Dr. Volker Hertel Seite 1 Frnhd. Kurzgrammatik Teil Syntax S Frnhd. Elemente einer Frühneuhochdeutschen Kurzgrammatik E. Syntax * Die in der frühneuhochdeutschen Zeit sprunghaft anwachsende Bedeutung des Schriftsprache, deren zunehmende Lösung von der kleinräumig gebundenen Mündlichkeit (→ Geschäftssprachen, Druckersprachen ...), die Erschließung neuer Themenbereiche von allgemeiner Bedeutung (→ Renaissance, Bauernkrieg, Reformation ...) erforderte zunehmend eine Homogenisierung und Präzisierung des sprachlichen Ausdrucks, d.h. auch den Ausbau der syntaktischen Formen und Strukturen. In vielen, Genauigkeit des Ausdrucks verlangenden Textsorten zeigen sich folgende Tendenzen: Satzteile (Nominalgruppen, Verbkomplexe) werden umfangreicher, Wortfolgen geregelter (Topologieregelungen), Sätze länger. Diese Entwicklungen fanden ab Mitte des 17. Jh.s verstärkt Widerhall im institutionellen Sprachlernen in den sich lebhaft entwickelnden Bildungseinrichtungen. Im 15./16. Jh. tritt der Charakter des Frnhd. als Übergangsperiode noch recht deutlich zutage, die grammatischen Paradigmen zeigen sich vielgestaltig, die sich herausbildenden Trends noch ungefestigt. Das verändert sich zusehends im 17. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Orthographen und Grammatik(schreiber). I. Die Nominalgruppe Die Nominalgruppe erfährt eine kontinuierliche Erweiterung durch Neben- und Unterordnung zusätzlicher Glieder (bes. in institutionellen Texten, Fachprosa). Dies geschieht durch - - - Koordination von Substantiven: oft zweigliedrig, aber auch drei- und mehrgliedrige Formen: ist ain inßel vnd künigreich; welche wacken und kltze da gelegen sind; groß hab vnnd gt; alle sine gedenk wort und werck Koordinierte Substantive finden oftmals (z.T. demotiviert bzw. phraseologisiert) den Weg als Zwillingsformen oder Paarformeln bis ins Neuhochdeutsche: Kind und Kegel, Mann und Maus, Haus und Hof Koordination von attributiv gebrauchten Adjektiven ein starke vnd praytz volck; ain alt harloß hyetlin; der allmechtig ewig barmherzig gott Erweiterung der Nominalgruppe durch Genitivattribute der marggrafen gerichtßzwang; der stat pforten; der Meichßner hawbtstatt Entwicklungstendenzen: Genitivattribute werden zunehmend postnominal gebraucht: wollust des leibs; ain edler purger altz herkommens Ersetzung adnominaler Genitive durch Präpositionalgruppen den schemen von dem fleisch; ______________ * Die herangezogenen Beispiele stammen größtenteils aus den im Frnhd.-Seminar zugrunde gelegten Texten. Darüber hinaus fanden Verwendung: Martin Luther, Briefe (Leipzig 1983), Die Studienausgabe Martin Luther (Leipzig 1987ff.), Otto Brunfels: Contrafayt Kreüterbüch, 1539, Westheimer Dorfordnung 1479. Dr. Volker Hertel Seite 2 - - Frnhd. Kurzgrammatik Teil Syntax S Frnhd. häufige Verwendung von Partizipialattributen ain land genannt Cipern; in der stat genant Nicosia; ein edler erdpodem Prignitz gehaißen durch Attributsätze und Appositionen (bes. in Titulaturen) Mißethat die in der werlde viel zunemen und lichtfertig worden sindt; mein lieber Herr und freund Doctor Bruck, Kanzler; Besonders in institutionellen Texten zeigt sich eine Häufung bzw. Kombination der Erweiterungsmöglichkeiten von Nominalgruppen (als) selger gedechtnisse unser lieber herre und vatter der Romische konig Ruprecht, dem got gnade (von dieser Welte gescheiden was); die