Montag 18.1.2016

Mathematik für Ingenieure III, WS 2015/2016
Montag 18.1
$Id: diffgl.tex,v 1.12 2016/01/18 13:59:18 hk Exp $
§7
Gewöhnliche Differentialgleichungen
7.1
Einige spezielle Differentialgleichungen
Wir beschäftigen uns gerade mit expliziten Lösungsverfahren für einige spezielle Typen
gewöhnlicher Differentialgleichungen. Wir hatten gesehen das man die sogenannten
separierten Gleichungen y 0 = f (t) · g(y) mit einer symbolischen Methode“ lösen kann
”
bei der y 0 als Differenzenquotient geschrieben wird und dann mit dy und dt gerechnet
wird. Für das Anfangswertproblem y(a) = b ließ sich diese Lösungsmethode auch in
der direkten Form
Z t
Z y(t)
ds
f (s) ds =
g(s)
a
b
schreiben, und wir wollen uns nun auch hierfür ein Beispiel anschauen. Betrachte das
Anfangswertproblem
y 0 = cos(t) · (1 + y 2 ), y(0) = b,
mit einem beliebigen b ∈ R, also f (t) = cos t und g(y) = 1 + y 2 in der obigen Notation.
Die Lösungsformel wird zu
Z t
Z y(t)
ds
= arctan(y(t)) − arctan(b)
sin t =
cos s dt =
1 + s2
0
b
also erhalten wir die Lösung
y(t) = tan (arctan(b) + sin t) =
b + tan(sin t)
1 − b tan(sin t)
deren Definitionsbereich von b abhängt.
Wir kommen jetzt zu einer weiteren Aufgabe, die einen etwas anderen Ansatz erfordert, nämlich
y 0 = λy + sin t (λ ∈ R konstant).
Der Ansatz y 0 = dy/dt führt hier nicht weiter, da wir nicht so recht nach y auflösen
können. Hier schaut man sich stattdessen zunächst die vereinfachte Gleichung y 0 = λy
an, die durch Weglassen des Sinusterms entsteht. Im Spezialfall λ = 1 ist dann die
Exponentialfunktion eine Lösung und für allgemeines λ kann man entsprechend eine
umskalierte Exponentialfunktion verwenden, die allgemeine Lösung ist also y(t) = Ceλt .
Um auch den Sinusterm zu erfassen, orientiert man sich an der Produktregel und macht
den folgenden Ansatz
y(t) = C(t)eλt
(Variation der Konstanten).
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Man ersetzt also die Konstante C in der allgemeinen Lösung der vereinfachten Gleichung durch eine noch zu bestimmende Funktion C(t) in t. In anderen Worten wird
die Konstante C variiert und daher kommt die Bezeichnung dieses Ansatzes. Bilden
wir die Ableitung, so wird
y 0 (t) = λC(t)eλt + C 0 (t)eλt = λy(t) + C 0 (t)eλt ,
wir müssen C also so wählen, dass
C 0 (t)eλt = sin t ⇐⇒ C 0 (t) = sin(t)e−λt
wird. Schreiben wir dabei y(0) = a, also C(0) = a, so ergibt sich
t
Z t
C(t) = a +
sin(s)e ds = a − e cos s − λ
cos(s)e−λs ds
0
0
0
t
Z t
−λt
−λs 2
= a − cos(t)e + 1 − λ sin(s)e − λ
sin(s)e−λs ds
Z
t
−λs
−λs
0
2
0
−λt
= (1 + λ )a + 1 − cos(t)e
und somit
C(t) = a +
− λ sin(t)e−λt − λ2 C(t)
λ sin t + cos t −λt
1
−
e .
2
1+λ
1 + λ2
Insgesamt ist damit
y(t) =
1
a+
1 + λ2
eλt −
λ sin t + cos t
.
1 + λ2
Derselbe Ansatz funktioniert auch allgemeiner. Haben wir beispielsweise bereits eine
Lösung y der Differentialgleichung y 0 (t) = f (t)y(t) und wollen die Gleichung z 0 (t) =
f (t)z(t) + g(t) lösen, so setzen wir z(t) = C(t)y(t) an, und erhalten
z 0 (t) = C(t)y 0 (t) + C 0 (t)y(t) = f (t)C(t)y(t) + C 0 (t)y(t) = f (t)z(t) + C 0 (t)y(t).
Für C können wir dann
Z
C(t) =
g(t)
dt
y(t)
berechnen und erhalten damit Lösungen von z 0 (t) = f (t)z(t) + g(t). Formulieren wir
diese Überlegung für Anfangswertprobleme, so ergibt sich die allgemeine Lösung der
sogenannten linearen Gleichungen.
