Juristisches Repetitorium Baurecht Nordrhein

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hemmer
Fall 8 (Vertiefungsfall zur selbständigen Bearbeitung)
Keine Rücksicht auf
die Gemeinde
Bauunternehmer B ist Eigentümer eines flachen Grundstücks (Gemarkung U). Das Grundstück liegt 30 m vom bebauten Ortsrand der
kreisangehörigen Gemeinde U entfernt. B will
das Grundstück für etwa ein Jahr permanent
mit Erdaushub aus anderen Baustellen aufschütten, um ein ständiges Zwischenlager zur
Verfügung zu haben. Dabei wird das Grundstück dauerhaft einen Erdhügel von ca. 3 m
Höhe aufweisen. Hinsichtlich der Fläche würde
das Maß des § 65 I Nr. 42 BauO überschritten.
Die Gemeinde U (3.200 Einwohner) erhob gegen das Vorhaben Bedenken. Zwar sei eine
Beeinträchtigung der natürlichen Eigenart der
Landschaft und eine Verunstaltung des Landschaftsbildes nicht zu befürchten. Der Flächennutzungsplan weise das Grundstück aber als
Baugebiet aus. Im Falle einer Aufschüttung des
Geländes werde auch die am Grundstück vorbeiführende Gemeindeverbindungsstraße, mit
der das Grundstück durch eine landwirtschaftliche Zufahrt verbunden ist, durch die schweren
LKW übermäßig belastet und die Straßendecke
zerstört.
Der Rat hatte in seiner Sitzung vom 20.07 für
das Gebiet, in dem das Grundstück des B liegt,
beschlossen, einen Bebauungsplan aufzustellen und eine zweigeschossige Wohnbebauung
zuzulassen. Da in absehbarer Zeit in der Gegend mit Bauanträgen nicht gerechnet wurde,
sah der Rat von dem Erlass einer Veränderungssperre vorerst ab und beschloss, beim
Kreis den Antrag auf Aussetzung der Entscheidung über das Vorhaben des B zu stellen. Der
Bürgermeister H, der Bedenken hatte, ob im
vorliegenden Fall von einer baulichen Anlage
gesprochen werden könne und deshalb der
Auffassung zuneigte, dass eine Zurückstellung
des Antrags des B auf die vom Rat vorgesehene Weise nicht möglich sei, wollte sich beim
Landrat Rat holen. Bevor er dazu kam, erkrankte er und ging anschließend auf einen längeren
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Lösung Fall 8, Seite 1 von 6
Auslandsaufenthalt, aus dem er erst Anfang
September zurückkehrte. Ein Antrag an den
Kreis, gemäß dem Beschluss des Rats, über
das Gesuch des B keine Entscheidung zu treffen, unterblieb daher.
Der örtlich zuständige Landrat erteilte mit Bescheid vom 25.07. die Baugenehmigung für die
von B geplante Maßnahme. Er hielt die vorgebrachten Bedenken der Gemeinde auch deshalb für nicht begründet, da die Aufschüttung
nur für relativ kurze Zeit erfolgen solle.
Die Gemeinde U erhob gegen den Bescheid
vom 25.07 am 15.08. beim örtlich zuständigen
Verwaltungsgericht Klage gegen den Landrat
mit dem Antrag:
1. den Bescheid des Landrats vom
25.07. aufzuheben,
2. den Beklagten zu verpflichten, die
Entscheidung über den Antrag des
B zehn Monate zurückzustellen.
Dabei wiederholte sie ihre bisherigen Einwendungen und trug zusätzlich zur weiteren Begründung vor: Die Aufstellung des Bebauungsplans hindere die Erteilung einer Baugenehmigung für das Vorhaben des B. Ohne die Zustimmung der Gemeinde hätte die Genehmigung nicht erteilt werden dürfen. Außerdem sei
der Beschluss vom 20.07. ohne Verschulden
der Gemeinde nicht vollzogen und ein entsprechender Antrag beim Kreis unterlassen worden.
