Industrie 4.0 in der Automobilindustrie – Hype und Hürde zugleich! Neue Technologien schlagen im Automobilbau mitunter hart auf dem Boden der Realität auf. Wenn Industrie-4.0-Projekte eine Chance haben sollen, sind vor allem die bestehenden Hürden genauer unter die Lupe zu nehmen. R FID, 3D-Druck, Augmented Reality, Vernetzte Produkte und Leichtbauroboter. Ingenieure, Techniker und Physiker aus IT oder Entwicklung begeistern sich sofort für neue, möglicherweise sogar „disruptive Technologien“ und spielen sogleich mögliche Einsatzszenarien, sogenannte Use Cases durch. Auch der Autor kann sich davon nicht frei machen. Schließlich wird die innovationsgetriebene Automobilbranche doch durch uns kreative Geister beflügelt! Doch wie so oft – der berühmte Hype Cycle lässt sich nicht „durchtunneln“ und die Ernüchterung erfolgt spätestens dann, wenn neue Technologien im Automobilbau hart auf den Boden der Realität, bzw. der Produktion und Logistik aufschlagen. Detecon ist aktiv an der Ausgestaltung der Umsetzungsempfehlungen für die „Plattform Industrie 4.0“ (www.plattform-i40. de) beteiligt, einer bundesweiten Initiative der größten deutschen Wirtschaftsverbände im Rahmen der Hightech-Strategie der Bundesregierung. Seit vielen Jahren begleiten wir in der Fertigungsindustrie, v.a. bei Automobilherstellern und Zulieferern, „Smart“- oder „Digital Factory“-Projekte in der Produktion und können aus dieser Erfahrung heraus beurteilen, was in der Realität aus Industrie 4.0 zu erwarten ist, bzw. wo die Probleme bei der Umsetzung liegen. Bevor wir auf die Probleme eingehen, sollte man allerdings sicherstellen, dass jeder das gleiche unter Industrie 4.0 versteht. Tatsächlich wird es oft mit „Internet of Things“ oder auch „Smart Factory“ verwechselt, doch beides greift zu kurz! In der Umsetzungsempfehlung für Industrie 4.0 werden drei Grundvoraussetzungen genannt, die das Thema ab- beziehungsweise eingrenzen: 1.Horizontale Integration der Wertschöpfungskette über Unternehmensgrenzen hinweg: Von der Entwicklung eines Produkts bis zur Auslieferung. 2.Vertikale Integration mit vernetzten Produktionssystemen, bidirektional bis hinunter auf die Maschinenebene: Kommandos werden zur Produktbearbeitung abgesetzt, aber auch ebenso können Maschinen und Produkte Daten bis hinein in das ERP zur Geschäftssteuerung zurücksenden. 3.Digitale Durchgängigkeit des Engineerings über den Produktlebenszyklus und des zugehörigen Produktionssystems: Technologiebrüche vermeiden! Soweit die Theorie – ganz losgelöst von der Technologie. Schauen wir uns aber nun einmal den aktuellen Stand von Industrie 4.0 in der Automobilindustrie an, wird dem geneigten Leser schnell klar, warum die digitale Zukunft sich doch nicht so einfach gestalten wird: Hürde #1: Effizienzdruck in der Kernwertschöpfung Die Serienfertigung am Band wurde ziemlich genau vor 100 Jahren (durch Ford) eingeführt und seitdem gnadenlos auf Effizienz getrimmt und optimiert. Im Einzelnen heißt dies, es wurden > Herstellungskosten und Ausfallzeiten minimiert, > Logistik und Sequenzierung optimiert, > Ausstoß (gebaute Einheiten pro Tag) und Qualität maximiert. In der Serienfertigung zählt jede Minute und die in den letzten 10 Jahren durch Kundenindividualisierung bei der Fahrzeugkonfiguration drastisch zugenommene Komplexität hat die Automobilfertigung durchaus zu einer Herausforderung wachsen lassen. Dieses optimierte und zugleich fragile Gebilde ändert man ungern ab, da der Druck zur Produktivität immens ist. Zudem drückt als weitere Folge der Komplexität die zunehmende Anzahl von Rückrufen auf die ohnehin sensible Umsatzrendite. Aus diesen Gründen will niemand „Experimente“ verantworten, die kostenintensiv sind oder Produktionsausfälle verursachen könnten. Stattdessen werden nur hier und dort vorsichtig kleinere Lösungen pilotiert – sofern man immer noch eine Back-Up-Lösung in der Hinterhand hat. Lösungsansatz: Sofern Industrie 4.0 zur „Chefsache“ erklärt wird, müssen auch abseits des Tagesgeschäfts die nötigen Freiräume oder aber unabhängige „Start-Up“-Zellen geschaffen werden. Hürde #2: Unterschiedliche Kulturen Oftmals treffen