Eine gefährliche Methode

Leseprobe aus:
John Kerr
Eine gefährliche Methode
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung 11
Teil I
Ein Fall von Hysterie 31
11.Die Hand ihres Vaters 33
12.Ein psychiatrisches Kloster 65
13. Jungs Schulfall 101
14.Die organische Verlogenheit des Weibes 123
Teil II
Die neue Lehre von der geistigen Gesundheit 169
15.Der Aufstieg der Züricher Schule 171
16. Jung und Freud 211
17.Die Wissenschaft von den Märchen 256
18. Sexualpsychologische Forschungen 308
Teil III
Die Bewegung 369
19.Amerika und der Kernkomplex 371
10.Das Haus mit den zwei Totenschädeln 413
11.Die Internationale Psychoanalytische Vereinigung 438
12.Die geistige Richtung der Psychoanalyse 461
13.Der sterbende und wiederauferstehende Gott 496

Teil IV
Intime Angelegenheiten 541
14. Über Transformation 543
15. Tod einer Freundschaft 601
16.Der Rest ist Schweigen 643
Teil V
Die Folgen 679
17.Die Geschichte der psychoanalytischen Bewegung 681
18.Auf der Suche nach einem großen Los 736
Nachwort 785
Danksagung 793
Anmerkungen 798
Bibliographischer Essay 839
Personenverzeichnis 881
Sach- und Werkeverzeichnis 886


Einleitung
Einleitung
Sigmund Freud und Carl Gustav Jung begegneten sich zum
ersten Mal am 3. März 1907. Sie unterhielten sich dreizehn
Stunden ohne Pause. Das letzte Mal begegneten sie sich beim
Vierten Internationalen Psychoanalytischen Kongress am 7.
und 8. September 1913 in München. Soweit wir wissen, wechselten sie bei dieser Gelegenheit kein einziges Wort. Damit
endete eine der schwierigsten intellektuellen Beziehungen
im Schweigen. Und dennoch haben die beiden Männer in
den gut sechs Jahren ihrer Zusammenarbeit das Denken im
20. Jahrhundert entscheidend beeinflusst.
Dieses Buch enthält die Geschichte ihrer Beziehung. Ich
erzähle sie nicht in erster Linie, um das biographische Wissen
über die beiden zu erweitern, und schon gar nicht, um für den
einen oder den anderen Partei zu ergreifen. Ich möchte vielmehr zum Nachdenken darüber anregen, worin ihre gemeinsame Leistung besteht.
In den Jahren ihrer Zusammenarbeit machten Freud
und Jung eine neue Methode der Psychotherapie berühmt,
die Psychoanalyse, und sie erreichten, dass die auf vielen
Gebieten radikale psychoanalytische Sichtweise sich weithin
durchsetzte. Ohne Freud und Jung oder vielmehr ohne ihre
Zusammenarbeit gäbe es keine Psychoanalyse, wie wir sie
heute kennen.
Freud und Jung schufen zwar etwas grundsätzlich Neues –
die verändernde Kraft ihrer Errungenschaft ist noch heute
spürbar –, aber dabei wurden auch Einflüsse wirksam, die
mit ihrer jeweiligen Lebenssituation zusammenhingen und
die durchaus vermeidbar gewesen wären. Diese Einflüsse
Einleitung
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führten zu Verzerrungen ihrer Sicht, und darum ist es wichtig,
sie zu erkennen und zu verstehen.
Die Geschichte der Beziehung von Freud und Jung zu
erzählen ist fraglos eine wichtige Aufgabe. Aber es ist nicht
leicht, diese Geschichte aus kritischer Distanz zu erzählen.
Zu beiden Männern würden wir gerne aufschauen, sie als
Helden bewundern, die anziehenden, menschlichen, skeptischen und letztlich weisen Persönlichkeiten in ihnen sehen,
die in vielen Anekdoten aus späterer Zeit sichtbar werden.
Freud und Jung haben eine neue Sicht auf die menschliche
Psyche eröffnet und ganz besonders auf die menschlichen
Grenzen; notgedrungen mussten sie daher als Erste mit der
Bürde der Selbstreflexion leben, die für die moderne Psychologie charakteristisch ist. Insofern waren Freud und Jung die
ersten Bürger des 20. Jahrhunderts. Für uns ist der Gedanke
verlockend und beruhigend, sie hätten all jene Vorzüge besessen, die erforderlich sind, damit die neue Art der Selbstwahrnehmung dem Menschen hilfreich sein kann.
