Einführung Obwohl Galizien als politische Einheit nicht mehr existiert, ist es als Gedächtnislandschaft noch vorhanden. In der Westukraine ist eine Renaissance der Habsburger Nostalgie zu beobachten; für Polen sind die kresy, die verlorenen Ostgebiete, die bis heute von polnischer Kultur geprägt sind, ein stabiler Faktor der eigenen Kultur und des kulturellen Gedächtnisses; und die heutige ostpolnische und westukrainische Landschaft weist viele sicht- und spürbare Zeichen aus galizischer Zeit auf: (architektonische) Denkmäler, landschaftliche Spuren, Archivmaterialien, Erinnerungskulturen, bis hin zu Spuren einer österreichischen Lebensart. Als historisch multiethnisches Gebiet ist Galizien zudem auf zweifache Weise ein Lehrstück für das europäische Zusammenleben: Wie leben unterschiedliche Kulturen und Sprachen auf engem Gebiet zusammen? Wie bildet sich eine regionale Identität heraus und passt sich ein in eine größere politische Entität? Welche gruppenspezifischen Identitäten gab es darüber hinaus? Der Fokus des internationalen wissenschaftlichen Projekts, auf dem dieser Band beruht, lag auf dem „mental mapping“ von Galizien als geschichtlicher Region einerseits und dem Blick auf die Region heute andererseits mit Hilfe kulturwissenschaftlicher und komparativer Ansätze. Die Beiträge bringen unterschiedliche historische Auffassungen zur Rolle und Geschichte Galiziens zur Diskussion. Ein Vergleich der historiographischen und kulturwissenschaftlichen Auffassungen von Galizien in der polnischen, ukrainischen und deutschsprachigen Forschung vertieft ähnlich wie die Arbeit der deutsch-polnischen Schulbuchkommission das Wissen über das gegenseitige Denken, aber auch über die gemeinsam durchlebte Geschichte – in diesem Fall auf dem Territorium Galiziens. Die Region des früheren Galizien war mehr als andere Gebiete Mittelost- und Südosteuropas bis zum Zweiten Weltkrieg von einem Völkergemisch geprägt, wobei jedes Volk seine eigenen kulturellen Spuren hinterlassen hat und jedes sein eigenes Schicksal erlitt. Die Polen der Westukraine wurden am Ausgang des Zweiten Weltkriegs ins heutige West- und Nordpolen deportiert; die polnischen Ruthenen wurden in die Ukraine oder ebenfalls nach Westpolen vertrieben und ihre Dörfer vielerorts geschleift („Aktion Weichsel“), die Deutschen wurden westwärts vertrieben, die jüdische Bevölkerung war bis 1945 größtenteils ermordet. Heute ist die Region des früheren Galizien ethnisch so homogen wie kaum ein anderes Gebiet, sie ist auf polnischer Seite annähernd zu hundert Prozent von Polen bewohnt und auf ukrainischer weitgehend von Ukrainern. Die Geschichte aber ist der Landschaft eingeprägt: die der Ruthenen in den 12Einführung ruthenischen Dorfruinen und in einer Vielzahl orthodoxer Holzkirchen; die der Deutschen in der architektonischen Prägung einiger Ortschaften der Region, die der polnischen Oberschicht (Schlachta, Magnaten) in den Herrenhäusern, die hier besonders zahlreich vorhanden sind. Der von Deutschen und Juden geprägte Handel spiegelt sich bis heute in den Fassaden der vielen galizischen Kleinstädte dies- und jenseits der polnisch-ukrainischen Grenze, mythologisierend Schtetl genannt. Kleine Städte wie Biecz, Jarosław und Brody florierten in der frühen Neuzeit durch den Handel zwischen den Metropolen Krakau, Lemberg, Budapest, Wien und weiter zum Schwarzen Meer. Nach dem Ersten Weltkrieg sind die Weichen in der polnischen Zweiten Republik genau wie in der Ukraine umgestellt worden auf die Schaffung von Schwerindustrie. Für die polnische Seite begünstigte der Flugzeugbau und die Stahlerzeugung die Städte Mielec, Stalowa Wola und Rzeszów, die Westukraine hingegen wurde zur Kornkammer der Sowjetunion umgebaut. Eine weitere Besonderheit sind die divergierenden polnisch-ukrainischen Erinnerungskulturen in diesem Grenzgebiet, insbesondere die Dissenzen über den Charakter von Nationalhelden, die auf die historischen Ereignisse in Galizien bzw. auf dem Gebiet des ehemaligen Galizien zurückgehen und die bis heute immer wieder an die Oberfläche treten. Aus der Region stammen einige Schriftsteller und