Beitrag Merkel - Evangelische Akademie Tutzing

Prof. Dr. Reinhard Merkel
Universität Hamburg / Juristische Fakultät
Lehrstuhl für Strafrecht und Rechtsphilosophie
Hirntod und kein Ende?
Normative Grundlagen und Grenzen
einer Definition des menschlichen Todes
Evangelische Akademie Tutzing
Symposion Rothenburg 2015
§ 3 Abs. 1 Transplantationsgesetz (TPG)
§ 3 Entnahme mit Einwilligung des Spenders
(1) Die Entnahme von Organen oder Geweben ist […] nur
zulässig, wenn
1. […]
2. der Tod des Organ- oder Gewebespenders nach Regeln, die
dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft
entsprechen, festgestellt ist
3. […].
Damit wird nicht, wie viele meinen, als menschlicher Tod der
Hirntod fixiert, wiewohl dieser heute in der Medizin nahezu
weltweit als Tod des Menschen anerkannt wird. Denn die Frage
nach dem richtigen bzw. angemessenen Todesbegriff gehört
überhaupt nicht zur genuinen Zuständigkeit der Medizin.
Grundlegende begriffliche Unterscheidungen
1. Begriff des Todes bzw. Todesdefinition oder -konzeption.
Danach würde man etwa so fragen: Was ist der Tod des
Menschen? (Antwort z.B.: der Hirntod.)
2. Kriterium, das diesem Begriff genügt, das also die Bedingungen nennt, welche den Eintritt des (zuvor definierten)
Todes anzeigen. Frage danach etwa: Wann liegt dieser Tod
vor? (Antwort z.B.: mit dem irreversiblen Erlöschen
sämtlicher Hirnfunktionen.)
3. Verfahren zur Feststellung dieses Todeseintritts. Frage
hiernach etwa: Wie ist dieses Erlöschen nachzuweisen?
(Antwort z.B.: mittels verschiedener klinischer, hirnelektrischer und computertomographischer Verfahren.)
§ 3 Abs. 2 TPG
(2) Die Entnahme von Organen oder Geweben ist unzulässig,
wenn
1. […]
2. nicht vor der Entnahme bei dem Organ- oder Gewebespender
der endgültige, nicht behebbare Ausfall der Gesamtfunktion des
Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach Verfahrensregeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen
Wissenschaft entsprechen, festgestellt ist.
Hier ist nun ersichtlich vom Hirntod die Rede, nämlich von
seinen Kriterien, die anzeigen, dass er eingetreten ist. Aber auch
§ 3 Abs. 2 legt diesen Eintritt nicht als Tod des Menschen fest.
Vielmehr ordnet er an, dass vor Feststellung des Hirntods
keinesfalls Organe entnommen werden dürfen – aber nicht, ob
sie dies unmittelbar mit Hirntodeintritt dürfen, ob also dieser
wirklich als menschlicher Tod zu gelten hat.
Erneutes Aufflammen
der Kontroverse um
den Hirntod im Jahr
2008: Publikation des
„White Paper“ des
amerikanischen
„President‘s Council
on Bioethics“
Zur Frage der Todesdefinition:
Wer (oder was) genau stirbt?
Nun, trivialerweise: der Mensch. Aber was ist der Mensch?
Er ist einerseits Leib (Organismus), andererseits – im weitesten
Sinn – Subjektivität (Sensitivität) – nämlich ein Wesen, das
 erstens als ein biologisches System am Leben und
 zweitens subjektiv erlebensfähig ist, also mentale Zustände,
v.a. phänomenale Erlebnisse (Empfindungen) hat.
Eine angemessene Todesdefinition muss deshalb so konzipiert
sein, dass sie für jede dieser beiden Grundbedingungen menschlicher Existenz den Schlusspunkt bezeichnet (der somit einen
zweifachen Bezug hat). Keine Definition ist daher akzeptabel, die
den Tod als Gegenbegriff nur zu einer dieser beiden Bestimmungen definiert und die andere außer acht lässt.
Zweifache normative Grundlage für den Hirntod:
1. der mentale Tod
Daraus folgt zunächst, dass kein Mensch, bei dem auch nur ein
Minimum an Subjektivität (Empfindungsfähigkeit) vorhanden ist,
für tot erklärt werden darf.
