Leseprobe aus: John Kerr Eine gefährliche Methode Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de. Copyright © 2011 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Inhaltsverzeichnis Einleitung 11 Teil I Ein Fall von Hysterie 31 11.Die Hand ihres Vaters 33 12.Ein psychiatrisches Kloster 65 13. Jungs Schulfall 101 14.Die organische Verlogenheit des Weibes 123 Teil II Die neue Lehre von der geistigen Gesundheit 169 15.Der Aufstieg der Züricher Schule 171 16. Jung und Freud 211 17.Die Wissenschaft von den Märchen 256 18. Sexualpsychologische Forschungen 308 Teil III Die Bewegung 369 19.Amerika und der Kernkomplex 371 10.Das Haus mit den zwei Totenschädeln 413 11.Die Internationale Psychoanalytische Vereinigung 438 12.Die geistige Richtung der Psychoanalyse 461 13.Der sterbende und wiederauferstehende Gott 496 Teil IV Intime Angelegenheiten 541 14. Über Transformation 543 15. Tod einer Freundschaft 601 16.Der Rest ist Schweigen 643 Teil V Die Folgen 679 17.Die Geschichte der psychoanalytischen Bewegung 681 18.Auf der Suche nach einem großen Los 736 Nachwort 785 Danksagung 793 Anmerkungen 798 Bibliographischer Essay 839 Personenverzeichnis 881 Sach- und Werkeverzeichnis 886 Einleitung Einleitung Sigmund Freud und Carl Gustav Jung begegneten sich zum ersten Mal am 3. März 1907. Sie unterhielten sich dreizehn Stunden ohne Pause. Das letzte Mal begegneten sie sich beim Vierten Internationalen Psychoanalytischen Kongress am 7. und 8. September 1913 in München. Soweit wir wissen, wechselten sie bei dieser Gelegenheit kein einziges Wort. Damit endete eine der schwierigsten intellektuellen Beziehungen im Schweigen. Und dennoch haben die beiden Männer in den gut sechs Jahren ihrer Zusammenarbeit das Denken im 20. Jahrhundert entscheidend beeinflusst. Dieses Buch enthält die Geschichte ihrer Beziehung. Ich erzähle sie nicht in erster Linie, um das biographische Wissen über die beiden zu erweitern, und schon gar nicht, um für den einen oder den anderen Partei zu ergreifen. Ich möchte vielmehr zum Nachdenken darüber anregen, worin ihre gemeinsame Leistung besteht. In den Jahren ihrer Zusammenarbeit machten Freud und Jung eine neue Methode der Psychotherapie berühmt, die Psychoanalyse, und sie erreichten, dass die auf vielen Gebieten radikale psychoanalytische Sichtweise sich weithin durchsetzte. Ohne Freud und Jung oder vielmehr ohne ihre Zusammenarbeit gäbe es keine Psychoanalyse, wie wir sie heute kennen. Freud und Jung schufen zwar etwas grundsätzlich Neues – die verändernde Kraft ihrer Errungenschaft ist noch heute spürbar –, aber dabei wurden auch Einflüsse wirksam, die mit ihrer jeweiligen Lebenssituation zusammenhingen und die durchaus vermeidbar gewesen wären. Diese Einflüsse Einleitung 11 führten zu Verzerrungen ihrer Sicht, und darum ist es wichtig, sie zu erkennen und zu verstehen. Die Geschichte der Beziehung von Freud und Jung zu erzählen ist fraglos eine wichtige Aufgabe. Aber es ist nicht leicht, diese Geschichte aus kritischer Distanz zu erzählen. Zu beiden Männern würden wir gerne aufschauen, sie als Helden bewundern, die anziehenden, menschlichen, skeptischen und letztlich weisen Persönlichkeiten in ihnen sehen, die in vielen Anekdoten aus späterer Zeit sichtbar werden. Freud und Jung haben eine neue Sicht auf die menschliche Psyche eröffnet und ganz besonders auf die menschlichen Grenzen; notgedrungen mussten sie daher als Erste mit der Bürde der Selbstreflexion leben, die für die moderne Psychologie charakteristisch ist. Insofern waren Freud und Jung die