Der Antrag sei aber gleichzeitig mit der Einlegung der Klage am 15.08. dem Landrat zugeleitet worden. Die Entscheidung über das Baugesuch des B müsse daher zurückgestellt werden, wie wenn der Zurückstellungsantrag
rechtzeitig beim Landrat gestellt worden wäre.
In einem Gutachten ist zu allen durch die
Klagen berührten Fragen Stellung zu nehmen.
Juni 15
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Lösung Fall 8, Seite 2 von 6
zu achten hat und dessen Wahrung im Klagewege erzwingbar ist1. Hinter dem gesetzlichen Einvernehmenserfordernis steht der Zweck, die gemeindliche Planungshoheit zu schützen.
Aus der Rüge der Verletzung des § 36 BauGB
ergibt sich die Klagebefugnis.
Lösung Fall 8
A.
Klage der Gemeinde U gegen die Baugenehmigung vom 25.7.
Die Klage hat vor dem Verwaltungsgericht Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und soweit sie
begründet ist.
I.
b) Beachtlich könnte auch die befürchtete Beschädigung der Straßen sein.
Fraglich ist, ob die Gemeinde U sich insoweit auf
ihr Eigentumsrecht aus Art. 14 I GG berufen
kann. Ob Gemeinden als juristische Personen
des öffentlichen Rechts überhaupt grundrechtsfähig sind, ist streitig.
Das Bundesverfassungsgericht2 lehnt dies für
Gemeinden in ständiger Rechtsprechung mit der
Begründung ab, der Gedanke des Abwehrrechts
gegenüber dem Staat sei auf staatliche Stellen
nicht anwendbar. Gemeinden seien insofern nur
staatliche Gliederungen. Gemeinden stehe daher
bloß ihr Selbstverwaltungsrecht aus Art. 28 II
GG; Art. 78 II LV zu.
Die Gegenmeinung3 erkennt Gemeinden hingegen auch das Grundrecht aus Art. 14 I GG zu.
Das Eigentum erfülle die gleiche Funktion wie bei
einem Privaten. Gemeinden unterschieden sich
insoweit nicht von anderen natürlichen oder juristischen Personen als Inhabern von Privateigentum. Sie können daher geltend machen, Inhalt
und Wertgehalt des Eigentums aus Art. 14 I GG
sei verletzt.
Selbst wenn man aber der letztgenannten Auffassung folgen sollte, ist vorliegend Art. 14 I GG
nicht verletzt. Die Eigentümerbefugnis, Dritte von
der Benutzung des Eigentums auszuschließen
(vgl. § 903 BGB), kommt im Straßenrecht für
Gemeinden nicht in Betracht. Die Benutzung der
Straßen richtet sich nach dem Straßen- und Wegerecht bzw. dem Straßenverkehrsrecht. Dies
sind öffentlich-rechtliche Regelungen über die
Benutzung der Straßen und schränken die eigentumsrechtliche Position der Gemeinden ein.
Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges
Vorliegend handelt es sich um eine Streitigkeit
auf dem Gebiet des öffentlichen Baurechts, so
dass der Verwaltungsrechtsweg gemäß § 40 I 1
VwGO eröffnet ist.
II.
Zulässigkeit der Klage
1.
Statthafte Klageart
Die richtige Klageart richtet sich nach dem Klagebegehren. Die Gemeinde U begehrt die Aufhebung
der Baugenehmigung des B. Dafür ist richtige Klageart die Anfechtungsklage gemäß § 42 I, 1. Alt.
VwGO, denn bei der Baugenehmigung handelt es
sich um einen Verwaltungsakt nach § 35 S. 1
VwVfG.
Anmerkung:
Denkbar wäre es hier auch, dass die Gemeinde
lediglich gegen die Ersetzung des Einvernehmens als eine Aufsichtsmaßnahme vorgeht, die
in die Planungshoheit der Gemeinde eingreift.