erwirdigen her Friederich z Colle und der vorgnant her Johann z Mencze erzbischofe uf den vorgnanten tag und uber krze darnach der hochgeborn frste her Friededrich burggraff z Nurenberg Einer strafferen Organisation der Nominalgruppe dient eine oft beobachtbare Nichtwiederholung von Artikeln und Präpositionen: alle seine schtz kostlichait vnnd klainat; (sein gemt was gericht) auff zeitlich eer / freüd vnd wollust Die sich stärker ausbildende Tendenz zur Nominalklammer führt zur Monoflexion in der Gruppe, in der in der Regel nur das einleitende Artikelwort stark dekliniert wird. Es ist damit oft der einzige morphologische Indikator in der Nominalgruppe, allerdings muß zur genauen Analyse meist das Verb herangezogen werden (Achtung: Auch die Verbvalenz kann dem Sprachwandel unterliegen.) Erst ab Mitte des 17. Jh.s werden etvtl. apokopierte Flexionsendungen restituiert (Vgl. Teil Morphologie!). dem Roemischen stuhl unterworfen ein alt harloß hyetlin zeiget II . Der Verbkomplex Auch der Verbalkomplex unterliegt der Tendenz der Erweiterung. Dies geschieht (analog zur Nominalgruppe) durch Koordination von Verben in den Prädikaten - bei Ersparung der Subjektnennung zum zweiten (und ggf. weiteren) Verb(en) führt das zu zusammengezogenen Sätzen. Doch zuvor ehe ich solichs anfange / vnd handele; damit sollich Gebrechlichkeit durch Gottis Hülfe vnd Verhangniß gerechtfertiget vnd gewandelt werde; haben wir uns bedacht, E.F.G. solchs anzuzeigen und um Rat zu suchen; daß E.F.G. selbs Meinung nicht sei gewesen, solchs zu halten oder zu fordern; Mißethat, die in der werlde viel zunemen vnd lichtfertig worden sindt; das fleysch begert und lustet widder den geyst Dr. Volker Hertel Seite 3 Frnhd. Kurzgrammatik Teil Syntax S Frnhd. Bis ca. 1650 erreicht der Ausbau des Systems der analytischen Verbformen (periphrastische Formen) im Wesentlichen den nhd. Stand. Besonders bemerkenswert erscheint die - Entwicklung von werden + Infinitiv zum grammatischen Futur; daneben wird die im Mhd. gebräuchliche Futurkennzeichnung mit sollen und wollen langsam zurückgedrängt. Diese alten Ausdrucksformen sind jedoch bis heute in den Mundarten anzutreffen. Christus ist jtzund schwach, aber er wird noch stark werden; ihr werdets sehen, er wird noch etwas ausrichten. Ein gerechter mensch wirt leben aus seinem glawbenn. yedoch dieweil sollichs mhsam ... wllen wir uff diß mal solichs vnderlassen - Das Perfekt beginnt - einsetzend im Oberdeutschen - das Präteritum zu verdrängen (sogen. Oberdeutscher Präteritumsschwund). Der Gebrauch von haben und sein unterliegt im Mitteldeutschen Schwankungen, die evtl. auf Luther zurückzuführen sind, der einige obd. Formen bevorzugt gebrauchte. Vnd ist vns wol offt begegenet / das wir .xiiij. tage / drey / vier wochen/haben ein einiges wort gesucht und gefragt/ habens dennoch zuweilen nicht funden. - Die Passivformen des Perfekts und des Plusquamperfekts werden ab dem 15. Jh. mit worden gebildet – in der Konsolidierungszeit ist auch geworden oder der Verzicht auf das Hilfsverb belegt. seind sye in soliche dicke finsternüsz gefrt word; das sie ... mit Macedonischer schiffung in diese land gefrt worden seyen Der Gebrauch der Verbformen unterlag topologischen Gebrauchsgewohnheiten, die sich mit Hilfe des Feldermodells beschreiben lassen. Einteilige (synthetische) Verbformen bilden (gewissermaßen als Sonderfall) im