Sonderthema April 2016 EU-Austritt Großbritanniens dürfte deutsche Wirtschaft kaum belasten Aktuelle Unsicherheit wird sich nur bei EU-Verbleib schnell auflösen (Un)Beschränkter Zugang zum Europäischen Binnenmarkt? Brexit belastet deutschen Außenbeitrag 2020 mit 5 Mrd. Euro Brexit? Don‘t panic! Postbank Research Seite 1 Sonderthema April 2016 Team Postbank Research Dr. Marco Bargel Chefvolkswirt [email protected] Heinrich Bayer [email protected] Dr. Lucas Kramer [email protected] Heinz-Gerd Sonnenschein [email protected] www.postbank.de Redaktionsschluss: 30. März 2016 Deutsche Postbank AG Zentrale Friedrich-Ebert-Allee 114-126 53113 Bonn Telefon: (0228)920-0 Disclaimer: Alle hier veröffentlichten Angaben erfolgen unverbindlich und stellen Informationsmaterial dar, also weder eine Anlageberatung noch eine Aufforderung zum Kauf oder Verkauf irgendeines Wertpapiers. Die Informationen in diesem Dokument wurden aus Daten erarbeitet, von deren Richtigkeit ausgegangen wurde; die Deutsche Postbank AG garantiert diese jedoch nicht. Die Angaben dienen ausschließlich zur Information, die dem Investor eine selbständige Anlageentscheidung erleichtern soll. Postbank Research Seite 2 Sonderthema April 2016 EU-Austritt Großbritanniens dürfte deutsche Wirtschaft kaum belasten Spätestens seit dem letzten EU-Gipfel steht die Diskussion über einen möglichen Austritt Großbritanniens aus der EU (Brexit) wieder ganz oben auf der politischen Agenda in Europa. Wie schon in der Vergangenheit – Britenrabatt, Opt-Out von Teilen der europäischen Gesetzgebung und -regulierung, keine währungspolitische Integration – konnte Premierminister David Cameron auf dem Gipfeltreffen vom 18. bis 20. Februar dieses Jahres wieder einmal weitreichende Zugeständnisse und Sonderregelungen, diesmal für den Fall eines Verbleibs seines Landes in der EU, aushandeln. So sollen beispielsweise zugewanderte Arbeitnehmer aus anderen EU-Staaten in Großbritannien zukünftig erst nach vier Jahren Anspruch auf volle Sozialleistungen haben sowie Kindergeldzahlungen an die Leistungshöhe im Herkunftsland angepasst werden. Zudem wurde vereinbart, dass sich Großbritannien nicht vollumfänglich an den weiteren Prozessen zur Schaffung einer „ever closer union“ beteiligen muss. Während London mehr Mitspracherechte bei für das Land relevanten Entscheidungen der Eurozone erhält, wird es aber auch weiterhin kein diesbezügliches Vetorecht geben. Angesichts dieses jüngsten Verhandlungserfolgs sah Premierminister Cameron sich nachfolgend in der Lage, im Vorfeld des für den 23. Juni 2016 geplanten Referendums bei der britischen Bevölkerung aktiv für ein „Ja“ zu einem Verbleib des Landes in der EU zu werben. Aktuelle Unsicherheit dürfte sich nur bei EU-Verbleib schnell auflösen Die aktuelle Berichterstattung sowie die zahlreichen Meinungsumfragen lassen aber bislang keine eindeutige Tendenz hinsichtlich des zu erwartenden Abstimmungsergebnisses erkennen, zumal auch das Lager der EU-Skeptiker nach dem EUGipfel unter anderem mit Boris Johnson, Bürgermeister Londons und parteiinterner Rivale Camerons, prominenten Zulauf erhalten hat. Zudem hat die Führung in den Meinungsumfragen wie schon in der Ver- Postbank Research Meinungsumfragen lassen keine klare Tendenz für das Referendum erkennen Prozent 50 50 45 45 40 40 35 35 30 201 3 201 4 Bleiben 201 5 201 6 30 Verl assen Quelle: YouGov gangenheit auch in den letzten Monaten noch mehrfach zwischen den Lagern der Befürworter und Gegner eines EU-Verbleibs gewechselt. Ein deutliches Ergebnis des Referendums ist vor diesem Hintergrund nicht zu erwarten. Vielmehr gehen wir davon aus, dass die Volksabstimmung letztlich einen knappen Sieg der Befürworter des EU-Verbleibs zeigen wird. In diesem Fall sollte sich die Unsicherheit, die sich zuletzt noch einmal verstärkt an den Finanzmärkten – und hier insbesondere am Devisenmarkt, wo das Pfund gegenüber den weltweit wichtigsten Währungen auf breiter Front abwertete – bemerkbar gemacht hat, schnell auflösen. Auch