Beide waren immer dann besonders gewinnend, wenn sie
zu etwas in Opposition standen. Wenn die Situation es später in ihrem Leben verlangte, dass sie in Opposition zu ihren
eigenen Theorien traten, meisterten sie auch das mit Leichtigkeit. Ich denke, wir haben alle schon einmal von Freuds
unwilligem Protest gehört: «Manchmal ist eine Zigarre einfach nur eine Zigarre.»1 Noch deutlicher wird das vielleicht
aus einer Bemerkung Freuds gegenüber Abram Kardiner,
der während seiner Lehranalyse die Logik eines bestimmten
psychoanalytischen Lehrsatzes in Frage stellte: «Oh, nehmen
Sie das nicht zu ernst. Das ist etwas, was ich mir an einem
regnerischen Sonntagnachmittag ausgedacht habe.»2 Aber
Freud konnte nicht nur respektlos sein, sondern besaß auch
eine gute Portion Unerschrockenheit. Als die Nazis vor der
Erteilung der Ausreiseerlaubnis von ihm verlangten, er solle
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Einleitung
eine Propagandaerklärung unterschreiben, die bescheinigte,
dass sie ihn gut behandelt hätten, reagierte Freud mit einem
Anflug von Heldenmut. Er setzte seinen Namen unter die
Erklärung und fügte dann bedächtig als Postskriptum an: «Ich
kann die Gestapo jedermann aufs beste empfehlen.»3
Auch Jung konnte ironisch Abstand von sich selbst nehmen.
Bei einem Podiumsgespräch in dem Institut, das er gegründet
hatte, flüsterte er einem Kollegen vertraulich ins Ohr: «Gottlob bin ich kein Jungianer.»4 Im Umgang mit Patienten konnte
Jung unverblümt direkt sein. Als eine junge Frau es einmal
satt hatte, über ihre unerwiderte sexuelle Übertragung zu
reden, und ihm vorschlug, sie sollten sich lieber gemeinsam
auf die Couch legen, erwiderte Jung trocken: «Ja, das könnten
wir – aber dann müssten wir wieder aufstehen.»5 Und Jung
konnte auch ebenso nonchalant seinen Ruhm genießen wie
sein einstiger Wiener Freund. Bei einer Reise nach London
in späteren Jahren hielt sich Jung einen Nachmittag frei, um
im Lesesaal des Britischen Museums nach einem seltenen
Buch zu forschen. Am Eingang wurde er höflich vom Aufseher angehalten und gebeten, seinen Benutzerausweis vorzuzeigen. Jung erwiderte, er habe keinen Ausweis, er sei Carl
Gustav Jung aus Zürich und habe nicht gewusst, dass er einen
brauche. Der Aufseher fragte, offensichtlich überrascht: «Carl
Gustav Jung? Sie meinen Freud, Adler, Jung?» Worauf Jung
versonnen sagte: «Nein … nur Jung.»6 (Er durfte hinein.)
Diese Anekdoten stammen aus den späten Lebensjahren
der beiden Männer. Die Geschichte ihrer Beziehung gehört in
einen früheren, erheblich dunkleren Lebensabschnitt. Zwar
waren viele ihrer bewundernswerten Eigenschaften auch
damals schon erkennbar, aber sie waren doch beide noch ehrgeiziger, dogmatischer, intoleranter und verbohrter als später. Erfolg verbessert den Charakter der meisten Menschen,
Ehrgeiz jedoch selten. Und zur Zeit ihrer Zusammenarbeit
Einleitung
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wurden Freud und Jung beide heftig von dem Verlangen nach
jeweils eigener zukünftiger Größe geplagt.