ersten Bürger des 20. Jahrhunderts. Für uns ist der Gedanke verlockend und beruhigend, sie hätten all jene Vorzüge besessen, die erforderlich sind, damit die neue Art der Selbstwahrnehmung dem Menschen hilfreich sein kann. Beide waren immer dann besonders gewinnend, wenn sie zu etwas in Opposition standen. Wenn die Situation es später in ihrem Leben verlangte, dass sie in Opposition zu ihren eigenen Theorien traten, meisterten sie auch das mit Leichtigkeit. Ich denke, wir haben alle schon einmal von Freuds unwilligem Protest gehört: «Manchmal ist eine Zigarre einfach nur eine Zigarre.»1 Noch deutlicher wird das vielleicht aus einer Bemerkung Freuds gegenüber Abram Kardiner, der während seiner Lehranalyse die Logik eines bestimmten psychoanalytischen Lehrsatzes in Frage stellte: «Oh, nehmen Sie das nicht zu ernst. Das ist etwas, was ich mir an einem regnerischen Sonntagnachmittag ausgedacht habe.»2 Aber Freud konnte nicht nur respektlos sein, sondern besaß auch eine gute Portion Unerschrockenheit. Als die Nazis vor der Erteilung der Ausreiseerlaubnis von ihm verlangten, er solle 12 Einleitung eine Propagandaerklärung unterschreiben, die bescheinigte, dass sie ihn gut behandelt hätten, reagierte Freud mit einem Anflug von Heldenmut. Er setzte seinen Namen unter die Erklärung und fügte dann bedächtig als Postskriptum an: «Ich kann die Gestapo jedermann aufs beste empfehlen.»3 Auch Jung konnte ironisch Abstand von sich selbst nehmen. Bei einem Podiumsgespräch in dem Institut, das er gegründet hatte, flüsterte er einem Kollegen vertraulich ins Ohr: «Gottlob bin ich kein Jungianer.»4 Im Umgang mit Patienten konnte Jung unverblümt direkt sein. Als eine junge Frau es einmal satt hatte, über ihre unerwiderte sexuelle Übertragung zu reden, und ihm vorschlug, sie sollten sich lieber gemeinsam auf die Couch legen, erwiderte Jung trocken: «Ja, das könnten wir – aber dann müssten wir wieder aufstehen.»5 Und Jung konnte auch ebenso nonchalant seinen Ruhm genießen wie sein einstiger Wiener Freund. Bei einer Reise nach London in späteren Jahren hielt sich Jung einen Nachmittag frei, um im Lesesaal des Britischen Museums nach einem seltenen Buch zu forschen. Am Eingang wurde er höflich vom Aufseher angehalten und gebeten, seinen Benutzerausweis vorzuzeigen. Jung erwiderte, er habe keinen Ausweis, er sei Carl Gustav Jung aus Zürich und habe nicht gewusst, dass er einen brauche. Der Aufseher fragte, offensichtlich überrascht: «Carl Gustav Jung? Sie meinen Freud, Adler, Jung?» Worauf Jung versonnen sagte: «Nein … nur Jung.»6 (Er durfte hinein.) Diese Anekdoten stammen aus den späten Lebensjahren der beiden Männer. Die Geschichte ihrer Beziehung gehört in einen früheren, erheblich dunkleren Lebensabschnitt. Zwar waren viele ihrer bewundernswerten Eigenschaften auch damals schon erkennbar, aber sie waren doch beide noch ehrgeiziger, dogmatischer, intoleranter und verbohrter als später. Erfolg verbessert den Charakter der meisten Menschen, Ehrgeiz jedoch selten. Und zur Zeit ihrer Zusammenarbeit Einleitung 13 wurden Freud und Jung beide heftig von dem Verlangen nach jeweils eigener zukünftiger Größe geplagt. Dabei gilt es, auch den weiteren Kontext zu berücksichtigen. Zu Anfang unseres Jahrhunderts interessierte man sich in Europa wie in Amerika in nie gekanntem Ausmaß für die Psychologie sogenannter nervöser Erkrankungen. Gleichzeitig experimentierte man überall mit psychotherapeutischen Behandlungsmethoden. Beides – das Bemühen, die Natur nervöser Beschwerden zu ergründen, und das Bestreben, sie