in den vergangenen Monaten zurückgehaltene (ausländische) Investitionen dürften kurzfristig nachgeholt werden, so dass eine nachhaltige Schädigung der britischen Konjunktur nicht zu befürchten ist. Für den Fall, dass die Briten mehrheitlich gegen einen Verbleib ihres Landes in der EU stimmen, sind hingegen negative Wachstumseffekte in Großbritannien zu erwarten, die sich aufgrund der starken außenwirtschaftlichen Verflechtung auch auf andere EUMitgliedsstaaten auswirken dürften. Dies gilt in besonderem Maße für die exportorientierte deutsche Wirtschaft, für die Großbritannien die drittwichtigste Exportdestination ist. Für eine Abschätzung der Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft müssen dabei aber zunächst Annahmen Seite 3 Sonderthema April 2016 über die konkrete Ausgestaltung eines EUAustritts Großbritanniens getroffen werden, wobei insbesondere der zukünftige Zugang des Landes zum Europäischen Binnenmarkt relevant ist. (Un)Beschränkter Zugang zum Europäischen Binnenmarkt? Im Gegensatz zur EWU (vergleiche die Grexit-Diskussionen) ist in den EU-Verträgen der Austritt eines Mitgliedsstaates explizit vorgesehen und ein konkretes Verfahren hierfür festgelegt. Sollten die Briten mehrheitlich gegen einen Verbleib ihres Landes in der EU stimmen, müsste die britische Regierung beim Europäischen Rat – dem Gremium der Staats- und Regierungschefs der EU – nach Artikel 50 des Lissabon-Vertrags einen Austrittsantrag stellen. Hierdurch werden Austrittsverhandlungen zwischen Großbritannien und der EU – vertreten durch die Europäische Kommission – in Gang gesetzt, die in einem Austrittsabkommen münden sollen, welches vom Europäischen Rat und vom Europäischen Parlament ratifiziert werden muss und spätestens nach Ablauf von zwei Jahren in Kraft tritt. Während Großbritannien für die Dauer dieser Verhandlungsphase vollwertiges EUMitglied bleibt, werden die Auswirkungen des Austritts im Folgenden wesentlich davon abhängen, wie die Beziehungen zur EU konkret ausgestaltet sind. Ziel der britischen Regierung in den Verhandlungen dürfte es dabei sein, einen möglichst umVerschiedene Szenarien für den EUAustritt Großbritanniens denkbar Freihandelszone und eingeschränkter Zugang zum Europäischen Binnenmarkt Integrationsgrad Vollkommen unabhängig BIPAbschlag GB 2020 3% Ähnlich EUVollmitglied 1% 0,5% Quelle: Postbank Postbank Research fassenden Zugang zum Europäischen Binnenmarkt sicherzustellen. Allerdings ist die aus britischer Sicht überbordende EU-Regulierung das wesentliche Argument für einen Austritt, so dass London diesbezüglich eine weitreichende Unabhängigkeit anstreben wird. Die EU sieht sich in den Verhandlungen wiederum ihrerseits einem Zielkonflikt ausgesetzt. Einerseits möchte sie die Handelsbeziehungen zu Großbritannien nicht zu stark beschränken, weil dadurch ein wichtiger Exportmarkt für zahlreiche europäische Unternehmen an Attraktivität verlöre. Andererseits will sie in den Austrittsverhandlungen ein klares Signal in Richtung anderer Mitgliedsstaaten aussenden, dass ein EU-Austritt nicht kostenlos zu haben ist. Somit sind als Ergebnis der Verhandlungen unterschiedliche Szenarien denkbar. Diese bewegen sich hinsichtlich des Integrationsgrads mit der EU zwischen dem Status eines vollkommen unabhängigen Drittlands ohne jedwede Privilegien auf der einen und einem Vollmitglied-ähnlichen Status – vollständiger Zugang zum Binnenmarkt, aber keine Mitspracherechte und Sonderregelungen, vergleichbar mit Norwegen – auf der anderen Seite, wobei nach unserer Einschätzung beide Extremszenarien gleichermaßen unwahrscheinlich sind. Wir gehen davon aus, dass sich Großbritannien und die EU zumindest auf eine gemeinsame Freihandelszone einigen werden, so dass keine neuen Zollschranken aufgebaut werden. Dies schließt aber nicht-tarifäre Handelshemmnisse keinesfalls aus, die beispielsweise aus unterschiedlichen Standards für Güter im internationalen Warenhandel resultieren können, wenn Großbritannien Teile der in nationales Recht