Rechenzentrumsmigration Eine Reise zu den Wurzeln Ihres Unternehmens Viele Unternehmen stehen vor der Herausforderung, IT-Strategie und Infrastruktur neu zu denken und zu transformieren. Doch der Managementbeschluss zur Transformation ist nur der Beginn einer kulturellen und von vielen gewundenen Pfaden geprägten Veränderung. Ein Reisebericht. 56 Detecon Management Report dmr • 2 / 2015 ie Besichtigung des historischen Rechenzentrums gilt ge D meinhin als Highlight der Tour. Über die enge Kellertreppe gelangt man in die Katakomben des Unternehmens, vorbei an der abgeschalteten Personenvereinzelungsanlage, dorthin wo der Schatz sicher verborgen vor dem Zugriff von Außen ge hütet wird: die sensiblen Kundendaten und die von der eige nen Anwendungsentwicklung entworfenen Applikationen, die dem Unternehmen den entscheidenden Wettbewerbsvorsprung in der Prozessabwicklung geben. Hier in den Archiven lagern über Jahrzehnte hinweg die Daten auf Magnetbändern konser viert und von Robotern in stoischer Arbeit von ihrem wissens durstigen Einsatz hin zu ihrer letzten Ruhestätte bewegt. Durch die offenen Hallen weht die warme Abluft der Ventilatoren, ge sättigt vom Staub abgelaufener Updates, und einem gewaltigen Spinnennetz gleich spannt sich das blau-gelbe Kabelnetzwerk über den gedrungenen Raum. Alles hängt am seidenen Faden All das soll zu neuem Glanz auferstehen. Manch einem Server ist ein Weiterleben vergönnt, andere werden nach ihrem letzten Prozessortakt das letzte LED Lichtlein aushauchen. Die Beweg gründe für eine Migration sind vielfältig. Die Kapazitäten des Rechenzentrums reichen nicht mehr aus oder die Technik wird den aktuellen und zukünftigen Ansprüchen nicht mehr gerecht. Die neue Green IT-Strategie des Unternehmens verlangt nach aktuellen Energiestandards und neu erschlossene Geschäfts felder nach flexibleren Systemlandschaften und Virtualisierung. Neue Sicherheitslösungen jenseits altägyptischer Gift- und Stol perfallen und gesetzliche Vorgaben zwingen das Unternehmen zu einem Neubau. Nicht zuletzt der Verlust von Know-how durch die Pensionierung vieler altgedienter Kollegen aus dem IT-Bereich in den letzten Jahren und politische Beweggründe können Auslöser für eine Rechenzentrumsmigration sein. Doch was dem ersten Anschein nach einer aus dem Alltag ver trauten und überschaubaren Aufgabe aussieht, der Migration einiger „Schränke“ und kleinerer „Kisten“ von einem Ort zu einem anderen, ist im Falle eines Rechenzentrums deutlich komplexer und erfordert einen belastbaren Planungshorizont, Personalaufwand und Wissen, den das eigene Unternehmen aus eigener Kraft meist nicht in der Lage ist aufzubringen. 57 Detecon Management Report dmr • 2 / 2015 Enormer logistischer Aufwand Von der Erstellung eines Unternehmensausweises mit seinen personenbezogenen Daten bis zum Managementinformations system – alle Ebenen und Bereiche eines Unternehmens sind be troffen. Der tägliche E-Mailverkehr aller Mitarbeiter wird durch die Firewall im Rechenzentrum gefiltert und das Dokument zur Entscheidungsfindung auf oberster Managementebene soll auch im Reisefall über das VPN Netzwerk zur Verfügung stehen. Die Auswirkungen auf die internen und externen Geschäfts prozesse auch während der eigentlichen Migration sind auf ein Minimum zu beschränken, wobei ihre Abhängigkeiten und Einflussgrößen auf die IT-Infrastrukturkomponenten bekannt sein sollten, um ungeplante Einschränkungen zu vermeiden. Ohne Unterbrechung, bei