Welten aufeinander, wenn die IT mit einem Werksleiter oder einem Automatisierungstechniker redet, die schlicht an den unter #1 genannten Zielen gemessen werden. Die IT geht mit dem guten Vorsatz auf den Fachbereich zu, dessen Bedarfe festzustellen und Ansätze zur Prozessoptimierung zu identifizieren. Der Fachbereich dagegen spricht oftmals lieber über konkrete Technologien. Da wird z.B. schon mal zum Test die Datenbrille beschafft oder man fragt sich gerade, wieso sich ein neues Handling-Gerät mit IP-Adresse nicht so ohne weiteres ins Netz hängen lässt (Sicherheitsanforderungen). Blickt man weiter über den Tellerrand hinaus zu den weltweit verteilten Fertigungsstätten, merkt man schnell: Jedes Werk ist anders – oder behauptet es zumindest. Lösungsansatz: Über die Etablierung der notwendigen Organisationsstrukturen mit Innovationsmanagern, gemischten Teams, Detecon Management Report dmr • Special Automotive 2015 >Die zentrale IT kümmert sich meist um Rechenzentren, Netze und global verfügbare Applikationen. Jedes Werk hat aber auch seine eigene, lokale IT-Mannschaft, die in der Matrix- Organisation zwischen zentraler IT und Werk hängt („solid/ dotted Line“). dedizierten Aufgaben und Gremien kann der Boden für gemeinsames Verständnis und Ziele bereitet werden. Hürde #3: Fehlende Governance und Zusammenarbeitsmodelle >Wenn Maschinen oder Produkte (z.B. über sogenannte Verortungslösungen) vernetzt werden, wird der klassischen „MESPyramide“ ein weiterer Layer hinzugefügt (siehe Abbildung). Bei diesen echten Industrie-4.0-Lösungen ist jedoch unklar, wer die Verantwortung trägt, da sie einerseits direkt in die Produktion (d.h. Verantwortung Fachbereich) eingreifen, andererseits aber auch die sichere Anbindung an die Netze und Systeme gewährleistet sein muss, um z.B. das Produkt (Fahrzeug) mit dem Kundenauftrag zu verknüpfen (Verantwortung IT). Meist bekommt die zentrale IT vom oberen Management den Auftrag, Industrie 4.0 und Innovation „voranzutreiben“ – auf Konferenzen oder in Interviews ist der Druck groß, zu dem Thema aussagefähig zu sein. Aber wo wird das Thema dann ausgebremst? Tatsächlich sind Matrixorganisationen ideal dazu geschaffen, Innovation im Keim zu ersticken und Standards zu verhindern: > Fachbereiche haben andere Zielvorgaben als die nachgelagerte IT (s.o.) und stimmen sich meist nur dann ab, wenn es um die Schnittstellen zwischen MES (Manufacturing Execution System) und ERP geht. In den Diskussionen wird dann generell sehr viel Energie auf die Bemühungen für Standardisierung verwendet. >Die großen OEMs haben meist noch spezielle Testfabriken, um neue Automatisierungstechnologien zu prüfen. Diese sind aber i.d.R. auf die Hardwareseite fixiert, wohingegen Industrie 4.0 maßgeblich auch die Netzwerk-, Daten- und Applikationsseite umfasst! Lösungsansatz: Alle o.g. Einheiten laufen erst im zentralen Vorstand zusammen – und genau dort muss die Hoheit über das Thema Industrie 4.0 liegen, um die Governance mit allen Stake- >Die Werke sind unabhängige Geschäftseinheiten und stehen häufig sogar in Konkurrenz, wenn es um die Bewerbung für den Bau einer neuen Modellreihe geht. Abbildung: Zukünftige IT in der Produktion im Kontext Industrie 4.0 – das bereits in der Fertigung vernetzte Produkt bildet einen weiteren Layer Einkauf Lieferanten Produktionsplanung Logistik Sequenzierung Lagerverwaltung ERP Kundenauftragsmanagement Durchgängiger bidirektionaler Datenaustausch MES Sequenzierung, Fabriksteuerung Shopfloor IT Operationen am Band Produkt Quelle: Detecon Detecon Management Report dmr • Special Automotive 2015 Vernetzung und Verortung holdern zu ermöglichen. Letztlich handelt es sich bei dem Thema tatsächlich um eine weitreichende Business Transformation, welche Wettbewerbsvorteile (nur dann) bringen kann, wenn man sie richtig auf den Weg bringt. Ganz ähnlich verhält es sich übrigens mit dem Thema Connected Car, bei dem erstmalig das Problem erkannt und als Lösung die Vorstandsposition eines Chief Digital Officers vorgeschlagen wurde (CDO). Hürde #4: Veraltete, monolithische Produktionssysteme Eine „Operation am offenen Herzen“ mag niemand versuchen – wie kann man dennoch Veränderungen auf den Weg bringen? Es ist bislang nicht absehbar, dass sich die Produktion, die seit gut 100 Jahren nach dem gleichen, sequentiellen Muster der Bandfertigung abläuft, in den nächsten Jahren w esentlich ändert. Die produzierenden Unternehmen haben fast alle in den 90ern mit sehr großem Aufwand die Produktionssysteme an das SAP angebunden – dies war allein schon wegen der komplexer werdenden Logistik und der Sicherstellung des Materialflusses im richtigen Moment notwendig (Sequenzierung). Im Laufe der Zeit wurden diese großen, monolithischen Produktionssysteme weitab jedes Standards um immer mehr Sonderlösungen erweitert. Aufgrund der direkten Verzahnung mit der Kernwertschöpfung – nämlich den Bau von Automobilen – bilden sie das Herzstück und können in bestehenden, aktiven Fabriken praktisch gar nicht mehr abgelöst werden. Darum fokussiert man sich meist auf den sogenannten Green Field Approach, also auf neue Fabriken – ohne bislang aber eine echte Alternative zu dem Altsystem zu haben. Nur kleinere, neue Komponentenwerke lassen sich vielleicht mit einer Standard-MES-Lösung fahren. Altfabriken werden also aufgrund ihrer Struktur der Bandfertigung mit monolithischen Systemen, die sich zudem nicht mehr in die Leitplanken einer modernen IT-Architektur zwingen lassen, nur in kleinen evolutionären Schritten geändert werden können. Mehr Effizienz ist vielleicht noch durch weitergehende Ablösung der Werker durch Robotik zu erzielen. Hier steht man aber zurzeit noch eher an einer Vorstufe – gerade fallen die Schutzzäune zugunsten sogenannter Leichtbauroboter (z.B. Kuka LBR), die den kompletten Arm mit Sensoren bestückt haben, auf Berührungen sofort reagieren und daher mit Menschen Hand in Hand arbeiten, bzw. v.a. ältere Werker entlasten können. Lösungsansatz: Damit zumindest bei den neuen Fabriken eine echte Industrie-4.0-Revolution greift, müsste man in geradezu radikaler Abkehr von der (sequentiellen) Bandfertigung auf eine sogenannte Stationsfertigung umstellen, d.h. nach Schweißen, Lackieren und Ausstattung mit einem sogenannten Tag zur Verortung in der Fabrik sucht sich das Fahrzeug seinen Weg durch die Produktion selbst! Die Technologien dazu sind durchaus vorhanden – z.B. der Transport durch Automated Guided Vehicles (AGV), was zudem enorm Fläche einsparen würde, weil dann fix installierte Förderbänder nicht mehr gebraucht werden. Jedoch wird dadurch leider das Problem des Materialflusses noch komplexer (Just-in-Time, Just-in-Sequence, Just-in-Location). Wenn allerdings dieser Zeitpunkt tatsächlich kommen sollte, wird vermutlich das Automobil auch nicht mehr das sein, was es einmal war – eher eine Art vollautomatisches, elektrifiziertes Kabinentaxi aus vielen gedruckten und verklebten Kunststoffteilen, welches man nach Bedarf bucht. Rennsport adé. Hürde #5: Fehlendes Zielbild und Industrie-4.0-Strategie Es findet sich meist aus den o.g. Gründen noch keine ganzheitliche, abgestimmte Roadmap bzw. ein Zielbild. Neben den fehlenden, gemischten Teams und der Abstimmung der Stakeholder in entsprechenden Gremien liegen noch nicht einmal für die Teilbereiche Strategien vor (z.B. nur Werks-IT oder nur Automatisierungstechnik). Dies entspricht einem reinen, technologiegetriebenen BottomUp-Ansatz: Anwendungen (Use-Cases) werden nicht nach Bedarf entwickelt, sondern man probiert einfach aus, wofür eine Technologie taugt. Lösungsansatz: So sehr dies auch seinen Reiz haben mag – eine Fabrik ist keine Start-Up-Garage im Silicon Valley und Technologie darf nicht zum Selbstzweck verkommen. Es bedarf vielmehr der Einigung der Stakeholder auf eine Priorisierung der Domänen (z.B. Produktionsplanung) im Einklang mit der Konzernstrategie – z.B. die Vorgabe, die Zeit zwischen Bestellung und Auslieferung zu verkürzen oder flexibler fertigen zu können. Erst dann ist man in der Lage, Technologien auf Reifegrad und deren Anwendungen hinsichtlich ihres Beitrags zur Strategie zu evaluieren! Der richtige Ansatz ist eine gesunde Mischung aus BottomUp- (d.h. Technologien „verproben“) und Top-Down-Strategie(Konzernstrategie als „Big