Dr. Volker Hertel Seite 1 Frnhd. Kurzgrammatik Teil Morphologie S Frnhd. Elemente einer Frühneuhochdeutschen Kurzgrammatik C. Morphologie I. DAS VERB (§§ M 78ff.) 1.1 Allgemeine Entwicklungstendenzen (§§ M 78ff.) Das verbale Flexionssystem unterliegt im Frnhd. einer Reihe von Veränderungen, die letztlich auf das Wirken der Nebensilbenabschwächung und den Drang nach analoger Formenbildung zurückzuführen sind. Als wichtige Prozesse sind zu nennen: Zusammenfall der Flexionsendungen der verschiedenen Klassen mhd. sw. Verben. Als Resultat finden sich nur noch die sogen. Normalformenbildung der sw.Verben und die Formenbildung mit „Rückumlaut“ einer kleinen Gruppe sw.Verben. Schwache Formenbildung wird zur Hauptflexion deutscher Verben. Neue Verben flektieren schwach, einige starke Verben treten in die sw. Flexion über, viele starke Verben gehen unter. Die mhd. Gruppe der Präteritopräsentia gleicht sich weitgehend der sw. Flexion an. Vereinfachung des Formensystems starker Verben durch Vereinheitlichung des Stammvokals in den Präteritalformen („Präteritalausgleich“, Numerusnivellierung), was einer Tempusprofilierung der Formen zugute kommt. Angleichungen /Normalisierung der 2. P. Prät., der 1. P. Sing., 1./3. P. Prät. Vereinfachung der Flexive für die Kategorie Modus: Formenzusammenfall bei den sw. Verben, weitgehender Zusammenfall (bis auf 3. Person) bei den starken Verben. Dies bewirkte das Aufkommen der Umschreibung mit würde. Auflösung athematischer Sonderformen (gân/stân). Zunahme der Bildung analytischer Verbformen. Aufkommen einer einheitlichen Bildung des Futur I mit werden. Tendenzielle Ablösung der Präteritalbildung durch Perfektgebrauch. 1.2 Schwache Verben (§§ M 83ff.) Der Flexionstyp der schwachen Verben ist v. a. dadurch gekennzeichnet, dass sie ihre Präteritalformen mit Hilfe eines Dentalsuffixes bilden. Die schwache Flexionsweise der Verben entwickelt sich im Frnhd. zu ihrem regulären Flexionstyp. Dazu trägt bei: - die Vereinheitlichung der mhd. Flexionsgruppen der schwachen Verben: Im Mhd. kennen wir zwei Gruppen sw. Verben, die sich voneinander durch das Vorhandensein / Nichtvorhandensein eines Bindevokals (-e-) unterscheiden: lob-et-e, leb-et-e vs. teil-t-e, mal-t-e Dr. Volker Hertel Seite 2 Frnhd. Kurzgrammatik Teil Morphologie S Frnhd. Diese ursprünglich lexikalisch bzw. durch die Silbenquantität bedingte Einteilung wird zum Nhd. hin tendentiell phonologisch geregelt. Der Prozess verläuft über eine vorübergehende Vermischung der Gruppen (Konkurrenzformen) und eine zeitweilige (16.Jh.) Dominanz der -e-haltigen Verben: theileten, glaubeten, sucheten ... Die heutige klare lautliche Distributionsregel zeigt sich im Frnhd. noch nicht. - der Rückbau der Gruppe der sw. Verben mit „Rückumlaut“ (§ M 96) Die im Mhd. umfangreiche Gruppe (mehr als 220 Verben, s. Liste in Mhd. Kurzgramm.) schwacher Verben vom Typ hœren - hôrte, brennen - brante gleicht den Stammvokal (z. T. auch die Stammkonsonanz) im Präteritum bis auf wenige Ausnahmen der Infinitivform an: nhd. hören – hörte vs. brennen - brannte. Der Ausgleichsprozess vollzog sich im 15./16. Jh., ist aber schwer zu beobachten, da der Umlaut (mit Ausnahme des /e/) nur unregelmäßig bezeichnet wurde. Schwache Verben mit „Rückumlaut“ im Nhd.: brennen, kennen, nennen, rennen, senden, wenden. Senden und wenden weisen Doppelformen auf (mit semantischer Differenzierung). - Formenbildung der schwachen Verben leben Präsens Präteritum Indikativ Konjunktiv Indikativ Konjunktiv ich leb(e) leb(e) leb(e)t(e) leb(e)t(e) du leb(e)t, lebes leb(e)t leb(e)tet leb(e)tet er, sî, ez, man leb(e)t leb(e)t leb(e)te leb(e)te wir leben, lebent leben, lebent leb(e)ten leb(e)ten ir leb(e)t, lebent leb(e)t, lebent leb(e)t(e)t leb(e)t(e)t sî,siu leben, lebent leben, lebent leb(e)ten leb(e)ten Imperativ: leb(e), leb(e)t Part.I: lebend(e) Part.II: (ge)leb(e)t - Der Imperativ wird i.d.R. mit -e gebildet (sage, male). Infolge der Apokope konnte dieses -e verloren gehen. Später wurde das Imperativ-e restituiert, in den Mundarten /Umgangssprachen fehlt es bis ins Nhd. (Daraus resultieren heutige Normunsicherheiten!) 