Vgl. dazu Frage 4 zu Fall 6 Baurecht und vgl.
dazu auch Verwaltungsrecht AT Fall 6 (S) mehrstufiger VA und Vertiefungsfrage 3 zu Fall Verwaltungsrecht AT Fall 6.
2.
Klagebefugnis, § 42 II VwGO
Die Gemeinde U ist nur klagebefugt, wenn sie
durch die erteilte Baugenehmigung möglicherweise in ihren subjektiven Abwehrrechten verletzt ist (sog. Möglichkeitstheorie). Die Klagebefugnis folgt nicht schon aus der Adressatenstellung, weil die Gemeinde U nicht Adressatin der
Baugenehmigung ist. Es müsste sich um einen
sog. VA mit Drittwirkung handeln, der neben der
begünstigenden Wirkung gegenüber B gleichzeitig nachteilige Wirkung gegenüber U entfaltet, so
dass diese in ihren Rechten verletzt sein könnte.
Fraglich ist, welche subjektiven Abwehrrechte
der Gemeinde U möglicherweise verletzt sein
können.
a) Die Gemeinde U beruft sich auf den entgegenstehenden Flächennutzungsplan und die Verweigerung ihres gemeindlichen Einvernehmens
nach § 36 I BauGB. Dazu müsste das Bauplanungsrecht in § 36 I BauGB eine geschützte
Rechtsposition für Gemeinden enthalten.
§ 36 I 1 BauGB sichert der Gemeinde ein Mitwirkungsrecht, das die Baugenehmigungsbehörde
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c) Die Gemeinde U könnte sich aber auf die übermäßige Benutzung der Straße berufen und insoweit möglicherweise in ihrem Selbstverwaltungsrecht verletzt sein.
Gem. Art. 78 I, II LV i.V.m. § 8 II GO zählt die
Schaffung und Unterhaltung von öffentlichen Einrichtungen, wozu auch solche des öffentlichen
Straßen- und Wegerechts gehören, zu den
Selbstverwaltungsaufgaben der Gemeinden.
Gem. § 47 I i.V.m. §§ 3, 9 StrWG ist U Straßenbaulastträgerin für die Gemeindeverbindungsstraße. Hieraus folgt ein gewisser Ermessens1
2
3
BVerwG NVwZ 2000, 1048.
BVerfGE 61, 103 ff m.w.N.
BayVerfGH, BayVBl. 1992, 173.
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Lösung Fall 8, Seite 3 von 6
spielraum, welche Pflichtaufgaben der Selbstverwaltung bevorzugt behandelt werden sollen.
Da die U in diesem Ermessensspielraum und
damit in ihrem gemeindlichen Selbstverwaltungsrecht verletzt sein kann, ergibt sich auch hieraus
ihre Klagebefugnis.
3.
Vorverfahren
Ein Vorverfahren nach §§ 68 ff VwGO ist gem.
§ 68 I 2 Var.1 VwGO i.V.m. § 110 I 1 JustizG
NRW unstatthaft.
4.
Form und Frist
Die §§ 74 I 2 , 81, 82 VwGO sind eingehalten.
5.
Passive Prozessführungsbefugnis
Die Klage ist zu richten gegen den Rechtsträger
gem. § 78 I Nr. 1 VwGO.
6.
Zwischenergebnis
Die Klage ist zulässig.
III.
Notwendige Beiladung des B
rechtswidrig in ihren subjektiven Rechten verletzt
wurde, § 113 I 1 VwGO.
Zu beachten ist hier, dass es sich um eine Drittanfechtungsklage handelt. Soweit der Verwaltungsakt zwar rechtswidrig ist, die Klägerin als
Dritte aber nicht in ihren drittschützenden Vorschriften verletzt ist, ist die Klage abzuweisen.
Die Dritte hat keinen allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch. Daher ist im folgenden nur zu
prüfen, ob die Genehmigung gegen drittschützende Vorschriften verstößt. Dies gilt auch dann,
wenn eine Gemeinde als Dritte gegen die Erteilung einer Baugenehmigung klagt.
