diagnose stellen – früher gab es nicht einmal die Vorschrift, dass es überhaupt ein Facharzt sein musste. Nun haben wir auch im Detail festgehalten, welche Erfahrungen mitgebracht werden müssen. Bedeutet dies im Rückschluss, dass ein Neurologe, der diese Voraussetzungen nicht erfüllt, aber einen Hirntod diagnostiziert, nun juristisch angreifbar ist? Prof. Ferbert: Ja, eindeutig. Es war uns wichtig, diese Voraussetzungen festzuhalten. Eigentlich sind diese Eigenschaften im Facharztkatalog bereits enthalten. Nichtsdestotrotz kann ein Patient ja beispielsweise in einer Fachklinik für Muskelkrankheiten in Behandlung sein und dort den Hirntod erleiden. Dann haben dort die umgebenden Ärzte vermutlich nicht den erforderlichen Schwerpunkt für die Diagnose. Um hier eindeutige Klarheit zu schaffen, hat die Kommission entschieden, die genannten Voraussetzungen detailliert zu erfassen. Nun gibt es Kritiker, die bemängeln, dass die neue Regelung zu viel Spielraum lässt, und deshalb nachweisbare Zusatzqualifikationen der diagnostizierenden Ärzte fordern. Wie sehen Sie das? Prof. Ferbert: Die Kommission hat sich mit der Frage, ob eine Zusatzbezeichnung sinnvoll wäre, auch beschäftigt. Allerdings sind wir hierbei nicht zu einer endgültigen Entscheidung gelangt. Ich persönlich halte es nicht für erforderlich, eine Zusatzbezeichnung einzuführen. Es hat sich aber in den letzten Monaten gezeigt, dass die Bereitschaft zur freiwilligen Weiterbildung in dem Bereich vorhanden ist und Angebote gut angenommen werden. Mussten im Arbeitskreis viele Kompromisse geschlossen werden? Prof. Ferbert: Nein. Es gab viele Diskussionen, aber die Entscheidungen konnten letztlich von allen getragen werden. Ich persönlich kann mich mit dem zurechtfinden, was nun veröffentlicht wurde – auch wenn ich in einigen wenigen Punkten anderer Meinung war. Abschließend lässt sich sagen, dass Fehler jederzeit trotzdem passieren können und werden. Die Richtlinie soll aber dabei helfen, dass leichte Fahrlässigkeiten ausgeschlossen werden. Grobe Fahrlässigkeiten lassen sich aber auch durch eine solche Richtlinie nicht vermeiden. Die neue Richtlinie zur Diagnostik des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls ist eines der spannenden und aktuellen Themen der 33. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurointensiv- und Notfallmedizin (DGNI) und der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft (DSG), auch genannt ANIM 2016 Arbeitstagung NeuroIntensivMedizin. Diese findet vom 28. – 30. Januar 2016 in Berlin im Estrel Congress & Messecenter statt. Hier wird es eine wissenschaftliche Sitzung zur Vorstellung der Änderungen der neuen Richtlinie geben. Dort sollen die Fachärzte im Detail informiert und die Sinnhaftigkeit der Änderungen noch einmal zur Diskussion gestellt werden. Das gesamte Programm der ANIM 2016 ist ersichtlich auf der Homepage www.anim.de. Medienvertreter sind herzlich eingeladen die Jahrestagung im Januar in Berlin zu besuchen. Die Akkreditierung ist über die Kongresshomepage oder direkt über den Pressekontakt möglich! Pressekontakt: Conventus Congressmanagement Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Romy Held Tel.: 03641/3116280 [email protected]
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