1.3 Starke Verben (§§ M 83ff., 97, 104) Der Flexionstyp der starken Verben ist v. a. dadurch gekennzeichnet, dass sie ihre Präteritalformen durch eine geregelte (qualitativ und/oder quantitativ) Veränderung des Stammvokals, d. h. mit dem Ablaut bilden: mhd.: gëben - gab - gâben - gegëben; singen - sang - sungen - gesungen Die Gruppe der starken Verben wurde seit dem Mhd. um mehr als die Hälfte auf ca. 175 in der Gegenwartssprache reduziert. Die Ursachen liegen v. a. im lexikalischen Schwund Dr. Volker Hertel Seite 3 Frnhd. Kurzgrammatik Teil Morphologie S Frnhd. (über 100) und in einem Wechsel in die schwache Flexion (ca. 80). Dieser Flexionstypwechsel ist im Frnhd. gut beobachtbar, da der st. mit dem sw. Flexionstyp konkurrieren kann: schleifen, triefen, saugen, sieden, glimmen, backen, hauen Gelegentlich begegnen solche Doppelformen im Nhd. als Lexemspaltungspodukte mit semantischer Differenzierung: bewegt - bewogen; gepflegt - gepflogen; gehängt - gehangen Die gravierendsten Veränderungen, von denen die st.Verben betroffen sind, sind - der Ausgleich im Stammvokalismus Prät. Das betrifft den Ausgleich des quantitativen bzw. qualitativen Ablauts zwischen Sg. und Pl. Präteritum in den Ablautreihen 1 bis 5 (Präteritalausgleich). Der Präteritalausgleich verläuft in den einzelnen Klassen nicht gleichzeitig: • Klassen 1 und 2: Zunächst wurden die Klassenspaltungen (Abl.r.1: Sg.Prät. ei, ê; Abl.r. 2: Sg. Prät: ou, ô) aufgehoben: 1. Sg. Prät. Mhd. Nhd. Abl.r. 1a Abl.r. 1b Abl.r. 2a Abl.r. 2b schein zêh bouc bôt schien, (ver-)zieh bog, bot Die Prät.formen wurden analog zum Part.Prät.vereinheitlicht („intraparadigmatischer Ausgleich“): mhd. Part.II: gebogen (Dehnung in off. Silbe) mhd./nhd.: gebôgen; mhd. Pl. Prät. bugen (Analogie zu Part.II zunächst frnhd. bogen dann bôgen (Sg. Prät. bôg war schon mhd. aus bouc durch Monophth. entstanden) • In der Abl.r. 3a wird der Präteritalausgleich bis zum Ende des Frnhd. nicht entschieden: Es finden sich Konkurrenzformen: mhd. finden - fant - funden - gefunden frnhd. f. - fand - fanden - gefunden vs. f. - fand - funden - gefunden. Die endgültige Entwicklung zugunsten des Prät.-/a/ richtet sich hier nicht nach dem Part.Prät., sondern ist als interparadigmatische Analogie zu interpretieren, die sich am Muster der Abl.reihen 4 (nemen, nam, nâmen, genomen) und 5 (geben, gap, gaben, gegeben) orientierte. Diese Entwicklung wurde mitbestimmt vom Wirken der Grammatiker des 17./18. Jahrhunderts. • Einige Verben der Abl.r. 5 und 6 nehmen den Präteritalvokal /o/ an; z.T. dann auch Übertritt zu den sw.V. vgl.: weben, wegen (bewegen), pflegen; heben, schwören. Dr. Volker Hertel Seite 4 Frnhd. Kurzgrammatik Teil Morphologie S Frnhd. - die Aufgabe der besonderen Formenbildung bei der 2.Ps.Prät. Die auf das Westgermanische zurückgehende besondere Form, die sich später durch einen Umlaut des Stammvokals zeigte, wird infolge von Ausgleichsbestrebungen (Analogie) an das Paradigma angepasst. Abl.r. I Sg. Prät. Ind.: Mhd. 1./3.Ps. Nhd. 2.Ps. 1./2./3.Ps. greif griffgrif(f)e Gleichzeitig wird die Personalendung (jetzt