durch rein «psychotherapeutische» Methoden zu lindern – hing mit bestimmten Entwicklungen zusammen, die in der gesamten westlichen Welt zu beobachten waren. Zunächst einmal war die Jahrhundertwende eine Zeit wirtschaftlicher Blüte. Damals wie heute geben Menschen, die es sich leisten können, ihr Geld gerne für sich selbst aus. Oft heißt das, dass sie Hilfe bei Beschwerden suchen, denen sie unter härteren Lebensbedingungen weniger Aufmerksamkeit schenken würden. Zum Zweiten kamen damals «nervöse» Störungen generell häufig vor. Nur wenige Menschen wissen heute noch, dass in einem ordentlichen viktorianischen Haushalt in allen Räumen des Erdgeschosses Fläschchen mit Riechsalz bereitstanden für den Fall, dass eine ebenso ordentliche viktorianische Dame von einem damals überaus verbreiteten Unwohlsein, der Ohnmacht, niedergestreckt werden sollte. Aber nicht nur die Frauen waren betroffen, auch die Männer litten an vielfältigen seelischen und körperlichen Symptomen. Wo die genaue Ursache lag, war umstritten, aber Einigkeit herrschte darüber, dass die Schnelllebigkeit der modernen Zeit sich schädlich auf das Nervensystem auswirkte. In der Regel richtete sich die Diagnose nach dem Geschlecht. Während die Hysterie weitgehend, wenn auch nicht ausschließlich, den Frauen vorbehalten blieb, waren Neurasthenie, Zwangsneurose, Zwangshandlungen und 14 Einleitung andere Syndrome vorwiegend die Krankheiten der Männer. Überdies schlossen all diese Etiketten die noch schlimmere sekundäre Diagnose einer erblichen Belastung mit ein. Als typischer Lückenbüßer der medizinischen Theorie befriedigte sie das Bedürfnis des Arztes, etwas zu sagen, und raubte zugleich dem Patienten jegliche Hoffnung, dass er wieder gesund werden könnte. Damals konnten sich viele sensible und obendrein nicht wenige robuste Zeitgenossen lediglich auf ein reines Gewissen berufen, um geheime Zweifel und Befürchtungen abzuwehren. Sie mussten ihre Energien durch Überarbeitung und durch nicht minder strapaziöse Reisen in Badeorte erschöpfen, um eine ominöse, dumpfe Mattigkeit zu vertreiben; sie mussten alle möglichen philosophischen, politischen und sozialen Bewegungen unterstützen, um ihre Aufmerksamkeit von einer inneren Schwermut abzulenken, für die sie keinen Namen wussten. Offenbar waren die Stützen des Charakters – Willenskraft und Rechtschaffenheit – auf geheimnisvolle Weise von innen her ausgehöhlt worden. Gegenüber alldem hatte sich die Neurologie am Ende des 19. Jahrhunderts als ausgesprochen hilflos erwiesen. Zwar hatte man einige grundlegende Einsichten über die elementare Funktionsweise des Nervensystems gewonnen, aber deren Bedeutung für nervöse Störungen beschränkte sich darauf, dass man eine physikalisch gefärbte Sprache einführte, in der von «Energie» und «Entladung», «Spannung» und «Ermüdung» die Rede war. Damit wurden lediglich die Ausdrucksmöglichkeiten des Patienten beschnitten. Die verfügbaren physischen Behandlungsformen – Elektrizität, Bromide, operative Eingriffe – hatten keine zuverlässigen Erfolge erbracht, und viele hegten den Verdacht, dass die Erfolge, die trotz allem erzielt wurden, vorwiegend der Suggestionskraft zu verdanken seien. Die Anwendung von Hypnose hatte zu dauerhafteren Erfolgen geführt, aber sie war umstritten. Einleitung 15 Wenn die Seele in Trance zum Guten hin beeinflusst werden konnte, warum dann nicht im Wachzustand? Und was sagte dies über die Natur der Beschwerden aus und über die Funktionsweise des Nervensystems im Allgemeinen? Nervöse Leiden regten zu vielen höchst