Dabei gilt es, auch den weiteren Kontext zu berücksichtigen. Zu Anfang unseres Jahrhunderts interessierte man sich
in Europa wie in Amerika in nie gekanntem Ausmaß für die
Psychologie sogenannter nervöser Erkrankungen. Gleichzeitig experimentierte man überall mit psychotherapeutischen
Behandlungsmethoden. Beides – das Bemühen, die Natur
nervöser Beschwerden zu ergründen, und das Bestreben, sie
durch rein «psychotherapeutische» Methoden zu lindern –
hing mit bestimmten Entwicklungen zusammen, die in der
gesamten westlichen Welt zu beobachten waren. Zunächst
einmal war die Jahrhundertwende eine Zeit wirtschaftlicher
Blüte. Damals wie heute geben Menschen, die es sich leisten
können, ihr Geld gerne für sich selbst aus. Oft heißt das, dass
sie Hilfe bei Beschwerden suchen, denen sie unter härteren
Lebensbedingungen weniger Aufmerksamkeit schenken würden. Zum Zweiten kamen damals «nervöse» Störungen generell häufig vor. Nur wenige Menschen wissen heute noch, dass
in einem ordentlichen viktorianischen Haushalt in allen Räumen des Erdgeschosses Fläschchen mit Riechsalz bereitstanden für den Fall, dass eine ebenso ordentliche viktorianische
Dame von einem damals überaus verbreiteten Unwohlsein,
der Ohnmacht, niedergestreckt werden sollte. Aber nicht
nur die Frauen waren betroffen, auch die Männer litten an
vielfältigen seelischen und körperlichen Symptomen. Wo die
genaue Ursache lag, war umstritten, aber Einigkeit herrschte
darüber, dass die Schnelllebigkeit der modernen Zeit sich
schädlich auf das Nervensystem auswirkte.
In der Regel richtete sich die Diagnose nach dem
Geschlecht. Während die Hysterie weitgehend, wenn auch
nicht ausschließlich, den Frauen vorbehalten blieb, waren
Neurasthenie, Zwangsneurose, Zwangshandlungen und
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Einleitung
andere Syndrome vorwiegend die Krankheiten der Männer.
Überdies schlossen all diese Etiketten die noch schlimmere
sekundäre Diagnose einer erblichen Belastung mit ein. Als
typischer Lückenbüßer der medizinischen Theorie befriedigte sie das Bedürfnis des Arztes, etwas zu sagen, und raubte
zugleich dem Patienten jegliche Hoffnung, dass er wieder
gesund werden könnte. Damals konnten sich viele sensible
und obendrein nicht wenige robuste Zeitgenossen lediglich
auf ein reines Gewissen berufen, um geheime Zweifel und
Befürchtungen abzuwehren. Sie mussten ihre Energien durch
Überarbeitung und durch nicht minder strapaziöse Reisen in
Badeorte erschöpfen, um eine ominöse, dumpfe Mattigkeit
zu vertreiben; sie mussten alle möglichen philosophischen,
politischen und sozialen Bewegungen unterstützen, um ihre
Aufmerksamkeit von einer inneren Schwermut abzulenken,
für die sie keinen Namen wussten. Offenbar waren die Stützen des Charakters – Willenskraft und Rechtschaffenheit – auf
geheimnisvolle Weise von innen her ausgehöhlt worden.
Gegenüber alldem hatte sich die Neurologie am Ende
des 19. Jahrhunderts als ausgesprochen hilflos erwiesen.
Zwar hatte man einige grundlegende Einsichten über die
elementare Funktionsweise des Nervensystems gewonnen,
aber deren Bedeutung für nervöse Störungen beschränkte
sich darauf, dass man eine physikalisch gefärbte Sprache
einführte, in der von «Energie» und «Entladung», «Spannung»
und «Ermüdung» die Rede war. Damit wurden lediglich die
Ausdrucksmöglichkeiten des Patienten beschnitten. Die verfügbaren physischen Behandlungsformen – Elektrizität, Bromide, operative Eingriffe – hatten keine zuverlässigen Erfolge
erbracht, und viele hegten den Verdacht, dass die Erfolge,
die trotz allem erzielt wurden, vorwiegend der Suggestionskraft zu verdanken seien. Die Anwendung von Hypnose hatte
zu dauerhafteren Erfolgen geführt, aber sie war umstritten.
Einleitung
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Wenn die Seele in Trance zum Guten hin beeinflusst werden
konnte, warum dann nicht im Wachzustand? Und was sagte
dies über die Natur der Beschwerden aus und über die Funktionsweise des Nervensystems im Allgemeinen?