auch im Prät. -(e)st) vereinheitlicht: greifen du griffest werfen - mhd. ich warf, du würfe, frnhd. ich warf, du warfst, wir wurfen wir warfen - der Abbau des Grammatischen Wechsels Seit dem Ahd. beobachtbar, findet er im Frnhd. auf verschiedenen Wegen seine Fortsetzung: a. der stammschließende Konsonant des Pl.Prät. wird auf den Sing. Prät. übertragen: ziehen - zoh - zugen ziehen - zog - zogen b. der stammschließende Konsonant des Pl. Prät wird auf den Sing. Prät und die Präsensformen übertragen: verliesen - verlôs - verlurn verlieren - verlor - verloren c. der stammschließende Konsonant der Präsensformen wird auf die Präteritalformen übertragen: mîden - meit - mitten meiden - mied - gemieden - die Vereinheitlichung des Stammvokals in den Präsensformen Es handelt sich hierbei nicht um den Ablaut, sondern um eine Umlauterscheinung: (Wechsel ei : geben, gibe …). Die Angleichung an die Pluralvokale erfolgt entweder total (Abl.r. 2) oder teilweise (1.P.Sg. Präs. in Abl.r. 4, 5) und lässt sich wiederum als Ausdruck interparadigmatischer Analogie, diesmal zu den Verben der Abl.r. 6 und 7 erklären. mhd. schir(e), schir(e)st, schir(e)t, schrn, schr(e)t, schrn nhd.: schere, scherst, schert, scheren, schert, scheren mhd. geben - gibe - gibest - gibet frnhd.: geb(e), gib(e)s, gib(e)t Die 2./3. P. Sg. der 6. und 7. Ablautreihe (bei umlautfähigem Stammvokal) wird mit Umlautung des Inf.vokals gebildet: ( fallen, er fell(e)t; graben, er greb(e)t; rufen, er rf(e)t, nhd. ohne Umlaut), toen, er stt … Dr. Volker Hertel Seite 5 Frnhd. Kurzgrammatik Teil Morphologie S Frnhd. - Formenbildung der starken Verben Präsens helfen Präteritum Indikativ Konjunktiv Indikativ Konjunktiv ich helf(e) helf(e) half(e) hlf(e) du hilf(e)t, hilfes hilf(e)t half(e)st, halfe hlf(e)st er, sî, ez, man hilf(e)t hilf(e)t half(e) hlf(e) wir helfen, helfent helfen, helfent hulfen, halfen hlfen ir helf(e), helfent helf(e), helfent hulf(e)t, half(e)t hlf(e)t sî,siu helfen, helfent helfen, helfent Imperativ: hilf / helf(e); helf(e)t Part.I: helfende - Die frühneuhochdeutschen Ablautreihen hulfen, halfen hlfen Part.II: geholfen (§§ M 107ff.) Die nachfolgende Tabelle orientiert sich an der klassischen Ablautreihendarstellung. Die Frnhd. Grammatik stellt eine Einteilung vor, die den neuen Gegebenheiten (Prät.ausgleich, Formennormalisierung etc.) Rechnung trägt. Vgl. §§ M108-133) Ablaute I. a) b) II. a) b) III. a) b) c.) IV.a.) b.) V. a.) b.) VI.a.) b.) VII. Infinitiv greifen treiben 1./3. Pl. (Sg.) Prät. Ind. griffen trieben Part.Prät. gegriffen getrieben halfen / hulfen gechwummen geholfen brechen stehlen brach(en) stahl(en) gebrochen gestohlen meen geben ma(en) gab(en) gemeen gegeben wachen graben wuch(en) grub(en) gewachen gegraben fallen raten stoen rufen heizzen laufen fiel(en) riet(en) gefallen /ai/ - /i/ - /ai/ /ai/ - /i:/ - /i:/ gieen go(en) gegoen /i:/ - /o/ - /o/ fliegen flog(en) / flug(en) geflogen /i:/ - /o:/ - /o:/ finden fand(en) / fund(en) gefunden /i/- /a/ - /u/ /i/ - /a/~/u/- /o/~/u/ chwimmen chwamm(en)/ chwumm(en) gechwommen/ /e/ - /a/~/u/ - /o/ /e/ - /a:/ - /o/ /e:/ - /a:/ - /o:/ /e/ - /a:/ - /e/ /e:/ - /a:/ - /e:/ /a/ - /u:/ - /a/ /a:/ - /u:/ - /a:/ /a/ - /i:/ - /a/ /a:/ - /i:/ - /a:/ /o:/ - /i:/ - /o:/ /u:/ - /i:/ - /u:/ /ai/ - /i:/ - /ai/ /au/ - /i:/ - /au/ helfen Dr. Volker Hertel Seite 6 1.4 Frnhd. Kurzgrammatik Teil Morphologie S Frnhd. Besondere Verbgruppen (§§ M 134ff., 151) Zu den „besonderen“ (d.h. nicht „starken“ oder „schwachen“) Verben gehören die Präteritopräsentien (wissen, dürfen, sollen usw.), das Verb wollen, Verben mit athematischen oder kontrahierten Formenen (sîn, tuon ; hân ‘haben’ und lân ‘lassen’). 