interessanten, neuen wissenschaftlichen Fragen an. Eine große wissenschaftliche Erkenntnis sicherte damals bleibenden Ruhm, und schon dieser Anreiz garantierte, dass sich talentierte Köpfe ernsthaft mit den nervösen Erkrankungen beschäftigten. Von allen Faktoren, die das Interesse für solche Störungen beförderten, war der wohl wichtigste philosophischer Natur. Denn in jener Zeit wurde erstmals der wissenschaftliche Materialismus als vorherrschendes Weltbild akzeptiert. Man nahm inzwischen allgemein an, dass die Wissenschaft endgültig über die Religion und die Metaphysik triumphiert habe und dass eine vollständig materialistische Erklärung der äußeren Welt zum Greifen nahe sei. Aber wie sollte der Mensch dann jenen anderen Pol der Erfahrung fassbar machen – das Selbst? Es sah so aus, als gebe es in der materiellen Welt mit ihren endlosen Ketten von Ursachen keinen Ort für die denkende, fühlende, wollende Kraft des Selbst. Das Paradox lag allen deutlich vor Augen, aber es gab noch keinen einhellig anerkannten Weg, es zu lösen. Die Fragen, die mit den nervösen Beschwerden zusammenhingen – die Beziehung des Nervensystems zum Bewusstsein und zum Unbewussten –, betrafen ein zentrales philosophisches Problem. Ein befriedigendes System, das die Empfindungen der menschlichen Seele mit den Erkenntnissen der Anatomie und der Physiologie verknüpfen konnte, hatte zwangsläufig schwerwiegende philosophische Implikationen. Daher überrascht es nicht, dass Mediziner, die sich mit nervösen Patienten beschäftigten, auch häufig ihr Glück mit der Philosophie versuchten. Ebenso wenig überrascht es, 16 Einleitung dass die Erscheinungsformen der nervösen Störungen in der Vorstellung der meisten Menschen eng mit all dem verbunden waren, was ihnen außergewöhnlich und rätselhaft erschien, mit Séancen, Genie, Telepathie und Ähnlichem. Offenbar gab es doch noch Risse in der materialistischen Weltordnung. In dieser Situation schlugen viele weitblickende Mediziner den einzig erfolgversprechenden Weg ein: Sie trieben psychologische Forschung und experimentierten mit psychotherapeutischen Behandlungsmethoden. Diese Richtung setzte sich in der gesamten westlichen Welt durch. Obwohl die Ansätze sehr vielfältig waren, kann man mit vollem Recht von einer «psychotherapeutischen Bewegung» sprechen. Innerhalb weniger Jahrzehnte löste sich die Bewegung jedoch wieder fast vollständig auf. Die Fülle der Konzepte musste einer einzigen Theorie weichen, die ursprünglich nur eine von vielen gewesen war. Der rasche Aufstieg der Psychoanalyse zur Vorherrschaft ist im Rückblick erstaunlich. Von 1900 an waren die Theorien Sigmund Freuds über Hysterie und andere verbreitete nervöse Syndrome den meisten Medizinern bekannt, aber sie nahmen keinen höheren Rang ein als die vielen anderen Theorien zahlreicher sonstiger Zeitgenossen. Die spezifische Methode, mit der Freud zu seinen Theorien gelangte – seine geliebte «Psychoanalyse» –, wurde mehr als Kuriosität angesehen denn als Vorbild. Oft war die scheinbar vernünftige Ansicht zu hören, Freud selbst habe dank der Psychoanalyse zwar eindrucksvolle Entdeckungen gemacht, sie sei jedoch weder lehrbar noch lernbar und könne in den Händen eines weniger talentierten Arztes nichts Lohnendes erbringen. Im Jahr 1911, kaum zehn Jahre später, war diese anfangs wenig beachtete Methode zum Brennpunkt einer heftigen, erbittert geführten Kontroverse geworden. Sie beschäftigte Einleitung 17 die offizielle Neurologie und Psychiatrie in ganz Europa. Bis 1926, als das geheime leitende «Komitee» von