Anmerkung zum Aufbau:
Im ersten Examen ist es aber auch gut vertretbar, unter Bezugnahme auf den Wortlaut von
§ 113 I 1 VwGO zunächst die Rechtswidrigkeit
komplett zu überprüfen und sodann danach zu
fragen, ob drittschützende Vorschriften verletzt
werden.4
Im zweiten Examen jedoch würde eine derartige
Lösung als falsch bewertet, denn wenn nach den
Erfolgsaussichten der Drittanfechtungsklage gefragt wird, ist allein die Verletzung der drittschützenden Vorschriften maßgeblich für den Erfolg
der Klage.
Der Bauherr B ist bei einer Anfechtungsklage
gegen
seine
Baugenehmigung
gemäß
§ 65 II VwGO notwendig beizuladen, da die Entscheidung hierüber ihm gegenüber nur einheitlich ergehen kann.
Exkurs:
Eine notwendige Beiladung erfolgt, wenn ein
Dritter an dem streitigen Rechtsverhältnis derart
beteiligt ist, dass die Entscheidung auch ihm gegenüber aus Rechtsgründen nur einheitlich ergehen kann.
Unterscheiden Sie:
Klagt der Bauherr auf Erteilung einer versagten
Baugenehmigung, ist der Nachbar nicht notwendig nach § 65 II VwGO beizuladen, da dessen
Rechtspositionen nicht notwendig ausschlaggebend für das Urteil sind. Die Klage könnte auch
wegen Normen abgelehnt werden, die nicht
nachbarschützend sind.
Klagt dagegen der Nachbar gegen eine dem
Bauherrn erteilte Baugenehmigung, ist der Bauherr nach § 65 II VwGO notwendig beizuladen,
da die Entscheidung gegenüber beiden auch aus
rechtlichen Gründen nur einheitlich ergehen
kann: Sind Rechte des Nachbarn rechtswidrig
betroffen, wird die Baugenehmigung aufgehoben
und betrifft die Rechtsposition des Bauherrn.
Sind keine Nachbarrechte betroffen, wird die
Klage abgewiesen, unabhängig davon, ob die
Baugenehmigung im Übrigen rechtswidrig ist.
IV.
1.
a)
Begründetheit
Die Klage ist begründet, soweit die Gemeinde U
durch die Erteilung der Baugenehmigung
4
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Verletzung drittschützender Vorschriften
Als drittschützende Vorschrift kommt hier
§ 36 I BauGB in Betracht, da die Baugenehmigung nur erteilt werden darf, wenn die Gemeinde
ordnungsgemäß beteiligt worden ist. Die Gemeinde muss gem. § 36 I BauGB vor Erteilung
der Genehmigung das Einvernehmen erklären.
Allerdings darf sie nur aus den Gründen des
§ 36 II 1 BauGB das Einvernehmen versagen.
Wird das Einvernehmen in rechtswidriger Weise
versagt, kann die Bauaufsichtsbehörde gem.
§ 36 II 3 BauGB das rechtswidrig versagte Einvernehmen zu ersetzen.
Vorliegend könnte die Gemeinde das Einvernehmen rechtmäßig versagt haben. Dann wäre
das Ersetzen des Einvernehmens durch den
Landrat rechtswidrig und die Gemeinde wäre in
ihren drittschützenden Rechten verletzt.
Da die Gemeinde ihr Einvernehmen gem.
§ 36 II 1 BauGB nur aus den Gründen der §§ 31,
33, 34 und 35 BauGB versagen darf, ist zu fragen, ob das Bauvorhaben insoweit bauplanungsrechtlich genehmigungsfähig ist.
Anwendbarkeit der §§ 29 ff BauGB
Zunächst müssten die §§ 29 ff BauGB überhaupt
anwendbar sein, d.h. es müsste sich bei der Aufschüttung um ein Vorhaben im Sinne des Bauplanungsrechts handeln.
vgl. dazu auch Hartmann/Sendt JuS 2012, 917, 920 m.w.N.