1.4.1 Präteritopräsentia (§§ M 135 - 145) Die wegen ihrer semantischen Funktion (modalitätsstiftend) hoch frequente Verbgruppe* weist noch im Mhd. regelmäßig Eigenschaften starker und schwacher Verben auf: Ablaut im Präsens und Dentalsuffix im Präteritum. Im Laufe des Frnhd. unterliegt der Bestand der Präteritopräsentia einer Reduzierung: Die Verben turren und erbunnen werden kaum noch gebraucht, sie sind im Nhd. untergegangen. Auch die Formenvielfalt wird entsprechend der allgemeinen Entwicklungstendenzen reduziert: Die meisten Formen der Präteritopräsentia werden den schwachen Verben angeglichen, wobei in der Übergangszeit konkurrierende Formen belegt sind: Es wirkt die Analogie beim Ausgleich der 2.P.Sg.Präs (/t/ /st/), durchgängig ab 17. Jh. bei der Bildung eines schwachen Part. II beim Ausgleich der Stammvokale. Bei regionalen Varianten setzte sich (v.a. unter Luthers Einfluss) i. d. R. die omd. Variante durch: z.B.: Prät. /u/ bei wizzen, /o/ bzw. /ö/ vor Nasal bei mhd. gunnen gönnen, so auch können. Den Variantenreichtum zeigt die folgende Übersicht (nach W. Schmidt) Klasse 1./3.P.Präs.Ind.Pl. (= Inf.) 1.P.Präs.Ind.Sg. 1./3.P.Prät. Ind.Sg. I. wissen wei wisse/ wiste wesse/weste II. taugen, tugen, tügen gonnen, gönnen, gunnen, günnen können, kunnen, künnen darfen, dörfen, dürfen törren, türren sollen, sull(e)n taug taugte, tohte, tuchte, tüchte gonnet, gönnete, gunnte, gnnete konde, konnte, kunde, kunte dorfte, durfte V. mogen, mögen, mugen, mügen VI. müssen III. IV. gan kan darf Prät. Konj. wiste, weste, wüste töchte, tüchte gönte wissen, kennen könde, künde dörfte, dürfte können, (geist.) verstehen bedürfen, brauchen wagen torste, thurste törste solde/scholde, sulde solde, sölde mag du maht mochte, mchte, muchte, mchte möchte, müchte muß moste, must(e) müste tar sa/schal, sol/ scholl Bedeutung taugen gönnen schuldig sein, müssen; werden; nützen können, (körperlich) vermögen müssen __________ * Es ist darauf hinzuweisen, dass Präteritopräsentia und Modalverben nicht gleichzusetzen sind. Es gibt mit wissen ein Vollverb, dagegen gehört das Modalverb wollen nicht zu den Prät.-Präs. Dr. Volker Hertel Seite 7 Frnhd. Kurzgrammatik Teil Morphologie S Frnhd. 1.4.2. Athematische Verben (Wurzelverben) - Mhd. tuon: Das athematische Verb tuon bildet im Präsens Formen in Analogie zu den st. und sw. Verben aus. Während des Frnhd. werden die reduplizierenden Formen des Präteritums getilgt. Daneben treten lautgesetzliche Veränderungen (Monophthongierung) ein. Präsens Präteritum Indikativ Konjunktiv I Indikativ Konjunktiv II ich tun tue tät(e), tt täte du tust tust tätest, ttest tätest er, sî, ez, man tut tue täte/tt täte wir tun tun tten täten ir tut tue ttet tätet sî,siu tun(t) tun tten täten - Mhd. sîn: Neben den erwartbaren lautgesetzlichen Veränderungen (Diphthongierung) ist ein Rückgang des Gebrauchs der aus der *bhu-Wurzel abgeleiteten Präsensformen (mhd. birn, birt zugunsten der s-Formen sind, seid festzustellen. Das Präteritum wird weiterhin vom starken Verb wesen gebildet (dessen Inf. wie auch die Präsensformen außer Gebrauch kommen). Präsens Indikativ Konjunktiv I ich bin sei du bist seist er, sî, ez, man ist sei wir sein/sind sei(e)n ir seid sei(e)t sî,siu sind sei(e)n - Die Wurzelpräsentien mhd. gân/gên und stân/stên bilden zweisilbige Verben in Analogie zu sehen. Achtung: Beide Verben können nicht in die Ablautreihen eingeordnet werden! 