Nervöse Leiden regten zu vielen höchst interessanten,
neuen wissenschaftlichen Fragen an. Eine große wissenschaftliche Erkenntnis sicherte damals bleibenden Ruhm, und
schon dieser Anreiz garantierte, dass sich talentierte Köpfe
ernsthaft mit den nervösen Erkrankungen beschäftigten. Von
allen Faktoren, die das Interesse für solche Störungen beförderten, war der wohl wichtigste philosophischer Natur. Denn
in jener Zeit wurde erstmals der wissenschaftliche Materialismus als vorherrschendes Weltbild akzeptiert. Man nahm
inzwischen allgemein an, dass die Wissenschaft endgültig
über die Religion und die Metaphysik triumphiert habe und
dass eine vollständig materialistische Erklärung der äußeren
Welt zum Greifen nahe sei. Aber wie sollte der Mensch dann
jenen anderen Pol der Erfahrung fassbar machen – das Selbst?
Es sah so aus, als gebe es in der materiellen Welt mit ihren
endlosen Ketten von Ursachen keinen Ort für die denkende,
fühlende, wollende Kraft des Selbst. Das Paradox lag allen
deutlich vor Augen, aber es gab noch keinen einhellig anerkannten Weg, es zu lösen.
Die Fragen, die mit den nervösen Beschwerden zusammenhingen – die Beziehung des Nervensystems zum
Bewusstsein und zum Unbewussten –, betrafen ein zentrales
philosophisches Problem. Ein befriedigendes System, das
die Empfindungen der menschlichen Seele mit den Erkenntnissen der Anatomie und der Physiologie verknüpfen konnte,
hatte zwangsläufig schwerwiegende philosophische Implikationen. Daher überrascht es nicht, dass Mediziner, die sich
mit nervösen Patienten beschäftigten, auch häufig ihr Glück
mit der Philosophie versuchten. Ebenso wenig überrascht es,
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Einleitung
dass die Erscheinungsformen der nervösen Störungen in der
Vorstellung der meisten Menschen eng mit all dem verbunden
waren, was ihnen außergewöhnlich und rätselhaft erschien,
mit Séancen, Genie, Telepathie und Ähnlichem. Offenbar gab
es doch noch Risse in der materialistischen Weltordnung.
In dieser Situation schlugen viele weitblickende Mediziner
den einzig erfolgversprechenden Weg ein: Sie trieben psychologische Forschung und experimentierten mit psychotherapeutischen Behandlungsmethoden. Diese Richtung setzte
sich in der gesamten westlichen Welt durch. Obwohl die
Ansätze sehr vielfältig waren, kann man mit vollem Recht von
einer «psychotherapeutischen Bewegung» sprechen. Innerhalb weniger Jahrzehnte löste sich die Bewegung jedoch wieder fast vollständig auf. Die Fülle der Konzepte musste einer
einzigen Theorie weichen, die ursprünglich nur eine von vielen gewesen war.
Der rasche Aufstieg der Psychoanalyse zur Vorherrschaft
ist im Rückblick erstaunlich. Von 1900 an waren die Theorien Sigmund Freuds über Hysterie und andere verbreitete
nervöse Syndrome den meisten Medizinern bekannt, aber
sie nahmen keinen höheren Rang ein als die vielen anderen Theorien zahlreicher sonstiger Zeitgenossen. Die spezifische Methode, mit der Freud zu seinen Theorien gelangte –
seine geliebte «Psychoanalyse» –, wurde mehr als Kuriosität
angesehen denn als Vorbild. Oft war die scheinbar vernünftige Ansicht zu hören, Freud selbst habe dank der Psychoanalyse zwar eindrucksvolle Entdeckungen gemacht, sie
sei jedoch weder lehrbar noch lernbar und könne in den
Händen eines weniger talentierten Arztes nichts Lohnendes
erbringen.
Im Jahr 1911, kaum zehn Jahre später, war diese anfangs
wenig beachtete Methode zum Brennpunkt einer heftigen,
erbittert geführten Kontroverse geworden. Sie beschäftigte
Einleitung
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die offizielle Neurologie und Psychiatrie in ganz Europa. Bis
1926, als das geheime leitende «Komitee» von Anhängern der
Psychoanalyse aufgelöst wurde, war die Psychoanalyse bereits
zur weltweit prominentesten Schule für Psychologie und
Psychotherapie aufgestiegen. Sie zog einen steten Strom von
Ausbildungskandidaten und Anhängern an, und zwar nicht
nur aus dem Bereich der Medizin, sondern auch aus der Kunst
und den Geisteswissenschaften. Im Jahr 1939, dem Todesjahr
Freuds, hielt Auden eine Lobrede auf die Psychoanalyse und
sagte, sie sei inzwischen «geradezu eine Weltanschauung».