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Lösung Fall 8, Seite 4 von 6
Der Vorhabensbegriff der §§ 29 ff BauGB deckt
sich nicht vollständig mit dem der baulichen Anlage nach Landesrecht. Insbesondere können
landesrechtliche Fiktionen nicht in das Bundesrecht übertragen werden.
Allerdings ordnet § 29 I BauGB an, dass die
§§ 30 - 37 BauGB für Aufschüttungen größeren
Umfangs gelten. Wann ein entsprechend „größerer Umfang“ gegeben ist, lässt sich pauschal
nicht sagen. Maßgeblich ist die bauplanungsrechtliche Relevanz im Hinblick auf die Belange
des § 1 VI BauGB, die bei einer derartigen umfangreicheren Aufschüttung gegeben ist.
b)
reichs, der nur unter Beachtung des „Gebots
größtmöglicher Schonung des Außenbereichs”6
bebaut werden soll.
Vorliegend ist nichts für diese besondere Angewiesenheit auf eine Ausführung im Außenbereich
ersichtlich. Demnach ist das Vorhaben allenfalls
nach § 35 II BauGB zulässig.
cc) Beeinträchtigung öffentlicher Belange
Die Aufschüttung ist gem. § 35 II BauGB nur zulässig, wenn sie keine öffentlichen Belange des
§ 35 III BauGB beeinträchtigt.
(1) Das Vorhaben könnte die Darstellungen des
Flächennutzungsplans beeinträchtigen.
Zulässigkeit des Vorhabens gem. § 35 BauGB
aa)
Planungsrechtliche Einordnung
Da das Grundstück nicht im qualifizierten Planbereich des § 30 I BauGB und auch nicht im Innenbereich i.S.d. § 34 BauGB liegt (30 m vom
bebauten Ortsbereich entfernt), befindet es sich
im Außenbereich i.S.d. § 35 BauGB. Die Aufschüttung müsste demnach mit § 35 BauGB im
Einklang stehen.
(2)
bb) Einordnung im Rahmen des § 35 BauGB
Für die Beurteilung der Zulässigkeit ist zunächst
die Einordnung als privilegiertes (§ 35 I BauGB)
oder nichtprivilegiertes (§ 35 II BauGB) Vorhaben
entscheidend.
In Betracht kommt vorliegend zunächst
§ 35 I Nr. 3 BauGB (ortsgebundener Betrieb), da
die Rechtsprechung als Anlagen im Sinne dieser
Vorschrift z.B. Kies- und Sandgruben anerkannt
hat und Aufschüttungen das faktische Gegenteil
zur Ausbeutung von Kies- und Sand sind. Wesentlich für § 35 I Nr. 3 BauGB ist jedoch die
Ortsgebundenheit, die bei Abgrabungen regelmäßig, bei Aufschüttungen dagegen nicht vorliegt.
Zu prüfen ist des weiteren § 35 I Nr. 4 BauGB.
Danach ist ein Vorhaben dann privilegiert, wenn
es wegen seiner nachteiligen Wirkung auf die
Umgebung oder nach seiner besonderen
Zweckbestimmung nur im Außenbereich ausgeführt werden soll. Vorausgesetzt ist danach zum
einen, dass das Vorhaben eine privilegierende
Eigenart aufweist und zum anderen aufgrund
wertender Betrachtung dem Außenbereich zugewiesen ist5. Anderenfalls wäre jedes Vorhaben, dass nach seinen Auswirkungen, Anforderungen oder seiner Zweckbestimmung vorzugsweise auf den Außenbereich angewiesen ist, allein deshalb nach § 35 I Nr. 4 zulässig. Damit
würde einer mit dem Zweck des § 35 BauGB
nicht zu vereinbarenden ausufernden Außenbereichsbebauung Tür und Tor geöffnet. Daher bildet das Tatbestandsmerkmal „sollen“ ein notwendiges Korrektiv zum Schutz des Außenbe-
5
OVG Münster, BRS 18 Nr. 37, 38.