1.4.3 Kontrahierte Verben Die kontrahierten Verben mhd. hân, lân, vân, slân bilden ihr Paradigma größtenteils unter Rückgriff auf die vollen Formen. Bei hân bildet sich ein Mischparadigma aus vollen und kontrahierten Formen heraus: habe, haben gegen hast, hat. Vgl. den nhd. Standard. Dr. Volker Hertel Seite 8 Frnhd. Kurzgrammatik Teil Morphologie S Frnhd. 1.4.4 Mhd. wellen/wollen Das „optative“ Verb wellen bildet besondere Formen. Historisch gesehen hat es hier eine „Modusverschiebung“ gegeben: Schon im Germanischen ist der Konjunktiv des Verbs (aufgrund seiner Semantik) als Indikativ verwendet worden. Eine Umstrukturierung des ganzen Paradigmas in Analogie zu den anderen Verben ist seit dem Ahd. nachweisbar. Vorbild waren vor allem soln (solt - wilt, sol - will) und welen (‚wählen’), nach dem Pluralund Prät.-Formen gebildet wurden. Präsens Indikativ ahd. Konjunktiv I mhd. frnhd. ahd. mhd. frnhd. ich willu wille will welle welle welle (wo-) du wili wile / wilt wilt wellês wellest wellest (wo-) er sî, ez, man wili wile will welle welle welle (wo-) wir wellemês wellen wellen (wo-) wellên wellen wellen (wo-) ir wellet wellet welt (wo-) wellêt wellet wellet (wo-) sî,siu wellent wellent wellent (wo-) wellên wellen wellen (wo-) Dr. Volker Hertel Seite 9 Frnhd. Kurzgrammatik Teil Morphologie S Frnhd. II. DAS SUBSTANTIV (§§ M 2-30) 2.1 Allgemeine Tendenzen (§ M 2) - Infolge der Vokalabschwächung in den Nebensilben trat schon im Mhd. ein Uniformierungsprozess der Wortausgänge ein, dem zunächst die Themavokale (bzw. der Themakonsonat) zum Opfer fielen, was zu einer Aufhebung der strukturellen idg. Dreigliedrigkeit der Substantive führte. Schon im Ahd. wurden die Wortausgänge, die aus der Verschmelzung von Thema und Endung erwachsen waren, als Flexionsendung begriffen. Es trat ein allgemeiner Abbau der Flexivendungen ein (mhd. 16 → nhd. 9) Eine Einteilung der Deklinationen in vokalische und konsonantische scheint daher für das Frnhd. nicht mehr angemessen. - Die Umgestaltung der älteren Strukturen verlief (auch aufgrund landschaftstypischer Lautveränderungsprozesse) regional differenziert. Die nachfolgenden Ausführungen sind dementsprechend verallgemeinert bzw. unscharf. - Die regionalen Spezifika fanden ihren Niederschlag in den Schreibdialekten. Mit zunehmender Stärkung einer nationalen Schriftsprache überlagerten sich diese Eigenheiten. Die Schriftsprache übernahm viele neue Elemente, z.B. die der Pluralbildung, drängte gleichzeitig aber lautliche Entwicklungen wieder zurück (etwa Apokope), die ihrerseits erst zu den regionalen morphologischen Entwicklungen geführt hatten. Das Ergebnis war eine außerordentliche Variantenbreite, eine auf den ersten Blick verwirrende Paradigmenvielfalt, aber auch Redundanz der morphologischen Marker (‚Mehrfachexponenz’), ein Nebeneinander morphologischer Formen (lande - länder). - Grundlegende Tendenzen der Entwicklung der Substantivdeklination sind: weitere Nivellierung der Kasuskennzeichnung schärfere Profilierung der Numeruskennzeichnung Die Nivellierung der Kasuskennzeichnung der frnhd. Substantive wird durch die Kasuskennzeichnung der Artikelwörter „kompensiert“. (→ Ausbau der analytischen Kasusmarkierung in der Nominalgruppe!) - Der Umbau der althergebrachten st. und sw. Deklinationstypen bringt im Frnhd. Ansätze einer gemischten Deklination (st. und sw. Formmerkmale) hervor. Insgesamt herrscht Übergangscharakter, die in der Frnhd. Gramm. angeführten 14 Flexionsparadigmen sprechen nicht für eine grundlegende Vereinfachung des Systems. 2.2 Nivellierung der Kasuskennzeichnung 2.2.1 Die Kasus im Singular • alte i-Deklination, z.B. kraft mhd. Sg. Nom. kraft frnhd. kraft Gen. krefte kraft(e) Dat. krefte kraft(e) Akk. kraft kraft Die e-Apokope löscht in vielen Sprachlandschaften die Gen.