möglicherweise mehreren hundert an einem solchen Unterfangen beteiligten Personen, sollte das Migrationsverfahren die Faktoren Zeit, Kosten und Risiken ausbalancieren und dabei gleichzeitig alle Verfügbarkeitsanfor derungen erfüllen. Wie bei einem Smartphone, dessen vielfältige Funktionen wir schätzen, wird der logistische Aufwand, den die Bereitstellung der Internetverbindung im Hintergrund erfordert und ohne die auch das allerneuste Gerät keinen Nutzen hat, leicht un terschätzt. Fällt das Rechenzentrum aus, ist das Tagesgeschäft nicht mehr möglich. Das Unternehmen zahlt Vertragsstrafen oder Ausfallkosten und hat mit einem möglichen Datenverlust und dem dazugehörigen Vertrauensverlust seiner Kunden zu kämpfen. Folgekosten bedingt durch die nicht-Arbeitsfähigkeit der Mitarbeiter entstehen und das Unternehmen erleidet im ungünstigsten Fall einen schweren Imageschaden bis hin zum Bankrott. Um die Transparenz über alle Projektphasen hinweg zu ge währleisten, bedarf es zuallererst einer genauen Bestandsauf nahme aller umzuziehenden Systeme. Hier sind weniger ITBerater-Skills gefragt als vielmehr detektivische Fähigkeiten und archäologische Engelsgeduld, um mit feinem Pinsel die Serien nummern und Erbauernamen der Fundstücke freizulegen und eine genaue zeitliche Datierung und Zuordnung zu internen Verantwortungsbereichen vornehmen zu können. Erst darauf kann eine belastbare und verzahnte Planung, ein zuverlässiges Projektcontrolling und eine lückenlose und nachvollziehbare Dokumentation zum Schutz gegen das Damoklesschwert der interen und externen Prüfer aufgebaut werden. Mit der entspre chenden Vorbereitung verliert die Demilitarisierte Zone (DMZ) ihren Schrecken und auch die Firewall ist kein unbezwingbarer mystischer Drache mehr, der als Wächter über die Unterneh menssicherheit unverrückbar auf seinen Posten verharrt. Im Verlauf dieser Vorbereitungen erkennt man allerdings immer mehr, warum es Rechenzentrum heißt und nicht etwa Rech nenzentrum - all das, was über viele Jahre an Erweiterungen und Dokumentation nicht nachgepflegt wurde, was an Updates und aktuellen Standards fehlt, das rächt sich jetzt. Auch die Gefährten für die Rechenzentrumsmigration bedürfen der sorgfältigen Auswahl. Ohne den weisen Reiseführer aus dem obersten Management sollte die Reise nicht begonnen werden und ohne die Experten in den jeweiligen Fachbereichen gelingt kein Anlegen im neuen Hafen. Von der Konzepterstellung bis hin zur Testplanung beim Wiederanlauf – auch hier spielen alle Ebenen und Funktionsbereiche des Unternehmens eine wichtige Rolle, alle sitzen im gleichen Boot. Im besonderen Falle eines geplanten RZ-Outsourcing sollte sich die Mannschaft zusätzlich auf mögliche kulturelle Verän derungen einstellen. Wo früher der Gang ins Nachbarbüro aus reichte, um sein nach dem Urlaub vergessenes Passwort zurück setzen zu lassen, muss zukünftig der Prozess des Dienstleisters eingehalten werden. Gerudert wird jetzt nur noch auf vertrag lich festgesetzter Basis und unter Einhaltung der vereinbarten Servicezeiten! Hier liegt sicherlich die größte Zäsur für die Mit arbeiter: Eine tragfähige Kooperation aufzubauen mit einem Partner, der auf alle Unternehmensebenen Einfluss nimmt und dem man seinen gesamten Datenschatz anvertraut. 