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(3)
6
Der Flächennutzungsplan weist die entsprechende
Fläche als Baugebiet aus. Auch wenn damit ein
Wohngebiet gemeint sein sollte, „widerspricht“ das
Vorhaben des B nicht den Festsetzungen des Flächennutzungsplans, denn zum einen wird auch die
künftige planmäßige Bebauung mit Ausbauarbeiten
verbunden sein, zum anderen beabsichtigt B sein
Zwischenlager nur für die Dauer eines Jahres aufrechtzuerhalten.
Eine Beeinträchtigung der Belange des Natur- und
Landschaftsschutzes ist ebensowenig ersichtlich,
wie eine Beeinträchtigung der natürlichen Eigenart
der Landschaft oder eine Verunstaltung des Ortsund Landschaftsbildes.
Das Vorhaben des B könnte aber insoweit öffentliche Belange beeinträchtigen, als zu befürchten ist,
dass die Gemeinde U unwirtschaftliche Aufwendungen für den Erhalt eines ordnungsgemäßen
Straßenzustandes tätigen müsste. Die Gemeinde
ist gem. § 47 StrWG Straßenbaulastträgerin und
hat daher gem. § 9 I 2 StrWG die Straße in einem
ordnungsgemäßen Zustand zu erhalten.
Unwirtschaftliche Aufwendungen im Sinne des
§ 35 III Nr. 4 BauGB können aber nur dann berücksichtigt werden, wenn die Aufwendungen tatsächlich einem Träger der öffentlichen Hand entstehen
und nicht erstattungsfähig sind. Gemeint sind hier
insbesondere notwendige Erschließungsmaßnahmen.
Bei Verunreinigungen und Beschädigungen infolge
einer übermäßigen Benutzung von Straßen, die wie
hier in der Straßenbaulast der Gemeinde liegen,
könnten jedoch Erstattungsansprüche nach dem
StrWG gegen den Benutzer entstehen.
Falls es sich um eine Benutzung im Rahmen des
Gemeingebrauchs handelt, kann die Gemeinde
gem. § 17 I StrWG von B die Mehrkosten für die
Verunreinigung vergütet verlangen; nach § 16 I
StrWG kann sie Vergütung für die aufwendigere
Herstellung oder den Ausbau der Straße verlangen;
falls es sich um erlaubnispflichtige Sondernutzung
handelt, ist B gem. § 18 III 1 StrWG ebenfalls zur
Kostentragung verpflichtet.
Der Gesichtspunkt der Unwirtschaftlichkeit scheidet
aus.
BVerwGE 68, 311/315.
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(4) Das Erfordernis einer straßen- und wegerechtlichen
Erlaubnis ist kein öffentlich-rechtlicher Belang, da
hierfür ein eigenes Genehmigungsverfahren erforderlich ist.
(5) Das Vorhaben könnte den ungeschriebenen Belang
der gemeindlichen Planungshoheit beeinträchtigen,
wenn bereits eine hinreichend konkretisierte Planungsabsicht der Gemeinde besteht.
Dem steht zunächst entgegen, dass der Gemeinde
insbesondere mittels der §§ 14 und 15 BauGB einerseits und des § 36 BauGB andererseits hinreichend Möglichkeiten an die Hand gegeben sind, ihre Planungsvorstellungen zu sichern.
Fraglich ist auch, ob der Beschluss, einen Bebauungsplan aufzustellen, überhaupt Berücksichtigung
finden kann.
Entscheidend für die Beurteilung der Sach- und
Rechtslage ist bei der Anfechtungsklage grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung, hier der Erlass des Widerspruchsbescheides.
Da zu diesem Zeitpunkt bereits der Beschluss gefasst war und allein auf die objektive Lage abzustellen ist, spielt die Unkenntnis der unteren Bauaufsichtsbehörde keine Rolle.