- und Dativ-Endung. Der Umlaut im Gen. und Dativ wird als Kasuskennzeichen aufgegeben. Da der Umlaut aber durchgängig im Plural bestehen bleibt, fungiert er nun als eindeutiger Pluralmarker. Dr. Volker Hertel Seite 10 Frnhd. Kurzgrammatik Teil Morphologie S Frnhd. • alte schwache Deklination Die alte sw. Deklination (ehem. n-Stämme) löst sich im Verlauf des Frnhd. auf. Die ehemals zugehörigen Lexeme (z.B. mensche, fürste, brunne, ouge, hrze, kirche, sunne, zunge…) schließen sich anderen Flexionsgruppen an: Alle ehem. sw. Feminina schließen sich den ehem. ô-Stämmen (z.B. klage) an: mhd. Sg. Nom. zunge frnhd. zungen zunge Gen. zungen zungen zunge Dat. zungen zungen zunge Akk. zungen zungen zunge Im Frnhd. kommt es bei diesen Wörtern vorübergehend zu einer Doppelung der Formen: Entweder das (e)n-Flexiv der obliquen Kasus wird auch auf den Nom.Sg. übertragen (und hebt damit die Numerusunterscheidung zum Plural auf) oder es gibt eine Tilgung der n-Flexive im Singularparadigma. Diese Form hat sich schließlich durchgesetzt, weil so eine Numerusopposition gestärkt wurde und zweitens die st. Fem. schon im Pl. mit den sw. Fem. identische Formen aufwiesen: Beide Flexionsklassen konnten zusammengeführt werden. Die alten schwachen Maskulina verhalten sich unterschiedlich: • Übernahme der st. Deklinationsmerkmale: (Tilgung der sw. -(e)n-Flexive, Gen.Sg. erhält -(e)s-Flexiv) (z.B. Storch, Hahn) mhd. (sw.) Sg. Nom. storche frnhd. (st.) storch Gen. storchen storches Dat. storchen storche Akk. storchen storch • andere ehem. sw. Mask. übernehmen (wie urspr. auch die sw. Fem.) in den Nom.Sg. analog zu den obliquen Kasus ein -(e)n und im Gen. ein -s-Flexiv. Damit wird allerdings die Numerusunterscheidung beeinträchtigt (Sg./Pl.: Brunnen ) mhd. Sg. Pl. Nom. brunne frnhd. brunnen Gen. brunnen brunnens Dat. brunnen brunnen Akk. brunnen brunnen Nom. brunnen brunnen Beeinträchtigung der Numerusunterscheidung! Dr. Volker Hertel Seite 11 Frnhd. Kurzgrammatik Teil Morphologie S Frnhd. • wiederum andere ehemals sw. Mask. verhalten sich wie der Typ brunnen, bekommen aber im Plural einen Umlaut und entsprechen damit der typischen nhd. st. Deklination. mhd. (sw.) Sg. Pl. Nom. boge Wechsel zur st. Deklination: -s im Gen. Sg. Umlaut im Plural frnhd. (st.) bogen Gen. bogen bogens Dat. bogen bogen Akk. bogen bogen Nom. bogen bögen Nicht alle Substantive der letztgenannten Gruppen haben bis zum Nhd. in ihre Grundform das -n fest übernommen. Noch in der Gegenwart gibt es konkurrierende Formen: Name/Namen, Same/Samen, Buchstabe/Buchstaben, Friede/Frieden … Die wenigen Neutra verteilen sich auf verschiedene Muster. 2.2.2 Die Kasus im Plural Die verschiedenen Pluralmuster, die sich bis zum Ende des Mhd. herausgebildet hatten, werden zum Nhd. hin weitgehend vereinheitlicht. Maskulina: weitgehend einheitlich; Pl.-Paradigma wird auch von Fem. und Neutra genutzt. Plural Mask. Nom. -e tage Gen. -e tage Dat. -(e)n tagen Akk. e tageØ Feminina: Es sind zwei Muster für die Pl.-Kasusflexion belegt: Plural Fem. 1 finsternise finsternise finsternisen finsternise wie Mask. Pl. 2 -e -e -(e)n -e Nominativ Genetiv Dativ Akkusativ sache -Ø sachen -(e)n sachen -(e)n sache -Ø an ehem. o-Stämmen orientiert Dr. Volker Hertel Seite 12 Frnhd. Kurzgrammatik Teil Morphologie S Frnhd. Neutra: Es sind zwei Muster für die Pl.-Kasusflexion belegt: Bsp. flo, lager Plural Neutra 1 flösse -e flösse -e flössen -(e)n flösse -e Umlaut des Stammes wie Mask. Pl. 2 leger -Ø legere -e leger(e)n -(e)n leger -Ø Umlaut des Stammes an ehem. a, iz-/-azStämmen orientiert Nominativ Genetiv Dativ Akkusativ Umlaut ist Plural-Marker! Das Gen.