Das ist in gewissem Sinne begrifflich trivial: Wer noch irgendetwas erleben kann, ist eben noch nicht tot.
Es ist darüber hinaus aber auch eine fundamentale ethische Forderung: Nur wer subjektiv irreversibel nichts (mehr) empfinden
kann, kann nicht mehr in ethisch bedeutsamer Weise verletzt
werden, nämlich subjektiv, also in seinem „Wohl und Weh“.
Denn für ihn höchstpersönlich gibt es kein Wohl und Weh mehr.
Damit ist eine notwendige Bedingung jeder Todesdefinition
fixiert. Hinreichend ist sie aber nicht.
Zweifache normative Grundlage für den Hirntod:
2. der organismische Tod
Vielmehr muss auch im organischen Prozess der biologischen
Desintegration des Körpers eine Zäsur gesetzt werden, vor der ein
Mensch lebt und nach der er für tot erklärt werden darf.
Das entspricht ebenfalls einer – wenngleich schwächeren – normativen Forderung. Sie ist nicht genuin moralischer Provenienz,
sondern hat eine Art anthropologischer Grundlage:
Die Definition des Todes muss mit tradierten Alltagsbegriffen
und -anschauungen von dem Ereignis „Tod“ und seiner Bedeutung zumindest verträglich sein.
Teilhirntodkonzeptionen, wie sie von manchen Bioethikern
vertreten werden – Tod schon als rein mentaler Tod, also mit
irreversiblem Erlöschen aller Bewusstseinsfunktionen (etwa im
apallischen Syndrom) – sind daher nicht akzeptabel.
Zum Todesbegriff
Zeitachse
mentalen
Sterbens
Bewusstlosigkeit
irreversibles
Koma
Hirntod
vor diesem Punkt darf der Todeszeitpunkt keinesfalls gesetzt werden!
Zeitachse
organismischen
Sterbens
Erlöschen einzelner Organfunktionen
Der organismische Teil des Todes
ist also nichts, was man beweisen
könnte; er ist Gegenstand einer
(legitimen!) Entscheidung.
Hirntod
HerzKreislauftod
?
zwischen diesen Zeitpunkten darf
der organismische Todeszeitpunkt
gewählt werden!
Zum organismischen Aspekt des Todes
Auch in dieser zweiten, rein biologischen Perspektive ist der
Hirntod die plausibelste Definition. Denn mit dem vollständigen
Tod des Gehirns ist das integrierende Steuerungszentrum (StZ)
des Gesamtorganismus irreversibel erloschen.
Hiergegen erhebt der amerikanische Neurologe Alan Shewmon
eine Reihe gewichtiger Einwände, die das „White Paper“ der
„President‘s Commission“ aufgreift und erörtert.
Hier die wichtigsten:
Shewmons Einwände gegen den Hirntod
als Tod des Organismus
- Aufrechterhaltung des Gleichgewichts diverser physiologischer Parameter durch die Funktionen der Leber und der
Nieren, des Herz-Kreislauf- und des Hormonsystems sowie
anderer Organe und Gewebe;
- Beseitigung, und Entgiftung zellulären Abfalls im Körper;
- Energiebalance mittels einer Interaktion zwischen Leber,
Hormonsystem, Muskeln und Fett;
- Steuerung der Körpertemperatur, wenn auch auf niedrigerem
als dem gewöhnlichen Niveau;
- Wundheilung, wobei die Fähigkeit hierzu im ganzen Körper
verteilt ist und durch verschiedene Subsysteme des Gesamtorganismus gewährleistet wird;
Shewmons Einwände (II)
- Kampf gegen Infektionen und Fremdkörper durch Interaktionen zwischen Immunsystem, Lymphsystem, Knochenmark
und Mikrogefäßen;
- Entwicklung einer fieberhaften Reaktion auf Infektionen;
- hormonelle Stressindikatoren im Herz-Kreislauf-System bei
Eingriffen zur Organentnahme ohne Narkose;
- Wachstum und sexuelle Reifung eines Kindes;
- erfolgreiche Schwangerschaften.