Das Vorhaben des B steht momentan im Widerspruch zu den hinreichend konkretisierten Planungsabsichten. Fraglich ist, ob auch von einer Beeinträchtigung gesprochen werden kann. Durch die
von B beantragte Aufschüttung wird die geplante
Bebauung weder erschwert noch unmöglich gemacht, da das Grundstück voll bebaubar bleibt. Hier
liegt es auch nicht so wie im Fall von Kiesgruben,
wo eine spätere Bebauung i.d.R. für längere Zeit
unmöglich ist, da selbst nach Verfüllung der Grube
der Untergrund bis zur endgültigen Verfestigung eine Bebauung nicht zulässt. Da die Aufschüttung
auch keinen längeren Zeitraum in Anspruch nehmen wird, bleibt der Widerspruch zu den hinreichend konkretisierten Planungsabsichten der Gemeinde U außer Betracht.
Damit ist das Vorhaben gem. § 35 BauGB zulässig.
c)
2.
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B.
Klage der Gemeinde U auf Zurückstellung
der Entscheidung über den Bauantrag
des B
I.
Verwaltungsrechtsweg
Der Verwaltungsrechtsweg ist gemäß § 40 I 1
VwGO gegeben, da es sich um eine Streitigkeit
auf dem Gebiet des öffentlichen Baurechts handelt.
II.
Zulässigkeit
1.
Klageart
Die Entscheidung über den Zurückstellungsantrag ist ein VA i.S.d. § 35 S. 1 VwVfG. Daher ist
für die Klage auf Zurückstellung die Verpflichtungsklage die richtige Klageart.
2.
Klagebefugnis
Die Gemeinde U müsste gemäß § 42 II VwGO
klagebefugt sein.
Bei Vorliegen der Voraussetzungen des
§ 15 BauGB hat die Gemeinde einen Anspruch
auf Zurückstellung von Baugesuchen. Dieser
Anspruch i.S. eines Forderungsrechtes ist Ausdruck der gemeindlichen Planungshoheit und soll
diese sichern.
3.
Vorverfahren
Das nach § 68 II, I VwGO erforderliche Vorverfahren im Rahmen der Verpflichtungssituation ist
nach § 68 II, I 2 Var.1 VwGO unstatthaft gem.
§ 110 I 2 JustizG NRW.
4.
Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis
Für die Klage der Gemeinde könnte es am allgemeinen Rechtsschutzbedürfnis fehlen, da die
Entscheidung des Landrats als der Baugenehmigungsbehörde dem B die Baugenehmigung bereits unter dem 25.7. erteilt hat und damit eine
Zurückstellung gar nicht mehr möglich ist; es
fehlt nun an einer Voraussetzung für den Zurückstellungsantrag.7 Der Antrag auf Zurückstellung der Entscheidung über das Baugesuch des
B wurde erst am 15.08. gestellt. Daran ändert
auch nichts, dass der Beschluss über den Antrag
bereits am 20.07. gefasst wurde, da dieser Beschluss allein noch keine Außenwirkung hat, es
vielmehr erst eines Antrags bedarf.
Beteiligung der Gemeinde gem. § 36 BauGB
Da das Bauvorhaben den Anforderungen des
§ 35 BauGB entspricht, durfte die Gemeinde ihr
Einvernehmen nicht versagen. Es sind keine die
Klägerin schützende Vorschriften verletzt.
Nach § 36 II 3 BauGB durfte das Einvernehmen
ersetzt werden.
Ergebnis
Die Gemeinde ist nicht in ihren Rechten verletzt.
Folglich ist die Klage der Gemeinde unbegründet
und abzuweisen.
Etwas anderes könnte sich aus dem Antrag der
Gemeinde auf Wiedereinsetzung ergeben, wenn
dieser dazu führen würde, dass die Gemeinde so
gestellt werden müsste, als wäre der Zurückstel-
7
RA Dr. Schlömer
Dies ändert sich erst, wenn das VG der 1. Klage stattgeben
sollte, da nun der B auf Erteilung der Baugenehmigung klagen müsste. Die beiden Klageanträge gingen aber zeitgleich
bei Gericht ein.