-Flexiv -e wird oft apokopiert, so dass dieses Muster noch im Frnhd. im „Normalmuster“ (Mask.Pl.) aufgeht. 2.3 Die Profilierung der Numeruskennzeichnung Im Frnhd. wird die Numerusprofilierung durch deutliche Pluralformen geschärft. Es kommen keine neuen Flexionsmorpheme auf, sondern die in einzelnen Reihen „erfolgreichen“ Marker werden verstärkt genutzt. Die einzelnen Prozesse verlaufen weder territorial noch zeitlich gleichmäßig, es ist mit einem Übergangsfeld zu rechnen. (Vgl. dazu §§ M3ff., bes. die Anm.) Der Numerusunterschied wurde im Mhd. meistenteils und gewöhnlich ausreichend durch den Plural-Marker -e markiert. Mit zunehmender Wirksamkeit der Nebensilbenabschwächung wird der Marker immer unwirksamer, im Bayern schon Mitte des 14. Jahrhunderts. Das umgestaltete System nutzt jetzt insbesondere die Pl.-Marker -er und/oder die Umlautung des Stammvokals. 2.3.1 Maskulina Plural-Flexiv -e Plural-Flexiv -er Plural-Umlaut Plural-Flexiv (e)n Das mhd. Pluralflexiv -e wird im Frnhd. (bes. im Obd., nicht so stark im Md.) der apokopiert. Ab 2. Hälfte des 16. Jh. wird das -e zuerst im md. Sprachgebiet, später und nicht konsequent auch im Obd. restituiert. Ausstrahlend von den Neutra, in denen -er als Pluralkennzeichen etabliert war, wird es seit dem 13. Jh. auch bei Mask., deren Plural ursprünglich neutral war, gebraucht. Wörter der alten a-Stämme mit umlautfähigem Stammvokal, deren Pl.Kennzeichnung unter der e-Apokope „gelitten“ hatte, setzen nach dem Muster der ehemaligen iStämme den Umlaut als Plural-Marker ein. z.B.: nagel mhd. Pl. Nom.: nagele → frnhd. nägel Dieser Vorgang wird nicht konsequent durchgeführt, vgl. nhd. Nägel vs. Tage. Das Flexiv wird von vielen Maskulina aufgegeben. Einige (held, hirte, rabe), wechseln aber in diese Gruppe, einige bilden den Gen. Sg. auf -(e)s (dorn, zins, mast, ...) z.B.: mensch menscher heute noch in der Mda. gebräuchlich. Zum Nhd. hin wird der -e-Pl. bzw. der -(e)n-Pl. zumeist restituiert. Dr. Volker Hertel Seite 13 Frnhd. Kurzgrammatik Teil Morphologie S Frnhd. 2.3.2 Feminina Plural-Flexiv -(e)n -(e)n setzt sich im gesamten Pluralparadigma der Fem. durch. Unterstützend wirkten hier die -(e)n-Kasusflexive für den Gen. und Dat. Pl. der ehem. ô-Stämme, und die -(e)-n-Pluralbildung der ehem. n-Stämme (sw. Fl.) zunge, Pl. zungen sprache, Pl. sprachen Plural-Flexiv -e Plural-Flexiv -e mit Plural -Umlaut Umlaut des Stammvokals Diese Muster werden selten gebraucht. nur bei -nis- und -salDerivaten belegt finsternis, Pl. finsternisse nur bei mutter mütter und tochter töchter stat - stede 2.3.3 Neutra Plural-Flexiv -e Die ehemals ohne Pluralmarker ausgestatteten a-Stämme bildeten analog zu den mask. aStämmen einen e-Plural. Dieser wurde im Zuge der e-Apokope vorübergehend getilgt, aber im 17. Jh. bis auf die obd. Gebiete wieder restituiert. mhd. wort, Nom.Pl. wort frnhd. wort, worte Plural-Flexiv -er Ursprünglich wurde der -er-Plural nur bei neutr. iz/az-Stämmen gebraucht, wird aber im Frnhd. auch zur Pluralkennzeichnung der neutr. a-Stämme eingesetzt, vgl. wörter. Die Konkurrenz der -e-Plurale zum neuen -er-Plural wird bis zum 17. Jh. zumeist zugunsten der -er-Plurale entschieden. Bis heute haben sich einige Konkurrenzpaare erhalten, meist infolge einer semantischen Differenzierung: lande/länder, worte/wörter ... z.B.: mhd. wort, Nom.Pl. wort frnhd. wörter Plural-Umlaut In der Regel wird der Umlaut des Stammvokals in Kombination mit dem -er-Flexiv gebraucht. land - länder, lamb - lember, haus - häuser/heuser 2.3.4 Übersicht: Frnhd. Plural-Flexive Mask. Fem. Neutra -e -(e)n -er Umlaut • (•) • • • • • (•) • -er + Umlaut -e + Umlaut • • Dr. Volker Hertel Seite 14 2.4 Frnhd. Kurzgrammatik Teil Morphologie S Frnhd. Zusammenfassende Paradigmenübersicht Substantive Schwach sw. Maskulina Pluralbildung Sg. Nom. Gen. Dat. Akk. Pl. Nom. Gen. Dat. Akk. -en has(e) hasen hasen hasen hasen hasen hasen hasen sw. Neutra sw. Feminina hertz(e) hertzen / hertzens hertzen hertz(e) hertzen hertzen hertzen hertzen kirch(e) kirchen kirchen kirchen / kirch(e) kirchen kirchen kirchen kirchen Stark Pluralbildung Sg. Nom. Gen. Dat. Akk. Pl. Nom. Gen. Dat. Akk. starke Maskulina -(e) + Umlaut -er / -(e) rat geist rat(e)s geist(e)s rat(e) geist(e) rat geist geister / geist(e) rt(e) geister / geist(e) rt(e) geistern / geisten rten geister / geist(e) rt(e) -(e) tag tag(e)s tag(e) tag tag(e) tag(e) tagen tag(e) Pluralbildung Sg. Nom. Gen. Dat. Akk. Pl. Nom. Gen. Dat. Akk. -(e) brot brot(e)s brot(e) brot brot(e) brot(e) broten brot(e) Pluralbildung Sg. Nom. Gen. Dat. Akk. Pl. Nom. Gen. Dat. Akk. starke Neutra -er / -(e) bild bild(e)s bild(e) bild bilder / bild(e) bilder / bild(e) bildern / bilden bilder / bild(e) -er / (e) + Umlaut got got(e)s got(e) got gtter /gtt(e) gtter /gtt(e) gttern /gtten gtter /gtt(e) -er / (e) + Umlaut haubt haubt(e)s haubt(e) haubt heubter / heubt(e) heubter / heubt(e) heubtern / heubten heubter / heubt(e) starke Feminina -(e) / -en -(e) / -en + Umlaut farb(e) frucht farb(e) frucht farb(e) frucht farb(e) frucht farb(e) / farben frcht(e) / frchten farben / farb(e) frcht(e) / frchten farben frchten farb(e) / farben frcht(e) / frchten Dr. Volker Hertel Seite 15 Frnhd. Kurzgrammatik Teil Morphologie III. DAS ADJEKTIV S Frnhd. (§§ M 31 -36) Adjektive begegnen wie im Nhd. attributiv mit Substantiven, prädikativ als Teil von Verbalgruppen und adverbial als nähere Bestimmung von anderen Wortarten, insbesondere von Verben und anderen Adjektiven Der Formenbestand der frnhd. Adjektive entspricht schon weitgehend dem nhd. Stand. Alle Adjektive können stark (Pronominalflexive) und schwach dekliniert werden. Im Sg. Nom. (bei Neutra auch im Sg. Akk.) werden sie auch unflektiert gebraucht. Nullflexion begegnet im Frnhd. auch bei attributiv gebrauchten Adjektiven. Verteilung der Deklinationstypen: vor dem Adj. steht kein Artikel oder stark Pronomen Adj. folgt einem Artikel oder Pronomen schwach präd. gebrauchtes Adj. Ø-Flexion attr. nachgestelltes Adj. (wird seltener!) guter man, gut(e)s kind einem guten man, dem guten man Das kind ist gut. ein brunnen tief Während die Pluralparadigmen aller Genera völlig identisch sind, werden im Singular die drei Genera unterschieden. Singular Plural Maskulina st Nom. guter Gen. gut(e)s / -en Dat. gutem Akk. guten Nom. Gen. Dat. Akk. sw gut(e) guten guten guten Neutra st gut(e)s gut(e)s /-en gutem gut(e)s Mask./Neutr./Fem. stark gut(e) guter guten gut(e) sw gut(e) guten guten guten Feminina st sw gut(e) gut(e) guter guten guter guten gut(e) guten /-e Mask./Neutr./Fem. schwach guten guten guten guten - Komparation Die meisten Adjektive können (abhängig von ihrer Bedeutung) gesteigert werden. Verwendung finden -er für den Komparativ und -est (als Variante -ist) für den Superlativ. Der Umlaut des Stammvokals in den Steigerungsstufen wird im Frnhd. auch bei solchen Adjektiven gebraucht, wo dies im Nhd, nicht mehr möglich ist: hold - hölder; vgl. auch nhd. ugspr.: der Öberste (Luther: der berste Frst) Einige Adjektive bilden ihre Komparationsstufen durch Suppletive: gut, beer, bet; gros, mehrer
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