Aussagesatz nur einen Klammerteil, die linke Klammer: - Im Ausagesatz steht die linke Klammer (das finite Verb) an zweiter Stelle: Der Bawr bringt korn und kein gelt. Im Hiob erbeiten wir also /... - Anfangsstellung des finiten Verbs im Hauptsatz findet sich im 15./16. Jh. relativ oft: • in imperativischer Funktion: Thu auff meynen munde Nym hinweg die vngerechtigkeit Die Partikeln stehen noch in Kontaktstellung zur linken Klammer! • in konditionaler Funktion: leufft einer itzt mit den augen durch drey odder vier bletter • in Fragen: Soll ich auffhren • bei Ersparung des aus dem Kontext eindeutig erschießbaren Vorfeldes (meist Subjekt): welche buchstaben die Eselskpff ansehen/ wie die k ein new thor / Sehen aber nicht/ ... Mein gnädiger Herr, der Kurfürst, ist ... verschieden. Ist auch ohn Messen vnd Vigilien von uns, und doch fein herrlich bestattet Dr. Volker Hertel Seite 4 Frnhd. Kurzgrammatik Teil Syntax S Frnhd. • bei Inversion (d.h. Umkehrung der Satzgliedfolge) in der Hauptsatzkoordination (sogen. Inversion nach und): sie wisent uns ze himele und varent si zer helle. und wehr ein edelman mit mir auch geschossen worden, und blieb er tot. Und war derselbig ein hubscher gesell. - Die Endstellung es finiten Verbs im abhängigen Gliedsatz wird zur Regel: sie sey und bleibe welt des Teuffels namen / weil sie ja nicht anders wil. Die Verbfolge in analytischen Verbformen ist im Frnhd. noch nicht endgültig gefestigt (und auch noch nicht hinreichend erforscht). - Als Normalform gilt im Ausagesatz: li Kl.: Finitum, Mittelfeld; re Kl.: Part.II, Inf. die kreüter mssen auch z rechter zeit yngesalet sein - Im Aussagesatz begegnet bis Ende des 16. Jh.s häufig die Kontaktstellung des linken und rechten Verbalklammerteils – das reguläre Mittelfeld wird ins Nachfeld verlagert: In dieser rifier sind beschlossen die Thüring Lausitzer vnd Pomern. Ein gerechter mensch wirt leben ausz dem Sacramente. - Im Nebensatz fungiert das Einleitewort (Subjunktion, Pronomen o. ä.) als linke Klammer, der Verbalkomplex als rechte Klammer. Die Reihenfolge der Verbalglieder (fin. und infin. Teile) schwankt zunächst, die Reihenfolge Infinitum vor Finitum setzt sich aber bald durch: ... / das wir jnn vier tagen ... kaum drey zeilen kunnten fertigen Es ist gut zu pflgen, wenn der Acker gereinigt ist. Dabey wol z erachten / das wir hinfürt nit als bald z solicher erkanntnüß der ding ... koen werden. Bei mehrgliedrigen Verbindungen hat die Voranstellung der finiten Form Präferenz: ob sie doch mchten vereiniget werden - Die Reihenfolge der infiniten Formen im Nebensatz ist abhängig von der Kombination der den Konstruktionen zugrundeliegenden Klammertypen (Verbalklammer, Temporalklammer, Modalklammer etc.). Diese etablieren untereinander eine Hierarchie, die sich in der Topologie der Verben in den klammerschließenden Teilen manifestiert. (Vgl. für das Nhd.: H. Weinrich, Textgrammatik) Für das Frnhd. ist dies bisher nur unzureichend beschrieben. Beispiele bei Dominanz der Modalklammer: - im Aussagesatz: dominierendes Modalverb als linke Klammer: erstlich sollen sye gesalet werden - im Nebensatz: dominierendes Modalverb an letzter Position der rechten Klammer: ob sy jn von sollichen ziehen mchten Ich hab mich des gevlissen jm dolmetschen / das ich rein vnd klar deudsch geben mchte. Die Hilfsverben haben und sein bzw. der Formen können