Picture“, Anforderungsaufnahme aus den Fachbereichen sowie Priorisierung der Produktions domänen) Darüber hinaus müssen in einem iterativen Prozess jedes Jahr neue (oder reifer gewordene) Technologien erkannt, geprüft und mögliche Anwendungen in den priorisierten (d.h. strategischen) Domänen geprüft werden. Detecon Management Report dmr • Special Automotive 2015 Hürde #6: Unzureichende Architektur ohne End-to-End Security Die Erblast eines alten MES mit dessen wenig durchgängigen Schnittstellen sowie geringer Vernetzung hat durchaus einen Vorteil: Das Herzstück der Kernwertschöpfung ist von außen kaum angreifbar. Industrie 4.0 beruht jedoch auf horizontaler – d.h. entlang der gesamten Unternehmens-Wertschöpfungskette – und vertikaler Vernetzung (vom ERP, MES, Shopfloor-IT bis hinunter zum Produkt). Eine Vernetzung über den Kernwertschöpfungs prozess bedeutet somit Chancen für mehr Effizienz und Synergien, aber auch ein erhöhtes Risiko (Bsp: Stuxnet). Lösungsansatz: IT-Architekten und Sicherheits-Experten müssen die Anwendungen mitgestalten und das ganze Konstrukt auf eine sichere End-to-End-Architektur setzen. Hierzu gehört v.a. eine detaillierte Anforderungsaufnahme – dies ist allerdings ein Standardvorgehen für eben diese Spezialisten. (Es sei an dieser Stelle der Hinweis erlaubt, dass Detecon seit über 10 Jahren in diesem Bereich Schulungen durchführt.) Hürde #7: Technologie als Selbstzweck Häufig werden Technologie und Use Case verwechselt. Tatsächlich ist es aber so, dass oftmals eine neue Technologie nach Einsatzprüfung verworfen wird, weil man nicht genug Fantasie für weitere Anwendungsfälle besaß. Ein berühmtes und schon 10 Jahre altes Beispiel hierfür betraf die Betreibergesellschaft des Frankfurter Flughafens, welche RFID zur Gepäckverfolgung einsetzen wollte, dies aber schließlich aus Kostengründen verwarf. Ein Einsatz ergab sich dann aber an ganz anderer Stelle: Im gesetzlich vorgeschriebenen Brandschutz – am Frankfurter Flughafen betrifft dies etwa 22.000 Klappen und Rauchmelder! Die RFID-Tags wurden letztendlich zur Prozessverbesserung in der Wartung eingesetzt: Der PDA des Technikers protokolliert Aufenthaltsdauer in der Nähe der Klappe und die digital dokumentierten Arbeiten können direkt ins SAP übertragen werden.* Lösungsansatz: Es gibt Standardverfahren, um ein Team zum „Thinking out of the box“ zu bewegen. Detecon hat hier erfolgreich im Telekom-Konzern die „Design-Thinking“-Methodik etabliert, welche über einen agilen, iterativen Prozess in kurzer Zeit in interdisziplinären Teams zu konkreten Ergebnissen führt (Bedürfnisanalyse, Ideenentwicklung, Rapid Prototyping). *http://www.computerwoche.de/a/fraport-spart-450-000-euro-pro-jahr,1051986 Detecon Management Report dmr • Special Automotive 2015 Des Weiteren ist es seitens des Managements wichtig, auch Fehler zuzulassen. Nicht immer verfolgt man von vorne herein den richtigen Weg. Fazit Über diese 7 Brücken muss man gehen, wenn man nach 100 Jahren sequentieller Bandfertigung vielleicht doch den Mut findet, einmal etwas grundlegend anders zu machen. Zwingend erforderlich sind aus unserer Sicht • Top Management Buy-In • Stakeholder-Management und Gremien zur organisationsübergreifenden Zusammenarbeit • Für konkrete Themenstellungen Zweierteams aus Fachbereich und IT bilden • Jährliches Technologie-Radar und fortwährende Evaluierung von möglichen Anwendungen • Innovationsmanagement mit Freiräumen für Kreativität, sowie einer gesunden Fehlerkultur • Aufnahme von Bedarf und Anforderungen aus den Fachbereichen • Ein abgestimmtes und verankertes Zielbild, welches jedoch flexibel genug sein muss, um den schnell ändernden Technologien Rechnung zu tragen Letztendlich gehört zu einem Hype auch eine gesunde Einschätzung, was aus der eigenen Situation heraus machbar erscheint. Eine Produktstrategie könnte auch lauten: „Wir machen nicht das, was wir schon immer gemacht haben, komplett neu, sondern besser.“ Dr. Thomas Siems ist Managing Partner und Leiter des Sector Automotive. Seine Leidenschaft ist die Innovationsgeschwindigkeit der Automobilindustrie.
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