Eine Reise zu den Wurzeln Ihres Unternehmens

Rechenzentrumsmigration
Eine Reise zu den Wurzeln
Ihres Unternehmens
Viele Unternehmen stehen vor der Herausforderung, IT-Strategie und Infrastruktur neu zu denken und
zu transformieren. Doch der Managementbeschluss zur Transformation ist nur der Beginn einer kulturellen und von vielen gewundenen Pfaden geprägten Veränderung. Ein Reisebericht.
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ie Besichtigung des historischen Rechenzentrums gilt ge­
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meinhin als Highlight der Tour. Über die enge Kellertreppe
gelangt man in die Katakomben des Unternehmens, vorbei an
der abgeschalteten Personenvereinzelungsanlage, dorthin wo
der Schatz sicher verborgen vor dem Zugriff von Außen ge­
hütet wird: die sensiblen Kundendaten und die von der eige­
nen Anwendungsentwicklung entworfenen Applikationen, die
dem Unternehmen den entscheidenden Wettbewerbsvorsprung
in der Prozessabwicklung geben. Hier in den Archiven lagern
über Jahrzehnte hinweg die Daten auf Magnetbändern konser­
viert und von Robotern in stoischer Arbeit von ihrem wissens­
durstigen Einsatz hin zu ihrer letzten Ruhestätte bewegt. Durch
die offenen Hallen weht die warme Abluft der Ventilatoren, ge­
sättigt vom Staub abgelaufener Updates, und einem gewaltigen
Spinnennetz gleich spannt sich das blau-gelbe Kabelnetzwerk
über den gedrungenen Raum.
Alles hängt am seidenen Faden
All das soll zu neuem Glanz auferstehen. Manch einem Server
ist ein Weiterleben vergönnt, andere werden nach ihrem letzten
Prozessortakt das letzte LED Lichtlein aushauchen. Die Beweg­
gründe für eine Migration sind vielfältig. Die Kapazitäten des
Rechenzentrums reichen nicht mehr aus oder die Technik wird
den aktuellen und zukünftigen Ansprüchen nicht mehr gerecht.
Die neue Green IT-Strategie des Unternehmens verlangt nach
aktuellen Energiestandards und neu erschlossene Geschäfts­
felder nach flexibleren Systemlandschaften und Virtualisierung.
Neue Sicherheitslösungen jenseits altägyptischer Gift- und Stol­
perfallen und gesetzliche Vorgaben zwingen das Unternehmen
zu einem Neubau. Nicht zuletzt der Verlust von Know-how
durch die Pensionierung vieler altgedienter Kollegen aus dem
IT-Bereich in den letzten Jahren und politische Beweggründe
können Auslöser für eine Rechenzentrumsmigration sein.
Doch was dem ersten Anschein nach einer aus dem Alltag ver­
trauten und überschaubaren Aufgabe aussieht, der Migration
einiger „Schränke“ und kleinerer „Kisten“ von einem Ort zu
einem anderen, ist im Falle eines Rechenzentrums deutlich
komplexer und erfordert einen belastbaren Planungshorizont,
Personalaufwand und Wissen, den das eigene Unternehmen aus
eigener Kraft meist nicht in der Lage ist aufzubringen.
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Enormer logistischer Aufwand
Von der Erstellung eines Unternehmensausweises mit seinen
personenbezogenen Daten bis zum Managementinformations­
system – alle Ebenen und Bereiche eines Unternehmens sind be­
troffen. Der tägliche E-Mailverkehr aller Mitarbeiter wird durch
die Firewall im Rechenzentrum gefiltert und das Dokument zur
Entscheidungsfindung auf oberster Managementebene soll auch
im Reisefall über das VPN Netzwerk zur Verfügung stehen.
Die Auswirkungen auf die internen und externen Geschäfts­
prozesse auch während der eigentlichen Migration sind auf ein
Minimum zu beschränken, wobei ihre Abhängigkeiten und
Einflussgrößen auf die IT-Infrastrukturkomponenten bekannt
sein sollten, um ungeplante Einschränkungen zu vermeiden.