im Frnhd. erspart sein. Dies kann zu Schwierigkeiten bei der (Teil-)Satzdelimination führen, da kein formales Zeichen für den Abschluss eines Nebensatzes erkennbar ist: … , darinnen wir dan kein befestigung noch grund angesehen Dr. Volker Hertel Seite 5 Frnhd. Kurzgrammatik Teil Syntax S Frnhd. III. Komplexe Sätze In frnhd. Texten ist der Satz nicht immer klar abgrenzbar. Die Interpunktionszeichen, unter denen die Virgel hervorsticht, sind so undifferenziert, dass sie oft nicht imstande sind, Sätze (Ganzsätze, Teilsätze) voneinander zu trennen. Im 15. Jh. weist die Satzlänge erhebliche Schwankungen auf. Admoni hat einen kanzleisprachlichen Satz aus einer Urkunde von 1411 mit 44 Nebensätzen und 790 Wörtern beschrieben. Im 16. Jh. verliert sich diese Schwankung tendenziell, in volksnahen Texten dominieren kürzere Sätze (durchschnittlich 10 - 15 Wörter), in amtlichen Kanzleitexten oder argumentierenden Luther-Sermonen kann die durchschnittliche Satzlänge bei über 45 Wörtern liegen. Im 17. Jh. steigt die Länge der Ganzsätze wieder an (bei bestimmten Autoren zeigt sich aber auch eine weitere Verkürzung). Als Ursachen nennt man die zunehmende Loslösung der Schriftlichkeit von der Mündlichkeit, der Etablierung bestimmter Stilmuster, den barocken Schwulst. Zum Ausbau der komplexen Satzgefüge trug vor allem die Profilierung der subordinierenden Konjunktionen bei. Im Frnhd. lässt sich bereits das gesamte Inventar der auch im Nhd. verbreiteten Attribut- und Nebensätze nachweisen. Der spezifische Einsatz der Subjunktionen (und dabei ihre sich festigende Spezialisierung) trug maßgeblich zur Identifikation der inhaltlich-grammatischen Beziehungen der Teilsätze im komplexen Satz bei. Einen Überblick über die geläufigen Satzmuster gibt: H. U. Schmid, Einführung in die deutsche Sprachgeschichte, 2009, S. 202ff. In frnhd. komplexen Sätzen kann es zu unübersichtlichen Strukturen kommen, wenn Schachtelsätze verwendet werden. Da die Nebensätze ihr(e) Verb(komplexe) am Satzende platzieren, kann es zu einem Aufeinandertreffen von Verben aus verschiedenen Teilsätzen kommen, die (sozusagen rückwirkend) zugeordnet werden müssen. Im folgenden Beispielsatz begegnet darüber hinaus auch die Ersparung des Hilfsverbs in Endstellung und im koordinativ angeschlossenen zweiten Hauptsatz die Ersparung des Subjekts und des Hilfsverbs. Wir Johannes abt zu Ebrach/ Johanns Harlach/ frühmesser und alle dorfsherrn zu Westheim/ bekennen mit diesem brief gegen alle maniglich/ das uns die gemein daselbsten zu Westheimb allenthalben ein verzeichnis ihrer dorfs rechte vorbracht/ darinnen wir dan kein befestigung noch grund angesehen/ dass die gemelte anzeigung und verzeichnus unversiegelt auch ohne verwilligung der dorfsherrn und ihren vorfahren geschehen ist vormerckt haben/ und darauf an die gemeind obgemelt sämbtlich und sonderlich begehrt uns zu vergönnen/ der gemein ihres dorfsrecht halber/ eine ordnung und satzung/ dadurch man hinfürter ein beständlich urkund und behelf gehaben möchte/ zu machen. IV. Negation Die Negationsmarker ne/en verlieren im 15. Jh. ihre Bedeutung. Dafür tritt nicht verstärkt auf und setzt sich bis zum 17. Jh. durch. Im Frnhd. gibt es weiterhin die doppelte Negation; vorerst weiterhin in verstärkender Funktion. Erst im 18. Jh. heben sich doppelte Verneinungen auf.
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