umgesetzten EU-Gesetzgebung nach seinem Austritt rückgängig macht. Zu erwarten ist aus unserer Sicht auch, dass ein Freihandelsabkommen um einen eingeschränkten Zugang zum EU-Binnenmarkt in Form einzelner Verträge – vergleichbar mit der Schweiz – ergänzt wird. So könnte Großbritannien einerseits den freien Kapitalund Zahlungsverkehr mit der EU beibehalten, um die Attraktivität des Finanzplatzes London nicht zu gefährden. Andererseits könnte die aus Sicht vieler britischer Bürger besorgniserregende Migration vor dem Seite 4 Sonderthema April 2016 Hintergrund der Flüchtlingskrise durch eine weitere Einschränkung der Personenfreizügigkeit nach eigener Vorstellung gesteuert werden. Im Falle verschiedener derartiger Nebenabsprachen zu einem Freihandelsabkommen würde die EU aber voraussichtlich zumindest auf einer Verknüpfung der einzelnen Verträge bestehen („GuillotineKlausel“), um ein einseitiges Rosinenpicken durch Großbritannien zu verhindern. Brexit belastet deutschen Außenbeitrag 2020 mit 5 Mrd. Euro Die deutsche Wirtschaft ist in hohem Maße von der Ausfuhr abhängig und exportierte 2015 Waren im Gegenwert von knapp 1.200 Mrd. Euro. In den letzten fünf Jahren sind die deutschen Exporte nach Großbritannien dabei annähernd doppelt so schnell gewachsen wie die gesamte deutsche Ausfuhr. Sie beliefen sich 2015 auf rund 89 Mrd. Euro, womit Großbritannien mit einem Anteil von 7,5% aktuell die drittwichtigste Exportdestination deutscher Unternehmen ist. Hinsichtlich der Warenstruktur entfiel knapp ein Drittel der Exporte nach Großbritannien alleine auf die Autoindustrie. Für die deutschen Autobauer und Zulieferer ist das Land mit einem Anteil von 13% (29 Mrd. Euro) knapp hinter den USA sogar der zweitwichtigste Exportmarkt weltweit. Im Rahmen unseres Basisszenarios – Freihandelszone und eingeschränkter Zugang zum Europäischen Binnenmarkt – dürfte das reale britische BIP in den kommenden fünf Jahren durchschnittlich nur noch mit 2,1% statt 2,3% pro Jahr wachsen. Im Vergleich zum Fortbestand der EU-Mitgliedschaft entspricht dies einer BIP-Einbuße von 1,0% im Jahr 2020. Da Großbritannien während der Verhandlungsphase zunächst vollwertiges EU-Mitglied bleibt, dürften die negativen Wachstumseffekte in den Jahren 2016 bis 2018 primär auf die erhöhte Unsicherheit zurückzuführen sein, welche insbesondere über eine rückläufige Investitionsdynamik das BIP-Wachstum belasten sollte. Nach erfolgtem Austritt dürften dann auch leichte Beschränkungen des Außenhandels das Wirtschaftswachstum verringern, da auch im Rahmen einer Frei- Postbank Research handelszone nicht-tarifäre Handelshemmnisse – beispielsweise aufgrund unterschiedlicher Regulierung – auftreten können. Unter der Annahme, dass die deutschen Exporte nach Großbritannien in den kommenden Jahren wie in der Vergangenheit durchschnittlich 2,5-mal so stark wachsen wie das britische BIP, werden diese im Jahr 2020 nach unseren Berechnungen um lediglich knapp 2,5 Mrd. Euro niedriger ausfallen als bei einem Verbleib Großbritanniens in der EU. Insgesamt gehen den deutschen Exporteuren aufgrund der geringeren britischen Wachstumsdynamik damit von 2016 bis 2020 Erlöse in Höhe von knapp 7 Mrd. Euro verloren. Sollte es – auch wenn wir hiervon nicht ausgehen – doch zu einem weitgehenden Bruch mit der EU kommen, könnte das britische BIP im Jahr 2020 um 3,0% und die deutschen Exporte damit um rund 7 Mrd. Euro niedriger ausfallen. Im besten Fall – Großbritannien erhält weitgehenden Zugang zum Gemeinsamen Markt – rechnen wir mit einem BIP-Abschlag von lediglich 0,5% und damit nur mit einem geringen Minus bei den deutschen Exporten von 1,2 Mrd. Euro im Jahr 2020. Neben dem direkten Effekt verringerter Exporte nach Großbritannien auf das deutsche BIP-Wachstum werden aber zusätzlich indirekte Effekte zum Tragen kommen. Zum einen wird sich auch die Nachfrage der Briten nach Warenexporten anderer Handelspartner neben Deutschland schwächer entwickeln. Da in der Produktion der Exporte anderer Länder wiederum