Alkoholfahrten unter 1,6 Promille - Neue Rechtsprechung in

Mitteilungen der Juristischen Zentrale
VERTRAGSANWÄLTE
Nr. 76/2015
14.12.2015 Kö
Alkoholfahrten unter 1,6 Promille
– Neue Rechtsprechung in Bayern und NRW –
Sehr geehrte Damen und Herren,
im Jahr 2014 haben wir Sie durch mehrere Mitteilungen (Vertragsanwälte Nr. 30, 47, 59, 69)
über die Rechtsprechung und Praxis zur MPU-Anordnung nach Trunkenheitsfahrten unter
1,6 Promille mit strafrechtlicher Entziehung informiert. Bisher wird die zwingende MPU-Anordnung unter dem Schwellenwert 1,6 ‰ ohne Zusatztatsachen in Baden-Württemberg, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein – richterlich bestätigt – praktiziert.
In den anderen Bundesländern erfolgte keine Festlegung bzw. wurde bisher an dem Grenzwert von 1,6 ‰ gemäß § 13 S. 1 Nr. 2c FeV festgehalten.
Bayern
Der VGH München hat sich mit seinem Urteil vom 17.11.2015 (Az. 11 BV 14.2738) erstmals der Meinung des VGH Mannheims (u. a. Urteil vom 07.07.2015, DAR 2015, 592) angeschlossen und gibt damit seine bisherige Rechtsauffassung ausdrücklich auf.
Im zugrunde liegenden Fall führte die Fahrerlaubnisinhaberin nach dem vormittäglichen
Konsum von Melissengeist ein Kraftfahrzeug über eine Kurzstrecke mit 1,28 ‰ ohne Ausfallerscheinungen. Das Strafgericht hatte nach § 69 StGB die Fahrerlaubnis entzogen. Da
die Betroffene der späteren MPU-Anordnung im Wiedererteilungsverfahren nicht nachkam,
lehnte die Fahrerlaubnisbehörde den Antrag ab. Das wurde vom VG Regensburg (Az. RO 8
K 14.1468) sowie im Berufungsverfahren bestätigt:
„Nach strafgerichtlicher Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 StGB), die auf einer Teilnahme am Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss beruht, ist im Wiedererteilungsverfahren unabhängig von der bei der Verkehrsteilnahme vorgelegenen Blutalkoholkonzentration die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens anzuordnen (Änderung der Rechtsprechung).“ (Amtlicher Leitsatz).
Die Pflicht der Fahrerlaubnisbehörde, eine MPU anzuordnen, ergebe sich aus § 13 Satz 1
Nr. 2 Buchstabe d FeV, wenn die Fahrerlaubnis aus einem unter den Buchstaben a – c genannten Gründen entzogen war; dies gelte auch bei einer strafgerichtlichen Entziehung. Bei
einer Entziehung nach einer Trunkenheitsfahrt (§ 69 StGB) sei daher die MPU erforderlich. Auf die Höhe der Blutalkoholkonzentration bei der Verkehrsteilnahme komme es nicht
an. Allein durch den Sperrzeitablauf sei die Fahreignung nicht wiedergewonnen, Eignungszweifel bestehen weiter. Ein behördlicher Ermessenspielraum bestehe nicht.
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Zwar hat der VGH München Wertungswidersprüche zwischen strafrechtlichen und fahrerlaubnisrechtlichen Vorschriften gesehen. Solange aber der Gesetz- und Verordnungsgeber
solche Wertungsunterschiede nicht beseitige, gelte der gesetzlich angeordnete Vorrang der
strafgerichtlichen Beurteilung (§ 3 Abs.4 StVG). Das gelte grundsätzlich auch bei Werten ab
0,3 ‰ i. V. m. alkoholbedingten Fahrfehlern.
Der VGH München hat die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung zugelassen.