Lyriker von internationalem Rang, die im Lauf ihres Lebens ausgewandert sind oder vertrieben wurden, die aber wenigstens mit einem Teil ihres Werks den Ort ihrer Geburt reflektieren und für die Geschichte Galiziens eine reiche Quelle darstellen: Joseph Roth, Bruno Schulz, Paul Celan, Rose Ausländer, Manès Sperber, Ivan Franko, Karl Emil Franzos und andere. Außerdem gibt es eine ausgewachsene Reiseliteratur zu dem Gebiet in deutscher und polnischer Sprache. Sie reicht zurück bis in die Zeit der österreichischen Machtübernahme Ende des 18. Jahrhunderts, als etliche Intellektuelle und Beamte in das Gebiet reisten, um sich über die Lebensumstände zu informieren und den Fortgang der josephinischen Reformen zu beobachten. Der wissenschaftliche Austausch für diesen Sammelband konzentrierte sich auf folgende Fragestellungen: • Galizien als Gedächtnisort. Literarische Konstruktionen, divergierende polnisch-ukrainische Erinnerungskulturen. Hierzu werden die diskursiven Konstruktionen rund um Galizien als historischer Landschaft, die dominanten polnischen und ukrainischen nationalen (Geschichts-)Narrative für dieses Gebiet und die deutschsprachige historiographische Tradition in Bezug auf Galizien untersucht, ausgehend von der Hypothese, dass weder der deutschsprachige, noch der polnische oder der ukrainische Diskurs frei ist von Stereotypen (Ruth Büttner, Steffen Hänschen). Diskutiert Einführung 13 wird außerdem die symbolische Bedeutung Galiziens im Gedächtnis der Menschen, die diese historische Landschaft bis heute bewohnen; die Rolle Galiziens für die Identität der heutigen Nachbarvölker Polen und Ukraine, Tendenzen einer Mystifizierung Galiziens auf beiden Seiten der Grenze als Landschaft von subnationaler Bedeutung (Olena Dvoretska) und einhergehend damit Ansätze einer polnisch-ukrainisch-jüdischen Doppelbelegung dieser Landschaft mit oft konkurrierenden Bedeutungen. Hierzu gehören konkurrierende Auffassungen zu den beiden Weltkriegen und ihren Helden. Doch auch innerhalb der Gesellschaften ist die Symbolik von Galizien unter Umständen nicht eindeutig bzw. gar widersprüchlich (Roman Dubasevych). Durch das Prisma von Briefen oder literarischen Veröffentlichungen wird die symbolische Bedeutung Galiziens im Gedächtnis von Menschen betrachtet, die z.T. schon lange nicht mehr auf dem Gebiet des heutigen Südostpolen und der Westukraine wohnen, deren Vorfahren von dort stammen (Magdalena Baran, Florian Rogge, Anastasia Telaak), aber auch von Schriftstellern aus der Region (Christof Schimsheimer). Hierauf aufbauend ließe sich weiterführend die Gewichtung der unterschiedlichen Erinnerungskulturen diskutieren: Welche Rolle spielt heute noch die Erinnerung der ehemaligen jüdischen, armenischen, ungarischen Bevölkerung und wie werden sie in die nationalen Erklärungsversuche der polnischen und ukrainischen Mehrheitsbevölkerung von heute eingebaut? Welche Gedächtnisspuren hat deutsches und ruthenisches Leben auf dem Territorium des ehemaligen Galizien hinterlassen? Diese Fragen mögen als Anregung für weitere Forschungen dienen. • Galizien als Kulturlandschaft: Strukturen vergangener und gegenwärtiger Lebensverhältnisse. Galizien als historische Bildungslandschaft (Hochschulen, Denkschulen, Bildungspolitik). Zum anderen wird die Bedeutung der Kulturlandschaft Galizien und die Rolle von Denkschulen und Bildungsinstitutionen auf dem Gebiet Galiziens in der Vergangenheit und heute erörtert. Welche Spuren haben die Völker Galiziens in Geschichte und Landschaft hinterlassen? Welche Akteure spielten eine Rolle? (Ruth Büttner, Adrian Mitter) Der Reigen der Artikel wird durch den Beitrag von Katarzyna Stokłosa und Gerhard Besier eröffnet, die auf der Faktenebene einen guten Einstieg bieten, indem sie das geschichtliche Verhältnis von Polen und Ruthenen, eingebettet in die galizischen Gesellschaftsstrukturen, beleuchten. Auf der Faktenebene bleibt auch der Beitrag von Adam Czartoryski zum Wirken der polnischen Abgeordneten Galiziens im Wiener Reichsrat um 1900. Aspekte der Auswanderung aus 14Einführung Galizien um 1900 und ihrer Rückbezüge zu den sozialen