Ohne Unter­brechung, bei möglicherweise mehreren hundert
an einem solchen Unterfangen beteiligten Personen, sollte das
Migrationsverfahren die Faktoren Zeit, Kosten und Risiken
ausbalancieren und dabei gleichzeitig alle Verfügbarkeitsanfor­
derungen erfüllen.
Wie bei einem Smartphone, dessen vielfältige Funktionen wir
schätzen, wird der logistische Aufwand, den die Bereitstellung
der Internetverbindung im Hintergrund erfordert und ohne
die auch das allerneuste Gerät keinen Nutzen hat, leicht un­
terschätzt. Fällt das Rechenzentrum aus, ist das Tagesgeschäft
nicht mehr möglich. Das Unternehmen zahlt Vertragsstrafen
oder Ausfallkosten und hat mit einem möglichen Datenverlust
und dem dazugehörigen Vertrauensverlust seiner Kunden zu
kämpfen. Folgekosten bedingt durch die nicht-Arbeitsfähigkeit
der Mitarbeiter entstehen und das Unternehmen erleidet im
ungünstigsten Fall einen schweren Imageschaden bis hin zum
Bankrott.
Um die Transparenz über alle Projektphasen hinweg zu ge­
währleisten, bedarf es zuallererst einer genauen Bestandsauf­
nahme aller umzuziehenden Systeme. Hier sind weniger ITBerater-Skills gefragt als vielmehr detektivische Fähigkeiten und
­archäologische Engelsgeduld, um mit feinem Pinsel die Serien­
nummern und Erbauernamen der Fundstücke freizulegen und
eine genaue zeitliche Datierung und Zuordnung zu internen
Verantwortungsbereichen vornehmen zu können. Erst darauf
kann eine belastbare und verzahnte Planung, ein zuverlässiges
Projektcontrolling und eine lückenlose und nachvollziehbare
Dokumentation zum Schutz gegen das Damoklesschwert der
interen und externen Prüfer aufgebaut werden. Mit der entspre­
chenden Vorbereitung verliert die Demilitarisierte Zone (DMZ)
ihren Schrecken und auch die Firewall ist kein unbezwingbarer
mystischer Drache mehr, der als Wächter über die Unterneh­
menssicherheit unverrückbar auf seinen Posten verharrt. Im
Verlauf dieser Vorbereitungen erkennt man allerdings immer
mehr, warum es Rechenzentrum heißt und nicht etwa Rech­
nenzentrum - all das, was über viele Jahre an Erweiterungen und
Dokumentation nicht nachgepflegt wurde, was an Updates und
aktuellen Standards fehlt, das rächt sich jetzt.
Auch die Gefährten für die Rechenzentrumsmigration bedürfen
der sorgfältigen Auswahl. Ohne den weisen Reiseführer aus dem
obersten Management sollte die Reise nicht begonnen werden
und ohne die Experten in den jeweiligen Fachbereichen gelingt
kein Anlegen im neuen Hafen. Von der Konzepterstellung bis
hin zur Testplanung beim Wiederanlauf – auch hier spielen
alle Ebenen und Funktionsbereiche des Unternehmens eine
­wichtige Rolle, alle sitzen im gleichen Boot.
Im besonderen Falle eines geplanten RZ-Outsourcing sollte
sich die Mannschaft zusätzlich auf mögliche kulturelle Verän­
derungen einstellen. Wo früher der Gang ins Nachbarbüro aus­
reichte, um sein nach dem Urlaub vergessenes Passwort zurück­
setzen zu lassen, muss zukünftig der Prozess des Dienstleisters
eingehalten werden. Gerudert wird jetzt nur noch auf vertrag­
lich festgesetzter Basis und unter Einhaltung der vereinbarten
Servicezeiten! Hier liegt sicherlich die größte Zäsur für die Mit­
arbeiter: Eine tragfähige Kooperation aufzubauen mit einem
Partner, der auf alle Unternehmensebenen Einfluss nimmt und
dem man seinen gesamten Datenschatz anvertraut.