Seit heute liegt auch die Bewertung des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, für
Bau und Verkehr vor. Die bayerischen Regierungs- und Fahrerlaubnisbehörden wurden
darüber informiert, dass bis auf Weiteres an der bisherigen Verfahrensweise festgehalten
werden soll (siehe VA-Mitteilung Nr. 69/2014). Das heißt für eine erstmalige Trunkenheitsfahrt mit strafgerichtlicher Entziehung soll im Wiedererteilungsverfahren weiterhin gelten:
‒
Bei einer BAK von 1,6 Promille oder mehr erfolgt stets die Anordnung einer MPU nach
§ 13 Satz 1 Nr. 2c FeV.
‒
Bei einer BAK von mindestens 1,1 Promille (absolute Fahruntüchtigkeit) und weniger als
1,6 Promille ist die Beibringung einer MPU nach § 13 Satz 1 Nr. 2d FeV nur dann anzuordnen, wenn im Einzelfall
o aus der strafgerichtlichen Entscheidung
o über den Promillewert hinaus weitere Anhaltspunkte hinzutreten,
o welche die Annahme einer Alkoholproblematik begründen.
Nordrhein-Westfalen
Auch in NRW gibt es neuere Rechtsprechung zur MPU-Anordnung nach einer Alkoholfahrt.
Das VG Düsseldorf hat mit Urteil vom 18.11.2015 (Az. 14 K 4226/15) eine MPU-Anordnung nach Trunkenheitsfahrt unter 1,6 ‰ bestätigt.
Bei dem zugrunde liegenden Fall fuhr der Fahrerlaubnisinhaber einen PKW mit 1,55 ‰ und
verursachte nachmittags einen Bagatellschaden; es wurden nur geringe alkoholbedingte
Auffälligkeiten festgestellt. Nach Entziehung der Fahrerlaubnis durch Strafbefehl forderte die
Behörde im Wiedererteilungsverfahren ein MPU-Gutachten. Aufgrund der Nichtvorlage wurde der Antrag auf Wiedererteilung abgelehnt. Die Verpflichtungsklage blieb ohne Erfolg.
Als Rechtsgrundlage für die Anordnung wurde § 13 S. 1 Nr. 2 e FeV bejaht. Danach ist ein
Gutachten beizubringen, wenn sonst zu klären ist, ob Alkoholmissbrauch nicht mehr besteht.
Aus Sicht des Gerichts stehen § 13 S. 1 Nr. 2 b und c FeV (eine Ersttat mit 1,6 Promille oder
mehr oder wiederholt alkoholbedingte Zuwiderhandlungen mit 0,5 Promille) nicht entgegen:
Denn durch den Strafbefehl stehe Alkoholmissbrauch bereits fest, da die Trunkenheitsfahrt
fehlendes Trennungsvermögen beweise.
Nach der Alkoholforschung könne i. d. R. ab 1,3 ‰ auf eine besondere Trinkfestigkeit geschlossen werden. Chronischer Alkoholkonsum mit besonderer Gewöhnung und Verlust der
kritischen Einschätzung des Verkehrsrisikos sei bei ca. 1,5 ‰ anzunehmen.
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Dann liege i. d. R. ein Alkoholproblem vor, das die Gefahr weiterer Alkoholauffälligkeit im
Straßenverkehr bedeute. Durch Erreichen der 1,55 ‰ und kaum Ausfallerscheinungen werde daher eine Wiederholungsgefahr angenommen.
Der nächste Verkehrsgerichtstag wird sich vom 27. bis 29.01.2016 im Arbeitskreis II mit
diesem Themenkreis eingehend befassen. Eine Klärung der Auslegung von § 13 FeV durch
das Bundesverwaltungsgericht ist zwar durch die Zulassung der Revision ermöglicht. Allerdings sollte der Gesetzgeber die seit über zwei Jahren schwelenden Unklarheiten und Wertungswidersprüche schnellstmöglich durch Änderungen bzw. Klarstellungen beheben, damit
Rechtssicherheit in diesem wichtigen Bereich gewährleistet ist.
Mit freundlichen kollegialen Grüßen
Dr. Markus Schäpe
Leitung Juristische Zentrale