Verhältnissen in Galizien behandeln die Beiträge von Elisabeth Janik und Matthias Kaltenbrunner. Auch der Teil zu sprachlichen und sprachwissenschaftlichen Aspekten hat die galizische Vielfalt im Blick. Einen Brückenschlag zwischen den ersten beiden Teilen und dem sprachwissenschaftlichen Teil bildet der Gastbeitrag des Rzeszower Polonisten Kazimierz Ożóg, der die Lage der polnischen Sprache nach der gewaltsamen Einverleibung polnischer Gebiete unter anderem durch Österreich-Ungarn infolge der Teilungen Polens schildert. Dieser Beitrag ist besonders dazu angetan, deutschsprachigen Lesern zu verdeutlichen, dass der polnische Diskurs zu Galizien anders verläuft als der im deutschsprachigen Raum. Hier ist Österreich-Ungarn nicht „Teilungsmacht“, sondern „Okkupant“. Der Beitrag behandelt die Geschichte der polnischen Sprache nicht sprachwissenschaftlich, sondern als Abriss politischer Geschichte. Textpassagen über Galizien in ausgewählten polnischen Geschichtslehrbüchern aus den letzten 30 Jahren werden im Beitrag von Waldemar Czachur der linguistischen Analyse eines kollektivspezifischen Denkstils unterzogen. Da alle linguistischen Beiträge in den Galiziendiskurs eingebettet sind – die Breite des Diskursbegriffs kommt in der vorliegenden Arbeit besonders deutlich zur Sprache – stellt der theoretisch angelegte Aufsatz von Maria Wojtak für sie einen Rahmen dar. In dem Beitrag von Wojtak wird das Verhältnis der grundlegenden Termini Diskurs, Stil, Gattung und Text sowie der sich hinter ihnen verbergenden Verständnisse vor allem in der polonistischen Forschung diskutiert. Die hier aufgegriffene Thematik taucht implizit in einigen weiteren Beiträgen auf, die sich in Einzelanalysen gattungsspezifischen Aspekten oder textsortenkonstituierenden Strukturen ausgewählter Textsorten widmen. So diskutiert die Rzeszower Polonistin Maria Krauz die Gestaltung und Funktion von Druckwidmungen in den Werken galizischer Schriftsteller, indem sie die Einträge aus Romanen des 19. Jahrhunderts den modernen in der Poesie von Janusz Szuber, eines Gegenwartsdichters aus Sanok, gegenüberstellt. In dem Aufsatz werden darüber hinaus die Gattungsmerkmale von Widmungen diskutiert. Ebenfalls Gattungsmerkmale, jedoch diesmal der galizischen Werke von Martin Pollack, sind Thema des Beitrags von Anna Hanus, die die Schwierigkeiten der Gattungsbestimmung in modernen Prosatexten thematisiert. Eine Auseinandersetzung mit gattungsspezifischen, hier textsortenspezifischen, Fragen stellt der Beitrag von Anna Hanus und Iwona Szwed dar, der eine linguistisch-diachronische Untersuchung der Gebrauchstextsorte Kochrezept hinsichtlich der Verständlichkeit und Brauchbarkeit alter Rezepte für den Leser von heute bietet. Die Autorinnen sind außerdem bestrebt, die Einführung 15 kulturhistorisch bedingten sprachlichen Unterschiede zwischen den älteren und den neuen Kochrezepten der Region aufzuzeigen. Aspekte der sprachlichen Vielfalt Galiziens beschreiben die Beiträge der polnischen Germanisten Andrzej S. Feret und Grzegorz Chromik. In dem Artikel von Andrzej S. Feret wird die Rolle und Funktion der deutschen Sprache in der polnischen Presse der Stadt Krakau um die Wende des 19. und 20. Jahrhunderts skizziert. Der Autor setzt sich zum Ziel, anhand einer eingehenden sprachwissenschaftlichen Analyse von ausgewählten Pressetexten die Frage zu beantworten, „ob die Deutschkenntnisse im Krakauer Alltag tatsächlich keine Verwendung mehr fanden.“ Sprachliche Feinanalysen enthalten die Untersuchungen von Grzegorz Chromik. Der Krakauer Germanist unterzieht die ältesten Eintragungen im Schöffenbuch der galizischen deutschen Sprachinsel Markowa einer graphematischen Analyse, indem er den Schriftdialekt eines 1590 angelegten Schöffenbuches mit dem klassischen Mittelhochdeutsch vergleicht. So umreißt der vorliegende Band eine große Spanne historischer, literatur- und sprachwissenschaftlicher Fragen zum Gegenstand Galizien und bietet der Galizienforschung – so die Hoffnung der Herausgeberinnen – viel Stoff zur Weiterentwicklung. Anna Hanus Ruth Büttner
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