deutsche Produktionsanlagen und Vorerzeugnisse zum Einsatz kommen, dürfte das deutsche Exportwachstum zusätzlich belastet werden. Dieser negative Effekt auf den Außenbeitrag wird aber unseres Erachtens – zumindest weitestgehend – dadurch kompensiert, dass aufgrund des schwächeren deutschen Exportwachstums sich auch die deutsche Nachfrage nach importierten Vorprodukten schwächer entwickelt. Weitere Wirkungen werden zudem von der zu erwartenden Abwertung des britischen Pfunds im Fall eines EU-Austritts ausgehen, die potenziell die Preiswettbewerbsfähigkeit britischer Exporte auf dem Weltmarkt erhöht. Eine wesentliche Seite 5 Sonderthema April 2016 Belastung der deutschen Exporte in Drittstaaten durch eine verstärkte Konkurrenz seitens Großbritanniens halten wir aber für unwahrscheinlich. Gerade bei den deutschen Exportschlagern – Autos, Produktionsanlagen und Maschinen – kann die britische Industrie nur in Einzelfällen ernsthafte Konkurrenzprodukte vorweisen. Gleichwohl dürfte aber aufgrund des Preisvorteils in Deutschland eine Substitution zwischen in Deutschland produzierten und aus Großbritannien importierten Produkten einsetzen, die zu einem Anstieg der deutschen Importe und damit zu einer weiteren Belastung des BIP-Wachstums durch einen geringeren Außenbeitrag führt. Unter Berücksichtigung der genannten Effekte wird der Außenbeitrag zum deutschen BIP in unserem Basisszenario im Vergleich zu einem Verbleib Großbritanniens in der EU im Jahr 2020 rund 5 Mrd. Euro geringer ausfallen. Ein Austritt des Landes aus der EU hat damit nur einen vergleichsweise geringen Abschlag auf das deutsche BIP in Höhe von 0,2% im Jahr 2020 zur Folge. Eine weitere Belastung für Deutschland ergibt sich aber daraus, dass im Falle eines EU-Austritts mit Großbritannien der drittgrößte Nettozahler zum EU-Budget mit einem Nettobeitrag in Höhe von gut 4 Mrd. Euro entfällt. Wird der Fehlbetrag gemäß der bisherigen Budgetanteile auf die verbleibenden EU-Mitgliedsstaaten verteilt, ergibt sich für Deutschland eine zusätzliche Zahlungsverpflichtung in Höhe von rund 1,0 Mrd. Euro. Hinzu kommt, dass der Großbritannien aktuell drittgrößter Nettozahler zum EU-Budget DE FR GB NL IT SE AT FI DK deutsche Staatshaushalt durch die leichte Dämpfung der Konjunktur infolge des Brexits durch Mehrausgaben für Sozialleistungen und Steuermindereinnahmen zusätzlich belastet wird. Insgesamt gehen wir im Falle eines Brexits in unserem Basisszenario von einem moderaten Aufschlag auf die am BIP gemessene deutsche Defizitquote in Höhe von rund 0,1 Prozentpunkten im Jahr 2020 aus. Brexit? Don‘t panic! Letztlich stellt sich die Frage, inwieweit die in London ansässigen Banken nach einem Austritt weiter ihre Finanzdienstleistungen im Europäischen Binnenmarkt anbieten können, wobei wir aber von einer entsprechenden Sonderregelung ausgehen, die dies ermöglichen wird. Sollte eine Einigung hierüber in den Verhandlungen jedoch wider Erwarten nicht gelingen, haben zahlreiche, in London vertretene internationale Großbanken und Finanzdienstleister bereits angekündigt, ihr Europageschäft möglicherweise nach Frankfurt – dem nach London größten Finanzplatz in der EU – oder Paris verlagern zu wollen, so dass hieraus letztlich sogar positive Effekte für den Standort Deutschland resultieren könnten. Auch wenn wir weiterhin davon ausgehen, dass das Referendum am 23. Juni dieses Jahres ohnehin eine knappe Mehrheit für einen Verbleib Großbritanniens in der EU zeigen wird, dürften sich aus unserer Sicht selbst im Falle eines Brexits die wirtschaftlichen Auswirkungen für Deutschland in sehr engen Grenzen halten. Dies gilt aber nur unter der Voraussetzung, dass beide Seiten willens und fähig sind, auch im Falle des EU-Austritts eine weiterhin enge Anbindung Großbritanniens an die EU sicherzustellen, was insbesondere im Interesse der Briten sein dürfte. Dr. Lucas Kramer 0 5 10 15 Mrd. Euro Quelle: Europäische Union Postbank Research Seite 6
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