Anhängern der Psychoanalyse aufgelöst wurde, war die Psychoanalyse bereits zur weltweit prominentesten Schule für Psychologie und Psychotherapie aufgestiegen. Sie zog einen steten Strom von Ausbildungskandidaten und Anhängern an, und zwar nicht nur aus dem Bereich der Medizin, sondern auch aus der Kunst und den Geisteswissenschaften. Im Jahr 1939, dem Todesjahr Freuds, hielt Auden eine Lobrede auf die Psychoanalyse und sagte, sie sei inzwischen «geradezu eine Weltanschauung». Freud war zu Ruhm und Ansehen gelangt durch die Beschäftigung mit den wissenschaftlichen und philosophischen Fragen, die von Anfang an mit dem Begriff «Neurose» verbunden gewesen waren. Diese Nische gab es schon seit langem, und Freud war dazu ausersehen, sie zu besetzen. Jung musste die für ihn passende Nachbarnische finden. Das gelang ihm auch. Sein System ließ Raum für die religiösen und mystischen Empfindungen, die Freud ein Gräuel waren. Die Psychoanalyse stieg so rasch zur vorherrschenden Theorie auf, dass sie den Diskurs früherer Zeiten vollständig verdrängte. Verschwunden waren die Namen und Beiträge vieler anderer Denker, verschwunden war auch die Vielfalt origineller Standpunkte, die bis dahin fruchtbaren Boden für neue Theorien abgegeben hatten. Die Situation war reif dafür, die Geschichte neu zu schreiben. Dabei entstand leider an manchen Stellen ein Gespinst aus Mythen und Halbwahrheiten, deren Urheber oft Freud selbst war. Ein Beispiel ist die falsche Darstellung des damaligen Umfeldes. Es wurde behauptet, ursprünglich sei allein Freud an die Fragen der menschlichen Sexualität unvoreingenommen herangegangen und ebenso habe Freud als Einziger die Idee des Unbewussten ernst genommen. Weiterhin wurde behauptet, er sei aus diesem Grunde teils völlig ignoriert, teils in unfairer 18 Einleitung Weise angegriffen worden und seine Zeitgenossen hätten ihn gezwungen, das Leben eines wissenschaftlichen Nomaden zu leben, bis die Welt für seine Lehren reif gewesen sei. All dies ist nachweislich unwahr, aber erst in den letzten fünfundzwanzig Jahren haben Historiker den Mut aufgebracht, das klar auszusprechen. Ein weiteres Gespinst aus Mythen und Halbwahrheiten umgab die Ursprünge von Freuds Theorien. Es hieß, seine Ideen seien ihm erstmals im Laufe seiner klinischen Arbeit gekommen – seine Schlüsse seien ihm sogar mehr oder weniger von seinen Patienten aufgedrängt worden – und er habe diese Erkenntnisse dann durch eine heroische Selbstanalyse erweitert. Auch das ist mehr Dichtung als Wahrheit. Es ist inzwischen völlig klar, woher Freud seine Ideen hatte – vorwiegend aus seiner Bibliothek –, und es ist ebenso klar, dass er mit der neuartigen Anwendung dieser Ideen keineswegs immer ins Schwarze traf, sondern ebenso häufig weit daneben, wie seine Patienten bezeugt haben. Der Mythos der Selbstanalyse wird erst seit kurzem kritisch überprüft. Man kann noch nicht absehen, wie das abschließende Urteil ausfällt, aber schon jetzt ist klar, dass Freud einige der angeblichen theoretischen «Früchte» dieses Unterfangens anderswo geerntet hat. Das vorliegende Buch befasst sich hauptsächlich mit einem dritten Gespinst aus Mythen und Halbwahrheiten. Seinen Mittelpunkt bilden die ersten Jahre dieses Jahrhunderts, in denen die Psychoanalyse ihre umstrittene Vorherrschaft erlangte. Da die fundamentalen Erkenntnisse der Psychoanalyse von Freud stammten, neigten die meisten Historiker dazu, die Geschichte der psychoanalytischen Bewegung aus der Perspektive von Wien zu erzählen. Dann klingt die Geschichte leicht so: Freud