58 Detecon Management Report dmr • 2 / 2015 Anspruchsvolle Zeitliche Planung Abnahme beendet die Reise Ist die Vorarbeit geleistet, geht es an die eigentliche Reise planung. Eine der ersten Fragen gilt natürlich den Feiertagen, langen Wochenenden, Ferienterminen und freien Wartungs fenstern. Nicht, wie man meinen würde, um an einem langen Wochenende ausreichend Zeit für eine Migration inklusive Fall backszenario außerhalb der regulären Servicezeiten und somit ohne Betriebsausfall zu haben, nein, es geht natürlich um die Verfügbarkeit der Mitarbeiter am jeweiligen Termin. Sie erken nen das Dilemma? Beantragung von Sonderarbeitszeiten für Mitarbeiter nachts und am Wochenende können Monate dau ern, Urlaube werden oft schon im Vorjahr eingereicht. Am Reiseziel angekommen läuft der Prozess nun wieder rück wärts ab. Die Versiegelung aller Behälter muss intakt sein, jede Komponente, die einen Fahrschein gelöst hat, muss auch an der Endhaltestelle angekommen sein. Dann folgen das Entladen, der Transport zum Raum, der Aufbau und der orchestrierte Wiederanlauf mit allen notwendigen Testläufen auf Netzwerk-, System- und Applikationsebene. Nacharbeiten stehen direkt oder in den folgenden Wochen an. Nach erfolgreicher Reise fehlt jetzt nur noch die Abnahme durch den Betrieb und einem möglichen Revisor. Hat man einige Termine identifiziert, die Einzelschritte von der Generalprobe über eine Pilotphase bis zur Hauptmigration auf die Termine aufgeteilt, müssen die beteiligten Projektteams, die technischen Komponenten, Dienstleister und Speditionen in einem gemeinsamen zentralen Ablaufplan zusammengefasst werden. Einem Hollywoodrehbuch gleich wird jede Aktion, je der Meldepunkt und jede Entscheidung vorab festgelegt. Vom Backup der Systeme, über das Herunterfahren der betroffenen Applikationen, dem Abbau, dem Transport, dem Wiederaufbau, dem Hochfahren und dem Test aller Funktionen soll alles seinen vorherbestimmten Weg gehen. Sollte doch ein Schritt von der Planung abweichen und ein System ausfallen, so greift der vorab beschlossene Incident- und Defektprozess, um die strukturierte Bearbeitung sicherzustellen. Besonders die Unwägbarkeiten im Falle eines physischen Transports über weite Strecken bedürfen einer detaillierten Planung. Unfälle und Stau sind nur ein Teil der möglichen Hindernisse für einen reibungslosen Stapellauf. Die fehlende Hebebühne im Rechenzentrum, Gewichts- und Größenproblematiken im Gebäude sind häufiger die Ursache für unerwartete Verzögerungen. Wo früher große Mainframe blöcke auf Baumstammrollen bewegt wurden, sind es heute die soeben abgeschalteten Server, die auf luftgefederten klimatisier ten Spezialtransportern erschütterungsfrei und im IT-gerechten Klima transportiert werden. Personaleinsatz für ein Wochenende: Zwischen 50, aber mög licherweise auch 250 Personen, Verpflegungsversorgung wäh rend der Migration, Kosten und Dienstausgleichszeiten für die Mitarbeiter in den folgenden Wochen inklusive. Hier endet die Reise nicht. Es folgt: Die Migration des BackupRechenzentrums... Ulrich Trauzettel ist spezialisiert im Bereich IT-Infrastruktur, Prozess beratung und Produktionsoptimierung. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich Rechenzentrumsmigration und Konsolidierung sowie Industrie 4.0 im öffentlichen und industriellen Sektor. Christian Skock berät seit über 15 Jahren Kunden branchenübergreifend in Fragen zu komplexen IT-Infrastrukturen, speziell zu rechenzentrumsnahen Themen wie Assessments, Migrationen und Konsolidierungen sowie Neuund Umbauten von Rechenzentren. 59 Detecon Management Report dmr • 2 / 2015
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