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lungsantrag rechtzeitig beim Kreis gestellt worden.
Es ist daher die Zulässigkeit und die Begründetheit dieses Wiedereinsetzungsantrags zu prüfen.
Dieser Antrag könnte nach § 32 VwVfG zu beurteilen sein, da es nicht um eine Wiedereinsetzung im gerichtlichen Verfahren, sondern um eine solche im Verwaltungsverfahren geht.
Das BauGB enthält jedoch spezielle Vorschriften
über das Verwaltungsverfahren, so dass insoweit
das
VwVfG
keine
Anwendung
findet,
§ 1 I 2 VwVfG. Die Wiedereinsetzung ist in
§ 210 BauGB geregelt. Danach müsste die Gemeinde eine gesetzliche oder aufgrund des
BauGB bestimmte Frist für eine Verfahrenshandlung nicht eingehalten haben.
Der Zurückstellungsantrag der Gemeinde ist jedoch nicht an eine bestimmte Frist gebunden, so
dass hier keine Fristversäumung i.S.d.
§ 210 BauGB vorliegt.
Eine Wiedereinsetzung scheidet daher aus.
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gen, dass sie das Bauvorhaben durch diese Sicherungsmittel hätte verhindern können.8
Hier hat die Gemeinde beschlossen, einen Bebauungsplan aufzustellen. Dieser Beschluss ist
auch wirksam. Zur Sicherung der Planung könnte die Gemeinde daher für den künftigen Planbereich eine Veränderungssperre beschließen.
2.
Antragserfordernis
Der gem. § 15 I BauGB erforderliche Antrag der
Gemeinde wurde gestellt.
3.
Unmöglichkeit/ Erschwerung der Planung
Die Entscheidung über den Bauantrag des B ist
gem. § 15 I BauGB dann auszusetzen, wenn zu
befürchten ist, dass die Durchführung der Planung durch das Vorhaben unmöglich gemacht
oder wesentlich erschwert werden würde.
Nach der beabsichtigten Planung ist für das Gebiet, in dem das Grundstück des B liegt, Wohnbebauung vorgesehen. Durch die von B beantragte Aufschüttung wird diese Bebauung aber
weder erschwert noch unmöglich gemacht, da
das Grundstück voll bebaubar bleibt.
Der Zurückstellungsantrag der Gemeinde ist unbegründet.
Anmerkung:
Der Antrag auf Wiedereinsetzung wäre auch unbegründet, da die Gemeinde sich das schuldhafte Unterlassen der Antragstellung durch den
Bürgermeister zurechnen lassen muss.
Da eine Zurückstellung des Bauantrags nicht
möglich ist, fehlt es für die Gemeinde am allgemeinen Rechtsschutzbedürfnis.
5.
Ergebnis
Die Klage ist unzulässig.
III.
Hilfsweise: Begründetheit des Zurückstellungsantrags der Gemeinde
1.
Vorliegen der Voraussetzungen für eine
Veränderungssperre gem. § 14 BauGB
Für die Zurückstellung des Baugesuchs ist gem.
§ 15 BauGB zunächst erforderlich, dass die Voraussetzungen für den Beschluss einer Veränderungssperre gem. § 14 BauGB vorliegen.
Exkurs:
Eine Gemeinde darf einen Antrag auf Erteilung
einer Baugenehmigung, über den positiv entschieden werden müsste, zum Anlass nehmen,
die Aufstellung eines Bebauungsplans zu beschließen, um nun eine Veränderungssperre zu
erlassen (§ 14 BauGB) oder die Zurückstellung
von Baugesuchen zu beantragen (§ 15 BauGB).
Dadurch kann sie die rechtlichen Voraussetzungen für die Zulässigkeit des Vorhabens noch
verändern. Handelt die Gemeinde nicht, so kann
sie in einem späteren Rechtsstreit nicht vortra8
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BVerwG NVwZ 1999, 523.
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