Zum organismischen Aspekt des Todes (II)
Meines Erachtens beruhen diese Einwände Shewmons – auch
wenn alle seine einzelnen Beobachtungen richtig sein mögen –
auf einem prinzipiellen Missverständnis:
Er verwechselt die Frage, ob das Gehirn das StZ des Organismus
ist, mit der ganz anderen Frage, ob es alleinige (exklusive)
condicio sine qua non des Lebens ist – oder ob einige seiner
Integrationsleistungen eine Zeit lang maschinell ersetzbar sind.
Deshalb zieht er aus dem Umstand, dass bei artifizieller Beatmung das Herz eines Hirntoten weiter schlagen und andere organische Subsysteme eine Weile autonom weiter funktionieren
können, den Schluss, das Gehirn könne nicht das integrierende
StZ des Organverbunds sein. – Dieser Schluss ist aber unrichtig.
Organismischer Aspekt (III)
Hier die Begründung:
 Ohne technische Intervention stellt der Organverbund nach
dem Hirntod sein Funktionieren ein.
 Daraus folgt noch nicht, dass das Gehirn das StZ des Organismus ist. Auch beim Aufhören des Herzschlags oder der Lungentätigkeit stellt der Organismus sein Weiterfunktionieren ein. Alle
lebenswichtigen Organe sind in ihrer spezifischen Funktion notwendige Bedingungen des gesamtorganischen Funktionierens.
Und alle – kurzzeitig eben auch das Gehirn – können in dieser
spezifischen Funktion maschinell ersetzt werden.
Organismischer Aspekt (IV)
 Dass das Gehirn dennoch das StZ ist, wissen wir aus ganz
anderen Einsichten als der, dass es außerdem (aber eben nicht
anders als Herz und Lungen) notwendige Bedingung des Gesamtorganismus‘ ist: nämlich v.a. aus der neurologischen Einsicht,
dass der Hirnstamm die sog. „autonomen“ Körperfunktionen
erhält, ihre Interaktion aufeinander abstimmt, ihr systemisches
Funktionieren also integrierend steuert.
Das Missverständnis Shewmons, mit „Steuerungszentrum“ sei
die Funktion des Gehirns als spezifische, exklusive condicio sine
qua non für den Gesamtorganismus gemeint sein (die das Herz
aber ebenfalls innehabe und deren Ausfall sich eben maschinell
für eine Weile kompensieren lasse), lässt sich an einem trivialen
Modell veranschaulichen:
Zur Veranschaulichung
Ein Automobil fährt, gesteuert von einem hochtechnischen Computer (Autopiloten), der ständig den Input Hunderter Sensoren
verarbeitet, durch die Gegend. Der Autopilot kontrolliert und integriert alle erforderlichen Funktionen der restlichen Funktionseinheiten: des Motors, der Benzineinspritzung, der Lenkung etc.
Damit ist er notwendige Bedingung der Bewegung dieses Fahrzeugs. Das sind die anderen Funktionseinheiten freilich alle auch:
Hört der Motor auf, geht der Sprit aus oder platzen die Reifen,
bleibt das Auto ebenfalls stehen.
Aber daraus folgt selbstverständlich nicht, dass Motor oder Tank
oder die Reifen zum Steuerungszentrum des Automobils gehörten
und der Autopilot dies nicht allein sein könnte. Vielmehr wissen
wir sehr genau, dass es eben dieser ist und jene es nicht sind
Veranschaulichung (II)
Fällt der Comupter, also das Steuerungszentrum, nun durch einen
Defekt irreversibel aus, dann läuft der Motor gewiss noch eine
Weile selbsttätig („autonom“); und das ganze Auto tut dies – bis
zum Aufprall auf das nächste Hindernis – ebenfalls.
Aber daraus zu folgern, also könne der Computer nicht das
integrierende StZ des Automobils gewesen sein, ist, was Philosophen ein non sequitur nennen. In der Sache ist es offensichtlich irrig.
Es ist, meine ich, genau dieser Fehler, den die Argumentation
Alan Shewmons aufweist. Dieser „Beweis“ gegen den Hirntod ist
nicht überzeugend.