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Anspruchsvolle Zeitliche Planung
Abnahme beendet die Reise
Ist die Vorarbeit geleistet, geht es an die eigentliche Reise­
planung. Eine der ersten Fragen gilt natürlich den Feiertagen,
langen Wochenenden, Ferienterminen und freien Wartungs­
fenstern. Nicht, wie man meinen würde, um an einem langen
Wochenende ausreichend Zeit für eine Migration inklusive Fall­
backszenario außerhalb der regulären Servicezeiten und somit
ohne Betriebsausfall zu haben, nein, es geht natürlich um die
Verfügbarkeit der Mitarbeiter am jeweiligen Termin. Sie erken­
nen das Dilemma? Beantragung von Sonderarbeitszeiten für
Mitarbeiter nachts und am Wochenende können Monate dau­
ern, Urlaube werden oft schon im Vorjahr eingereicht.
Am Reiseziel angekommen läuft der Prozess nun wieder rück­
wärts ab. Die Versiegelung aller Behälter muss intakt sein, jede
Komponente, die einen Fahrschein gelöst hat, muss auch an der
Endhaltestelle angekommen sein. Dann folgen das Entladen,
der Transport zum Raum, der Aufbau und der orchestrierte
Wiederanlauf mit allen notwendigen Testläufen auf Netzwerk-,
System- und Applikationsebene. Nacharbeiten stehen direkt
oder in den folgenden Wochen an. Nach erfolgreicher Reise
fehlt jetzt nur noch die Abnahme durch den Betrieb und einem
möglichen Revisor.
Hat man einige Termine identifiziert, die Einzelschritte von der
Generalprobe über eine Pilotphase bis zur Hauptmigration auf
die Termine aufgeteilt, müssen die beteiligten Projektteams,
die technischen Komponenten, Dienstleister und Speditionen
in einem gemeinsamen zentralen Ablaufplan zusammengefasst
werden. Einem Hollywoodrehbuch gleich wird jede Aktion, je­
der Meldepunkt und jede Entscheidung vorab festgelegt. Vom
Backup der Systeme, über das Herunterfahren der betroffenen
Applikationen, dem Abbau, dem Transport, dem Wiederaufbau,
dem Hochfahren und dem Test aller Funktionen soll alles seinen
vorherbestimmten Weg gehen. Sollte doch ein Schritt von der
Planung abweichen und ein System ausfallen, so greift der vorab
beschlossene Incident- und Defektprozess, um die strukturierte
Bearbeitung sicherzustellen. Besonders die Unwägbarkeiten im
Falle eines physischen Transports über weite Strecken bedürfen
einer detaillierten Planung. Unfälle und Stau sind nur ein Teil
der möglichen Hindernisse für einen reibungslosen Stapellauf.
Die fehlende Hebebühne im Rechenzentrum, Gewichts- und
Größenproblematiken im Gebäude sind häufiger die Ursache
für unerwartete Verzögerungen. Wo früher große Mainframe­
blöcke auf Baumstammrollen bewegt wurden, sind es heute die
soeben abgeschalteten Server, die auf luftgefederten klimatisier­
ten Spezialtransportern erschütterungsfrei und im IT-gerechten
Klima transportiert werden.
Personaleinsatz für ein Wochenende: Zwischen 50, aber mög­
licherweise auch 250 Personen, Verpflegungsversorgung wäh­
rend der Migration, Kosten und Dienstausgleichszeiten für die
Mitarbeiter in den folgenden Wochen inklusive.
Hier endet die Reise nicht. Es folgt: Die Migration des Back­upRechenzentrums...
Ulrich Trauzettel ist spezialisiert im Bereich IT-Infrastruktur, Prozess­
beratung und Produktionsoptimierung. Seine Schwerpunkte liegen im
­Bereich Rechenzentrumsmigration und Konsolidierung sowie Industrie 4.0
im öffentlichen und industriellen Sektor.
Christian Skock berät seit über 15 Jahren Kunden branchenübergreifend in
Fragen zu komplexen IT-Infrastrukturen, speziell zu rechenzentrumsnahen
Themen wie Assessments, Migrationen und Konsolidierungen sowie ­Neuund Umbauten von Rechenzentren.
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