Freud war zu Ruhm und Ansehen gelangt durch die Beschäftigung mit den wissenschaftlichen und philosophischen Fragen, die von Anfang an mit dem Begriff «Neurose» verbunden
gewesen waren. Diese Nische gab es schon seit langem, und
Freud war dazu ausersehen, sie zu besetzen. Jung musste die
für ihn passende Nachbarnische finden. Das gelang ihm auch.
Sein System ließ Raum für die religiösen und mystischen
Empfindungen, die Freud ein Gräuel waren.
Die Psychoanalyse stieg so rasch zur vorherrschenden
Theorie auf, dass sie den Diskurs früherer Zeiten vollständig
verdrängte. Verschwunden waren die Namen und Beiträge
vieler anderer Denker, verschwunden war auch die Vielfalt
origineller Standpunkte, die bis dahin fruchtbaren Boden
für neue Theorien abgegeben hatten. Die Situation war reif
dafür, die Geschichte neu zu schreiben. Dabei entstand leider
an manchen Stellen ein Gespinst aus Mythen und Halbwahrheiten, deren Urheber oft Freud selbst war. Ein Beispiel ist
die falsche Darstellung des damaligen Umfeldes. Es wurde
behauptet, ursprünglich sei allein Freud an die Fragen der
menschlichen Sexualität unvoreingenommen herangegangen und ebenso habe Freud als Einziger die Idee des Unbewussten ernst genommen. Weiterhin wurde behauptet, er
sei aus diesem Grunde teils völlig ignoriert, teils in unfairer
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Einleitung
Weise angegriffen worden und seine Zeitgenossen hätten ihn
gezwungen, das Leben eines wissenschaftlichen Nomaden zu
leben, bis die Welt für seine Lehren reif gewesen sei. All dies
ist nachweislich unwahr, aber erst in den letzten fünfundzwanzig Jahren haben Historiker den Mut aufgebracht, das
klar auszusprechen.
Ein weiteres Gespinst aus Mythen und Halbwahrheiten
umgab die Ursprünge von Freuds Theorien. Es hieß, seine
Ideen seien ihm erstmals im Laufe seiner klinischen Arbeit
gekommen – seine Schlüsse seien ihm sogar mehr oder weniger von seinen Patienten aufgedrängt worden – und er habe
diese Erkenntnisse dann durch eine heroische Selbstanalyse
erweitert. Auch das ist mehr Dichtung als Wahrheit. Es ist
inzwischen völlig klar, woher Freud seine Ideen hatte – vorwiegend aus seiner Bibliothek –, und es ist ebenso klar, dass
er mit der neuartigen Anwendung dieser Ideen keineswegs
immer ins Schwarze traf, sondern ebenso häufig weit daneben, wie seine Patienten bezeugt haben. Der Mythos der
Selbstanalyse wird erst seit kurzem kritisch überprüft. Man
kann noch nicht absehen, wie das abschließende Urteil ausfällt, aber schon jetzt ist klar, dass Freud einige der angeblichen theoretischen «Früchte» dieses Unterfangens anderswo
geerntet hat.
Das vorliegende Buch befasst sich hauptsächlich mit
einem dritten Gespinst aus Mythen und Halbwahrheiten. Seinen Mittelpunkt bilden die ersten Jahre dieses Jahrhunderts,
in denen die Psychoanalyse ihre umstrittene Vorherrschaft
erlangte. Da die fundamentalen Erkenntnisse der Psychoanalyse von Freud stammten, neigten die meisten Historiker dazu, die Geschichte der psychoanalytischen Bewegung
aus der Perspektive von Wien zu erzählen. Dann klingt die
Geschichte leicht so: Freud baute nach und nach sein theoretisches Gebäude aus und scharte gleichzeitig Anhänger um
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sich. Einige von ihnen standen jedoch der ganzen Psychoanalyse oder einigen Teilen ambivalent gegenüber, gingen später
weg und gründeten ihre eigenen Schulen. Auf den ersten
Blick erscheint diese Betrachtungsweise plausibel. Die später
mit großem Getöse vollzogenen Spaltungen verlieren etwas
von ihrer Peinlichkeit, denn sie erscheinen weniger bedeutsam. Paradoxerweise ist diese Sicht auch für die Anhänger
der Abtrünnigen attraktiv, denn sie erlaubt ihnen zu glauben,
ihre Meister hätten von allem Anfang an deutlich abgesetzte
eigene Ansichten gehabt.
Problematisch an dieser Sichtweise ist, dass sie Freuds
spätere Größe auf die frühe Periode seiner Arbeit zurückprojiziert und zudem die damaligen Verhältnisse in der medizinischen Fachwelt Europas außer Acht lässt. Geltung und
Ansehen genossen Jung und sein Züricher Mentor, Eugen
Bleuler – nicht Freud. Jung und Bleuler besaßen einen internationalen Ruf als Pioniere der Psychiatrie. Außerdem hatten
sie das Prestige der Züricher medizinischen Fakultät hinter
sich und leiteten die Züricher psychiatrische Klinik mitsamt dem dazugehörigen psychologischen Laboratorium,
wo interessierten Ärzten eine Fortbildung angeboten wurde.
Kurz gesagt waren es Jung und Bleuler, die über die institutionellen Mittel verfügten, die man brauchte, um die Psychoanalyse in eine wissenschaftliche Bewegung zu verwandeln.
Der Aufstieg der Psychoanalyse spiegelt die institutionellen
Gegebenheiten unmittelbar wider. Erst ab dem Zeitpunkt, als
Jung und Bleuler berichteten, sie könnten einige von Freuds
Theorien anhand der Arbeit mit ihren eigenen Patienten
bestätigen, begannen die ernsthaften Diskussionen. Fast alle
bedeutenden frühen Anhänger Freuds erhielten in Zürich
ihre Ausbildung in der neuen Methode. Und Zürich stellte
der Psychoanalyse auch ihre ersten offiziellen Institutionen
bereit: Der erste Kongress, die erste Zeitschrift, die Gründung
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Einleitung
der Internationalen Vereinigung – all das wurde von Zürich
aus organisiert, nicht von Wien aus. Jung und Bleuler machten Freud in der Wissenschaft bekannt, nicht umgekehrt.
Man muss die Geschichte der psychoanalytischen Bewegung mit Blick auf die Achse Zürich–Wien begreifen. Diese
Perspektive zwingt uns, die grundlegende Veränderung anzuerkennen, die die Psychoanalyse kurz nach dem Einstieg von
Jung und Bleuler durchlief. Insoweit die Psychoanalyse eine
Wissenschaft war, mussten ihre Ergebnisse prinzipiell reproduzierbar sein. Da Freud die Notwendigkeit einsah und versuchte, Nutzen daraus zu ziehen, präsentierte er sich Jung
und Bleuler als wissenschaftlichen Gewinn, den es zu erwerben galt. Sie reagierten ihrerseits dergestalt, dass sie die notwendigen praktischen Einrichtungen zur Verfügung stellten.
Anfangs schien das Arrangement klar und eindeutig. Freuds
zeitliche Priorität war unangefochten, und darüber hinaus
kennt die Wissenschaft kein Eigentumsrecht an Erkenntnissen. Es gab keinen vernünftigen Grund, warum Zürich nicht
das internationale Zentrum der Psychoanalyse sein sollte,
und anfangs war Freud auch sehr daran gelegen, Zürich zum
Zentrum zu machen.
Aber Freuds Ehrgeiz war nicht allein wissenschaftlicher
Natur. Er ließ sich von Dingen wie experimenteller Überprüfung, Erfolgskontrolle und den sonstigen Gepflogenheiten
kollegialen Forschens nicht aufhalten. Kaum hatte die Psychoanalyse den dringend benötigten äußeren Anstrich einer
normalen Wissenschaft erhalten, da änderte sich bereits die
Richtung. Stück um Stück verlor sie ihre Bedeutung als klinische Methode, immer mehr wurde sie zu einer literarischen,
künstlerischen und kulturellen Bewegung mit dem Bestreben,
eine umfassende Deutung der Welt zu bieten. Jung hatte seine
eigenen Gründe, sich über diese Entwicklung zu freuen, und
trieb sie eifrig voran. Bleuler hingegen freute sich nicht und
Einleitung
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