Lineare Gleichungen Dies sind Anfangswertprobleme des Typs
y 0 = f (t)y + g(t), y(a) = b
mit zwei stetigen Funktionen f, g : I → R definiert auf einem Intervall I ⊆ R und a ∈ I,
b ∈ R. Im Fall g = 0, also y 0 = f (t)y, nennt man die Gleichung homogen, andernfalls
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inhomogen. Wir beginnen mit dem homogenen Fall. Dann ist y 0 = f (t)y eine der schon
behandelten separierten Gleichungen. Für das Anfangswertproblem y(a) = b folgt
Z
t
y(t)
Z
f (s) ds =
a
b
ds
= ln |y(t)| − ln |b|,
s
also ergibt sich
y(t) = be
Rt
a
f (s) ds
.
Damit ist das homogene Problem gelöst. Für das inhomogene Problem
y 0 = f (t)y + g(t), y(a) = b
ergibt sich durch Variation der Konstanten
Rt
y(t) = C(t)e
mit
Rt
C 0 (t) = g(t)e−
also
Z
C(t) = b +
a
a
f (s) ds
f (s) ds
t
g(s)e−
, C(a) = b,
Rs
a
f (u) du
ds.
a
Insgesamt haben wir damit die Lösung
R
Z t
R
t
− as f (u) du
y(t) = b +
g(s)e
ds e a f (s) ds .
a
Lineares Argument Damit meinen wir eine Gleichung des Typs
y 0 = f (at + by + c)
mit a, b, c ∈ R, b 6= 0 und einer stetigen Funktion f . Dabei schließen wir b = 0 aus, da
die Gleichung in diesem Fall nur das Integrationsproblem y 0 = f (at+c) ist. Gleichungen
dieses Typs können auf separierte Gleichungen zurückgeführt werden, allerdings nicht
für y sondern für eine geeignete Transformation“ u von y. Ist y eine Lösung, so setzen
”
wir
u(t) := at + by(t) + c
und erhalten
u0 (t) = a + by 0 (t) = a + bf (at + by(t) + c) = a + bf (u(t)).
Die Funktion u ist also eine Lösung der Differentialgleichung
u0 = a + bf (u).
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Ist umgekehrt u eine Lösung dieser Differentialgleichung, so setzen wir
u(t) − at − c
b
y(t) :=
und erhalten
u0 (t) − a
y (t) =
= f (u(t)) = f (at + by(t) + c).
b
Damit ist unsere Gleichung auf die separierte Gleichung u0 = a + bf (u) zurückgeführt.
Wollen wir das Anfangswertproblem mit y(t0 ) = y0 lösen, so wird dies zur obigen
Gleichung für u mit u(t0 ) = at0 + by0 + c, also
Z t
Z at+by(t)+c
Z u(t)
ds
ds
t − t0 =
ds =
=
.
t0
at0 +by0 +c a + bf (s)
at0 +by0 +c a + bf (s)
0
Ein konkretes Beispiel für diesen Typ ist die Differentialgleichung
y 0 = y 2 + 2ty + t2 = (y + t)2 .
Hier ist f (x) = x2 und für u(t) := y(t) + t haben wir die Differentialgleichung
u0 = 1 + f (u) = 1 + u2
von separierten Typ deren allgemeine Lösung durch
Z
Z
du
= arctan u also u(t) = tan(C + t)
C + t = dt =
1 + u2
gegeben ist. Die Ausgangsgleichung hat damit die allgemeine Lösung
y(t) = u(t) − t = tan(C + t) − t.
Homogene Gleichung Hiermit ist eine Differentialgleichung der Form
y y0 = f
t
mit einer stetigen Funktion f gemeint. Angenommen wir haben eine Lösung y dieser
Gleichung. Dann betrachten wir die Funktion
u(t) :=
y(t)
t
und erhalten
ty 0 (t) − y(t)
1
u (t) =
= f
2
t
t
0
y(t)
t
−
Ist umgekehrt u eine Lösung der Gleichung
u0 =
f (u) − u
,
t
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y(t)
f (u(t)) − u(t)
=
.
2
t
t
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und setzen wir y(t) := tu(t), so wird
0
0
y (t) = u(t) + tu (t) = f (u(t)) = f
y(t)
t
.
Die Gleichung u0 = (f (u) − u)/t ist dabei eine separierte Differentialgleichung für u.
Haben wir das Anfangswertproblem y(a) = b, so wird dies zu u(a) = b/a, also
Z u(t)
Z y(t)/t
Z t
t
ds
ds
ds
ln = ln |t| − ln |a| =
=
=
.
a
f (s) − s
a s
b/a f (s) − s
b/a
Als ein Beispiel betrachten wir einmal die Differentialgleichung
ty 0 = y − tey/t .
In expliziter Form lautet diese
y0 =
y
− ey/t = f (y/t) mit f (x) = x − ex
t
und wir betrachten das Anfangswertproblem y(1) = b ∈ R. Die Gleichung für die
Funktion u(t) = y(t)/t wird dann zu
u0 =
eu
f (u) − u
= − , u(1) = b.
t
t
Diese separierte Gleichung löst sich als
Z t
Z u(t)
ds
ln t =
=−
e−s ds = e−u(t) − e−b
s
1
b
und damit wird
−b
u(t) = − ln(e−b + ln t) = − ln(ln(Ct)) mit C = ee
> 1.
Für die Lösung y ergibt sich
y(t) = −t · ln(ln(Ct)).
Rationales Argument von Grad 1 Dies meint eine Differentialgleichung
αt + βy + γ
0
y =f
δt + y + φ
mit α, β, γ, δ, , φ ∈ R, (δ, ) 6= (0, 0) und einer stetigen Funktion f . Dabei müssen wir
δ = = 0 nicht betrachten, da in diesem Fall die schon behandelte Gleichung mit
linearen Argument vorliegt. Es treten jetzt zwei verschiedene Fälle auf. Im Fall
α β δ =0
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sind die Zeilen dieser Determinante linear abhängig, also ist die erste Zeile ein Vielfaches
der zweiten Zeile und es gibt ein λ ∈ R mit α = λδ und β = λ. Damit wird
λδt + λy + λφ
γ − λφ
γ − λφ
αt + βy + γ
=
+
=λ+
,
δt + y + φ
δt + y + φ
δt + y + φ
δt + y + φ
und führen wir die Funktion
g(x) := f
γ − λφ
λ+
x
ein, so wird unsere Gleichung zu einer Gleichung mit linearen Argument
y 0 = g(δt + y + φ).
Im zweiten Fall ist
α β
δ 6= 0,
und dann ist jedes lineare Gleichungssystem mit dieser Koeffizientenmatrix eindeutig
lösbar. Damit können wir eindeutig zwei Zahlen t0 , y0 ∈ R durch Lösen des linearen
Gleichungssystems
αt0 + βy0 = −γ
δt0 + y0 = −φ
bestimmen. Angenommen y ist eine Lösung unserer Differentialgleichung. Dann definieren wir die neue Funktion
u(t) := y(t + t0 ) − y0
und erhalten
α(t + t0 ) + βy(t + t0 ) + γ
u (t) = y (t + t0 ) = f
δ(t + t0 ) + y(t + t0 ) + φ
α(t + t0 ) + β(u(t) + y0 ) + γ
αt + βu(t)
=f
=f
=f
δ(t + t0 ) + (u(t) + y0 ) + φ
δt + u(t)
0
0
α + β u(t)
t
δ + u(t)
t
!
.
Führen wir also die Funktion
g(x) := f
α + βx
δ + x
ein, so wird
0
u (t) = g
u(t)
t
und wir haben eine homogene Gleichung für u. Ist umgekehrt u eine Lösung dieser
Gleichung, so ergibt sich analog das y(t) := u(t−t0 )+y0 eine Lösung der ursprünglichen
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Gleichung ist. Da die Gleichung u0 = g(u/t) vom homogenen Typ ist, haben wir sie
bereits behandelt. Damit können wir die Funktion u, und somit auch y bestimmen.
Als ein Beispiel wollen wir einmal die Gleichung
y+1
y+1
0
y =
− exp
t+2
t+2
behandeln. Diese Gleichung können wir als
αt + βy + γ
0
y =f
δt + y + φ
mit
f (x) = x − ex , α = 0, β = γ = 1, δ = 1, = 0, φ = 2
schreiben. Dann ist
α β
δ 0 1
=
1 0
= −1 6= 0,
wir sind also im zweiten Fall. Nun bestimmen wir t0 , y0 ∈ R durch
!
αt0 + βy0 = y0 = −1,
!
δt0 + y0 = t0 = −2,
und die Gleichung für u(t) = y(t + t0 ) − y0 = y(t − 2) + 1 wird zu u0 = g(u/t) mit
α + βx
= f (x) = x − ex .
g(x) = f
δ + x
Ausgeschrieben bedeutet dies
u
− eu/t ,
t
und diese Gleichung haben wir bereits mit u(t) = −t ln(ln(C|t|)) gelöst. Es wird
u0 =
y(t) = u(t − t0 ) + y0 = u(t + 2) − 1 = −1 − (t + 2) ln(ln(C|t + 2|)).
Bernoulli Gleichungen Dies meint eine Differentialgleichung des Typs
y 0 = f (t)y n + g(t)y
mit stetigen Funktionen f, g : I → R definiert auf einem offenen Intervall I ⊆ R und
einem Exponenten 1 6= n ∈ R. Für einen natürlichen Exponenten n ∈ N ist diese
Gleichung auf U = I × R definiert andernfalls nur auf U = I × R>0 . Ist y eine Lösung,
so erfüllt die transformierte Funktion
u(t) = y(t)1−n
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auch
u0 (t) = (1−n)y(t)−n y 0 (t) = (1−n)f (t)+(1−n)g(t)y(t)1−n = (1−n)g(t)u(t)+(1−n)f (t)
d.h. u ist eine Lösung der linearen Differentialgleichung
u0 = (1 − n)g(t)u + (1 − n)f (t).
Als ein konkretes Beispiel betrachten wir die Differentialgleichung
y0 +
y
+ (1 + t)y 4 = 0,
1+t
also n = 4, f (t) = −(1 + t) und g(t) = −1/(1 + t). Damit erfüllt u(t) = y(t)−3 die
lineare Differentialgleichung
u0 =
3u
+ 3(1 + t).
1+t
Die zugehörige homogene Gleichung
u0 =
R
3u
hat die allgemeine Lösung u(t) = Ce
1+t
3
1+t
dt
= Ce3 ln(1+t) = C(1 + t)3
also erhalten wir die allgemeine Lösung durch Variation der Konstanten u(t) = C(t)(1+
t)3 mit
Z
Z
dt
3
3(1 + t)
dt = 3
=C−
C(t) =
.
3
2
(1 + t)
(1 + t)
1+t
Damit ist
u(t) = C(1 + t)3 − 3(1 + t)2
und für y ergibt sich
y(t) = u(t)−1/3 =
7.2
1
.
(C(1 + t)3 − 3(1 + t)2 )1/3
Gleichungen zweiter Ordnung
Nachdem wir uns bisher einige gewöhnliche Differentialgleichungen erster Ordnung
angeschaut haben, wollen wir nun zwei Gleichungen zweiter Ordnung behandeln. Eine
allgemeine gewöhnliche Differentialgleichung zweiter Ordnung in expliziter Form hat
die Gestalt
y 00 = f (t, y, y 0 ),
und wir kümmern uns in diesem Abschnitt um den Spezialfall in dem kein t auf der
rechten Seite der Gleichung vorkommt, den sogenannten autonomen Fall,
y 00 = f (y, y 0 )
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mit einer stetigen Funktion f . Eine allgemeine Lösungsmethode gibt es nicht, wir wollen hier nur einen gelegentlich funktionierenden Ansatz vorführen. Bei diesem Ansatz
versuchen wir zunächst die Umkehrfunktion y −1 einer Lösung y zu bestimmen. Nehme an y : I → R ist eine Lösung der Gleichung y 00 = f (y, y 0 ). Weiter nehmen wir
an, dass die Funktion y injektiv ist und eine stetig differenzierbare Umkehrfunktion
y −1 : J → R mit J = y(I) besitzt. Dies ist meist eine vertretbare Annahme, setzen
wir beispielsweise in einem Anfangswertproblem y 0 (a) = b 6= 0 voraus, so ist y in der
Nähe des Startwerts a monoton steigend oder monoton fallend, kann also zumindest
in der Nähe des Startwerts stetig differenzierbar umgekehrt werden. Die Ableitung der
Umkehrfunktion ist nach I.§14.Satz 9 gegeben durch
(y −1 )0 (t) =
1
y 0 (y −1 (t))
für alle t ∈ J. Schließlich betrachten wir die für t ∈ J definierte Funktion
u(t) := y 0 (y −1 (t)),
also (y −1 )0 (t) = 1/u(t). Die Ableitung von u ergibt sich zu
u0 (t) = y 00 (y −1 (t)) · (y −1 )0 (t) = f (y(y −1 (t)), y 0 (y −1 (t))) · (y −1 )0 (t) =
f (t, u(t))
,
u(t)
d.h. die Funktion u erfüllt eine Differentialgleichung erster Ordnung
u0 =
f (t, u)
.
u
Können wir diese Gleichung lösen, so kennen wir die Funktion u, und berechnen
Z
Z
dt
= (y −1 )0 (t) dt = y −1 (t).
u(t)
Dann können wir die gesuchte Lösung y mit etwas Glück als Umkehrfunktion bestimmen.
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