Ein normativer Grund für die
Vorzugswürdigkeit der Hirntoddefinition
Wer den Hirntod als Todesbegriff für den Menschen ablehnt,
müsste eigentlich konsequenterweise die Organexplantation nach
Hirntod verwerfen – nämlich als Tötung eines Lebenden
zugunsten eines anderen – des Organempfängers.
Diese Konsequenz ziehen aber die meisten Hirntodgegner nicht.
Vielmehr akzeptieren sie den Hirntod zwar nicht als Todesdefinition, wohl aber als Organentnahmekriterium.
Das sei, so wird gesagt, legitimierbar, weil
1. der Hirntote immerhin „mental tot“, also subjektiv nicht
mehr schädigungsfähig sei, und weil
2. in dieser besonderen Ausnahmesituation die Rede vom Töten
irreführend sei; es handle sich vielmehr um eine selbstbestimmte Gestaltung des eigenen Sterbensprozesses.
Hiergegen spricht ein ganz anderer Aspekt:
§ 216 StGB – Verbot der Tötung auf Verlangen
„Ist jemand durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des
Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so ist auf Freiheitsstrafe
von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen.“
Das Recht erkennt also eine Legitimation der Selbstverfügung
über das eigene Leben mittels dazu eingeschalteter Dritter allein
auf der Grundlage der Autonomie des Sterbewilligen nicht an.
Der Grund dafür ist nicht nur, wie oft gesagt wird, ein „paternalistischer Schutz“ des Sterbewilligen vor sich selbst und etwa
übereilten Entschlüssen. Auch wenn jede Übereilung, ja sogar
jede subjektive Schädigung definitiv ausgeschlossen ist – wie bei
Hirntoten! – darf nicht auf Verlangen getötet werden.
Die normative Grundlage ist vielmehr die folgende:
Zur doppelten Schutzfunktion des § 216 StGB
§ 216 schützt nicht das höchstrangige Recht auf Leben (das kann er
schon normenlogisch nicht). Vielmehr schützt er zweierlei:
das biologische
Leben selber
(und eben auch gegen
dessen „Inhaber“)
das Tötungsverbot
als fundamentale
gesellschaftliche Norm
das bedeutet:
Übereilungsschutz!
§ 216 ist eine „weich-paternalistische“ Norm: zum Schutz
„vor sich selbst“ gegen voreilige irreversible Entscheidungen
Tabu- bzw. Normenschutz!
Nämlich: einer Grundnorm der
Gesellschaft – des Verbots,
andere aktiv zu töten – gegen
„slippery slopes“ u.ä.
20
Konsequenz
Wer den Hirntod als Tod des Menschen ablehnt, sollte konsequenterweise die Legitimität der Transplantationsmedizin in
ihrer heutigen Gestalt verneinen und deren Abschaffung fordern.
Tut er das nicht, sondern akzeptiert den Hirntod als Kriterium für
die Entnahme von Organen, so propagiert er nolens volens
etwas, das eine Fundamentalnorm der Gesellschaft antastet: das
Verbot, andere Personen allein zugunsten Dritter zu töten.
Hält er aber das tatsächlich für zulässig, so hat er weitaus bessere
Gründe, es für zulässig zu halten, Hirntote für tot zu erklären
und deshalb die postmortale Organspende weiterhin für legitim.
Ergebnis
Das Gehirn ist in einem auch ethisch profunden Sinn das Steuerungsorgan des gesamtorganischen Prozesses ist: die genuine
Quelle der Integration aller Organfunktionen und damit der
Garant ihrer autonomen Selbstorganisation.
Mit dem Erlöschen aller Gehirnfunktionen erlischt auch der
Ursprung der Selbstinitiierung des organischen Geschehens. Der
danach mögliche maschinelle Weiterbetrieb biologischer Wechselwirkungen zwischen den anderen Organen ist keine autonome
Eigenleistung des Organismus mehr. Es ist eine komplexe
Mechanik interaktiver Kausalprozesse, die vollständig extern
stimuliert und gewährleistet wird.
Einen solchen Organismus darf man mit guten ethischen Gründen für tot erklären – und damit den ganzen Menschen, dessen
mentales Leben dann ebenfalls unumkehrbar erloschen ist.
Vielen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit!