Mathematik für Ingenieure III, WS 2015/2016 Montag 18.1 $Id: diffgl.tex,v 1.12 2016/01/18 13:59:18 hk Exp $ §7 Gewöhnliche Differentialgleichungen 7.1 Einige spezielle Differentialgleichungen Wir beschäftigen uns gerade mit expliziten Lösungsverfahren für einige spezielle Typen gewöhnlicher Differentialgleichungen. Wir hatten gesehen das man die sogenannten separierten Gleichungen y 0 = f (t) · g(y) mit einer symbolischen Methode“ lösen kann ” bei der y 0 als Differenzenquotient geschrieben wird und dann mit dy und dt gerechnet wird. Für das Anfangswertproblem y(a) = b ließ sich diese Lösungsmethode auch in der direkten Form Z t Z y(t) ds f (s) ds = g(s) a b schreiben, und wir wollen uns nun auch hierfür ein Beispiel anschauen. Betrachte das Anfangswertproblem y 0 = cos(t) · (1 + y 2 ), y(0) = b, mit einem beliebigen b ∈ R, also f (t) = cos t und g(y) = 1 + y 2 in der obigen Notation. Die Lösungsformel wird zu Z t Z y(t) ds = arctan(y(t)) − arctan(b) sin t = cos s dt = 1 + s2 0 b also erhalten wir die Lösung y(t) = tan (arctan(b) + sin t) = b + tan(sin t) 1 − b tan(sin t) deren Definitionsbereich von b abhängt. Wir kommen jetzt zu einer weiteren Aufgabe, die einen etwas anderen Ansatz erfordert, nämlich y 0 = λy + sin t (λ ∈ R konstant). Der Ansatz y 0 = dy/dt führt hier nicht weiter, da wir nicht so recht nach y auflösen können. Hier schaut man sich stattdessen zunächst die vereinfachte Gleichung y 0 = λy an, die durch Weglassen des Sinusterms entsteht. Im Spezialfall λ = 1 ist dann die Exponentialfunktion eine Lösung und für allgemeines λ kann man entsprechend eine umskalierte Exponentialfunktion verwenden, die allgemeine Lösung ist also y(t) = Ceλt . Um auch den Sinusterm zu erfassen, orientiert man sich an der Produktregel und macht den folgenden Ansatz y(t) = C(t)eλt (Variation der Konstanten). 19-1 Mathematik für Ingenieure III, WS 2015/2016 Montag 18.1 Man ersetzt also die Konstante C in der allgemeinen Lösung der vereinfachten Gleichung durch eine noch zu bestimmende Funktion C(t) in t. In anderen Worten wird die Konstante C variiert und daher kommt die Bezeichnung dieses Ansatzes. Bilden wir die Ableitung, so wird y 0 (t) = λC(t)eλt + C 0 (t)eλt = λy(t) + C 0 (t)eλt , wir müssen C also so wählen, dass C 0 (t)eλt = sin t ⇐⇒ C 0 (t) = sin(t)e−λt wird. Schreiben wir dabei y(0) = a, also C(0) = a, so ergibt sich t Z t C(t) = a + sin(s)e ds = a − e cos s − λ cos(s)e−λs ds 0 0 0 t Z t −λt −λs 2 = a − cos(t)e + 1 − λ sin(s)e − λ sin(s)e−λs ds Z t −λs −λs 0 2 0 −λt = (1 + λ )a + 1 − cos(t)e und somit C(t) = a + − λ sin(t)e−λt − λ2 C(t) λ sin t + cos t −λt 1 − e . 2 1+λ 1 + λ2 Insgesamt ist damit y(t) = 1 a+ 1 + λ2 eλt − λ sin t + cos t . 1 + λ2 Derselbe Ansatz funktioniert auch allgemeiner. Haben wir beispielsweise bereits eine Lösung y der Differentialgleichung y 0 (t) = f (t)y(t) und wollen die Gleichung z 0 (t) = f (t)z(t) + g(t) lösen, so setzen wir z(t) = C(t)y(t) an, und erhalten z 0 (t) = C(t)y 0 (t) + C 0 (t)y(t) = f (t)C(t)y(t) + C 0 (t)y(t) = f (t)z(t) + C 0 (t)y(t). Für C können wir dann Z C(t) = g(t) dt y(t) berechnen und erhalten damit Lösungen von z 0 (t) = f (t)z(t) + g(t). Formulieren wir diese Überlegung für Anfangswertprobleme, so ergibt sich die allgemeine Lösung der sogenannten linearen Gleichungen. Lineare Gleichungen Dies sind Anfangswertprobleme des Typs y 0 = f (t)y + g(t), y(a) = b mit zwei stetigen Funktionen f, g : I → R definiert auf einem Intervall I ⊆ R und a ∈ I, b ∈ R. Im Fall g = 0, also y 0 = f (t)y, nennt man die Gleichung homogen, andernfalls 19-2 Mathematik für Ingenieure III, WS 2015/2016 Montag 18.1 inhomogen. Wir beginnen mit dem homogenen Fall. Dann ist y 0 = f (t)y eine der schon behandelten separierten Gleichungen. Für das Anfangswertproblem y(a) = b folgt Z t y(t) Z f (s) ds = a b ds = ln |y(t)| − ln |b|, s also ergibt sich y(t) = be Rt a f (s) ds . Damit ist das homogene Problem gelöst. Für das inhomogene Problem y 0 = f (t)y + g(t), y(a) = b ergibt sich durch Variation der Konstanten Rt y(t) = C(t)e mit Rt C 0 (t) = g(t)e− also Z C(t) = b + a a f (s) ds f (s) ds t g(s)e− , C(a) = b, Rs a f (u) du ds. a Insgesamt haben wir damit die Lösung R Z t R t − as f (u) du y(t) = b + g(s)e ds e a f (s) ds . a Lineares Argument Damit meinen wir eine Gleichung des Typs y 0 = f (at + by + c) mit a, b, c ∈ R, b 6= 0 und einer stetigen Funktion f . Dabei schließen wir b = 0 aus, da die Gleichung in diesem Fall nur das Integrationsproblem y 0 = f (at+c) ist. Gleichungen dieses Typs können auf separierte Gleichungen zurückgeführt werden, allerdings nicht für y sondern für eine geeignete Transformation“ u von y. Ist y eine Lösung, so setzen ” wir u(t) := at + by(t) + c und erhalten u0 (t) = a + by 0 (t) = a + bf (at + by(t) + c) = a + bf (u(t)). Die Funktion u ist also eine Lösung der Differentialgleichung u0 = a + bf (u). 19-3 Mathematik für Ingenieure III, WS 2015/2016 Montag 18.1 Ist umgekehrt u eine Lösung dieser Differentialgleichung, so setzen wir u(t) − at − c b y(t) := und erhalten u0 (t) − a y (t) = = f (u(t)) = f (at + by(t) + c). b Damit ist unsere Gleichung auf die separierte Gleichung u0 = a + bf (u) zurückgeführt. Wollen wir das Anfangswertproblem mit y(t0 ) = y0 lösen, so wird dies zur obigen Gleichung für u mit u(t0 ) = at0 + by0 + c, also Z t Z at+by(t)+c Z u(t) ds ds t − t0 = ds = = . t0 at0 +by0 +c a + bf (s) at0 +by0 +c a + bf (s) 0 Ein konkretes Beispiel für diesen Typ ist die Differentialgleichung y 0 = y 2 + 2ty + t2 = (y + t)2 . Hier ist f (x) = x2 und für u(t) := y(t) + t haben wir die Differentialgleichung u0 = 1 + f (u) = 1 + u2 von separierten Typ deren allgemeine Lösung durch Z Z du = arctan u also u(t) = tan(C + t) C + t = dt = 1 + u2 gegeben ist. Die Ausgangsgleichung hat damit die allgemeine Lösung y(t) = u(t) − t = tan(C + t) − t. Homogene Gleichung Hiermit ist eine Differentialgleichung der Form y y0 = f t mit einer stetigen Funktion f gemeint. Angenommen wir haben eine Lösung y dieser Gleichung. Dann betrachten wir die Funktion u(t) := y(t) t und erhalten ty 0 (t) − y(t) 1 u (t) = = f 2 t t 0 y(t) t − Ist umgekehrt u eine Lösung der Gleichung u0 = f (u) − u , t 19-4 y(t) f (u(t)) − u(t) = . 2 t t Mathematik für Ingenieure III, WS 2015/2016 Montag 18.1 und setzen wir y(t) := tu(t), so wird 0 0 y (t) = u(t) + tu (t) = f (u(t)) = f y(t) t . Die Gleichung u0 = (f (u) − u)/t ist dabei eine separierte Differentialgleichung für u. Haben wir das Anfangswertproblem y(a) = b, so wird dies zu u(a) = b/a, also Z u(t) Z y(t)/t Z t t ds ds ds ln = ln |t| − ln |a| = = = . a f (s) − s a s b/a f (s) − s b/a Als ein Beispiel betrachten wir einmal die Differentialgleichung ty 0 = y − tey/t . In expliziter Form lautet diese y0 = y − ey/t = f (y/t) mit f (x) = x − ex t und wir betrachten das Anfangswertproblem y(1) = b ∈ R. Die Gleichung für die Funktion u(t) = y(t)/t wird dann zu u0 = eu f (u) − u = − , u(1) = b. t t Diese separierte Gleichung löst sich als Z t Z u(t) ds ln t = =− e−s ds = e−u(t) − e−b s 1 b und damit wird −b u(t) = − ln(e−b + ln t) = − ln(ln(Ct)) mit C = ee > 1. Für die Lösung y ergibt sich y(t) = −t · ln(ln(Ct)). Rationales Argument von Grad 1 Dies meint eine Differentialgleichung αt + βy + γ 0 y =f δt + y + φ mit α, β, γ, δ, , φ ∈ R, (δ, ) 6= (0, 0) und einer stetigen Funktion f . Dabei müssen wir δ = = 0 nicht betrachten, da in diesem Fall die schon behandelte Gleichung mit linearen Argument vorliegt. Es treten jetzt zwei verschiedene Fälle auf. Im Fall α β δ =0 19-5 Mathematik für Ingenieure III, WS 2015/2016 Montag 18.1 sind die Zeilen dieser Determinante linear abhängig, also ist die erste Zeile ein Vielfaches der zweiten Zeile und es gibt ein λ ∈ R mit α = λδ und β = λ. Damit wird λδt + λy + λφ γ − λφ γ − λφ αt + βy + γ = + =λ+ , δt + y + φ δt + y + φ δt + y + φ δt + y + φ und führen wir die Funktion g(x) := f γ − λφ λ+ x ein, so wird unsere Gleichung zu einer Gleichung mit linearen Argument y 0 = g(δt + y + φ). Im zweiten Fall ist α β δ 6= 0, und dann ist jedes lineare Gleichungssystem mit dieser Koeffizientenmatrix eindeutig lösbar. Damit können wir eindeutig zwei Zahlen t0 , y0 ∈ R durch Lösen des linearen Gleichungssystems αt0 + βy0 = −γ δt0 + y0 = −φ bestimmen. Angenommen y ist eine Lösung unserer Differentialgleichung. Dann definieren wir die neue Funktion u(t) := y(t + t0 ) − y0 und erhalten α(t + t0 ) + βy(t + t0 ) + γ u (t) = y (t + t0 ) = f δ(t + t0 ) + y(t + t0 ) + φ α(t + t0 ) + β(u(t) + y0 ) + γ αt + βu(t) =f =f =f δ(t + t0 ) + (u(t) + y0 ) + φ δt + u(t) 0 0 α + β u(t) t δ + u(t) t ! . Führen wir also die Funktion g(x) := f α + βx δ + x ein, so wird 0 u (t) = g u(t) t und wir haben eine homogene Gleichung für u. Ist umgekehrt u eine Lösung dieser Gleichung, so ergibt sich analog das y(t) := u(t−t0 )+y0 eine Lösung der ursprünglichen 19-6 Mathematik für Ingenieure III, WS 2015/2016 Montag 18.1 Gleichung ist. Da die Gleichung u0 = g(u/t) vom homogenen Typ ist, haben wir sie bereits behandelt. Damit können wir die Funktion u, und somit auch y bestimmen. Als ein Beispiel wollen wir einmal die Gleichung y+1 y+1 0 y = − exp t+2 t+2 behandeln. Diese Gleichung können wir als αt + βy + γ 0 y =f δt + y + φ mit f (x) = x − ex , α = 0, β = γ = 1, δ = 1, = 0, φ = 2 schreiben. Dann ist α β δ 0 1 = 1 0 = −1 6= 0, wir sind also im zweiten Fall. Nun bestimmen wir t0 , y0 ∈ R durch ! αt0 + βy0 = y0 = −1, ! δt0 + y0 = t0 = −2, und die Gleichung für u(t) = y(t + t0 ) − y0 = y(t − 2) + 1 wird zu u0 = g(u/t) mit α + βx = f (x) = x − ex . g(x) = f δ + x Ausgeschrieben bedeutet dies u − eu/t , t und diese Gleichung haben wir bereits mit u(t) = −t ln(ln(C|t|)) gelöst. Es wird u0 = y(t) = u(t − t0 ) + y0 = u(t + 2) − 1 = −1 − (t + 2) ln(ln(C|t + 2|)). Bernoulli Gleichungen Dies meint eine Differentialgleichung des Typs y 0 = f (t)y n + g(t)y mit stetigen Funktionen f, g : I → R definiert auf einem offenen Intervall I ⊆ R und einem Exponenten 1 6= n ∈ R. Für einen natürlichen Exponenten n ∈ N ist diese Gleichung auf U = I × R definiert andernfalls nur auf U = I × R>0 . Ist y eine Lösung, so erfüllt die transformierte Funktion u(t) = y(t)1−n 19-7 Mathematik für Ingenieure III, WS 2015/2016 Montag 18.1 auch u0 (t) = (1−n)y(t)−n y 0 (t) = (1−n)f (t)+(1−n)g(t)y(t)1−n = (1−n)g(t)u(t)+(1−n)f (t) d.h. u ist eine Lösung der linearen Differentialgleichung u0 = (1 − n)g(t)u + (1 − n)f (t). Als ein konkretes Beispiel betrachten wir die Differentialgleichung y0 + y + (1 + t)y 4 = 0, 1+t also n = 4, f (t) = −(1 + t) und g(t) = −1/(1 + t). Damit erfüllt u(t) = y(t)−3 die lineare Differentialgleichung u0 = 3u + 3(1 + t). 1+t Die zugehörige homogene Gleichung u0 = R 3u hat die allgemeine Lösung u(t) = Ce 1+t 3 1+t dt = Ce3 ln(1+t) = C(1 + t)3 also erhalten wir die allgemeine Lösung durch Variation der Konstanten u(t) = C(t)(1+ t)3 mit Z Z dt 3 3(1 + t) dt = 3 =C− C(t) = . 3 2 (1 + t) (1 + t) 1+t Damit ist u(t) = C(1 + t)3 − 3(1 + t)2 und für y ergibt sich y(t) = u(t)−1/3 = 7.2 1 . (C(1 + t)3 − 3(1 + t)2 )1/3 Gleichungen zweiter Ordnung Nachdem wir uns bisher einige gewöhnliche Differentialgleichungen erster Ordnung angeschaut haben, wollen wir nun zwei Gleichungen zweiter Ordnung behandeln. Eine allgemeine gewöhnliche Differentialgleichung zweiter Ordnung in expliziter Form hat die Gestalt y 00 = f (t, y, y 0 ), und wir kümmern uns in diesem Abschnitt um den Spezialfall in dem kein t auf der rechten Seite der Gleichung vorkommt, den sogenannten autonomen Fall, y 00 = f (y, y 0 ) 19-8 Mathematik für Ingenieure III, WS 2015/2016 Montag 18.1 mit einer stetigen Funktion f . Eine allgemeine Lösungsmethode gibt es nicht, wir wollen hier nur einen gelegentlich funktionierenden Ansatz vorführen. Bei diesem Ansatz versuchen wir zunächst die Umkehrfunktion y −1 einer Lösung y zu bestimmen. Nehme an y : I → R ist eine Lösung der Gleichung y 00 = f (y, y 0 ). Weiter nehmen wir an, dass die Funktion y injektiv ist und eine stetig differenzierbare Umkehrfunktion y −1 : J → R mit J = y(I) besitzt. Dies ist meist eine vertretbare Annahme, setzen wir beispielsweise in einem Anfangswertproblem y 0 (a) = b 6= 0 voraus, so ist y in der Nähe des Startwerts a monoton steigend oder monoton fallend, kann also zumindest in der Nähe des Startwerts stetig differenzierbar umgekehrt werden. Die Ableitung der Umkehrfunktion ist nach I.§14.Satz 9 gegeben durch (y −1 )0 (t) = 1 y 0 (y −1 (t)) für alle t ∈ J. Schließlich betrachten wir die für t ∈ J definierte Funktion u(t) := y 0 (y −1 (t)), also (y −1 )0 (t) = 1/u(t). Die Ableitung von u ergibt sich zu u0 (t) = y 00 (y −1 (t)) · (y −1 )0 (t) = f (y(y −1 (t)), y 0 (y −1 (t))) · (y −1 )0 (t) = f (t, u(t)) , u(t) d.h. die Funktion u erfüllt eine Differentialgleichung erster Ordnung u0 = f (t, u) . u Können wir diese Gleichung lösen, so kennen wir die Funktion u, und berechnen Z Z dt = (y −1 )0 (t) dt = y −1 (t). u(t) Dann können wir die gesuchte Lösung y mit etwas Glück als Umkehrfunktion bestimmen. 19-9
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