baute nach und nach sein theoretisches Gebäude aus und scharte gleichzeitig Anhänger um Einleitung 19 sich. Einige von ihnen standen jedoch der ganzen Psychoanalyse oder einigen Teilen ambivalent gegenüber, gingen später weg und gründeten ihre eigenen Schulen. Auf den ersten Blick erscheint diese Betrachtungsweise plausibel. Die später mit großem Getöse vollzogenen Spaltungen verlieren etwas von ihrer Peinlichkeit, denn sie erscheinen weniger bedeutsam. Paradoxerweise ist diese Sicht auch für die Anhänger der Abtrünnigen attraktiv, denn sie erlaubt ihnen zu glauben, ihre Meister hätten von allem Anfang an deutlich abgesetzte eigene Ansichten gehabt. Problematisch an dieser Sichtweise ist, dass sie Freuds spätere Größe auf die frühe Periode seiner Arbeit zurückprojiziert und zudem die damaligen Verhältnisse in der medizinischen Fachwelt Europas außer Acht lässt. Geltung und Ansehen genossen Jung und sein Züricher Mentor, Eugen Bleuler – nicht Freud. Jung und Bleuler besaßen einen internationalen Ruf als Pioniere der Psychiatrie. Außerdem hatten sie das Prestige der Züricher medizinischen Fakultät hinter sich und leiteten die Züricher psychiatrische Klinik mitsamt dem dazugehörigen psychologischen Laboratorium, wo interessierten Ärzten eine Fortbildung angeboten wurde. Kurz gesagt waren es Jung und Bleuler, die über die institutionellen Mittel verfügten, die man brauchte, um die Psychoanalyse in eine wissenschaftliche Bewegung zu verwandeln. Der Aufstieg der Psychoanalyse spiegelt die institutionellen Gegebenheiten unmittelbar wider. Erst ab dem Zeitpunkt, als Jung und Bleuler berichteten, sie könnten einige von Freuds Theorien anhand der Arbeit mit ihren eigenen Patienten bestätigen, begannen die ernsthaften Diskussionen. Fast alle bedeutenden frühen Anhänger Freuds erhielten in Zürich ihre Ausbildung in der neuen Methode. Und Zürich stellte der Psychoanalyse auch ihre ersten offiziellen Institutionen bereit: Der erste Kongress, die erste Zeitschrift, die Gründung 20 Einleitung der Internationalen Vereinigung – all das wurde von Zürich aus organisiert, nicht von Wien aus. Jung und Bleuler machten Freud in der Wissenschaft bekannt, nicht umgekehrt. Man muss die Geschichte der psychoanalytischen Bewegung mit Blick auf die Achse Zürich–Wien begreifen. Diese Perspektive zwingt uns, die grundlegende Veränderung anzuerkennen, die die Psychoanalyse kurz nach dem Einstieg von Jung und Bleuler durchlief. Insoweit die Psychoanalyse eine Wissenschaft war, mussten ihre Ergebnisse prinzipiell reproduzierbar sein. Da Freud die Notwendigkeit einsah und versuchte, Nutzen daraus zu ziehen, präsentierte er sich Jung und Bleuler als wissenschaftlichen Gewinn, den es zu erwerben galt. Sie reagierten ihrerseits dergestalt, dass sie die notwendigen praktischen Einrichtungen zur Verfügung stellten. Anfangs schien das Arrangement klar und eindeutig. Freuds zeitliche Priorität war unangefochten, und darüber hinaus kennt die Wissenschaft kein Eigentumsrecht an Erkenntnissen. Es gab keinen vernünftigen Grund, warum Zürich nicht das internationale Zentrum der Psychoanalyse sein sollte, und anfangs war Freud auch sehr daran gelegen, Zürich zum Zentrum zu machen. Aber Freuds Ehrgeiz war nicht allein wissenschaftlicher Natur. Er ließ sich von Dingen wie experimenteller Überprüfung, Erfolgskontrolle und den sonstigen Gepflogenheiten kollegialen Forschens nicht aufhalten. Kaum hatte die Psychoanalyse den dringend benötigten äußeren Anstrich einer normalen Wissenschaft erhalten, da änderte sich bereits die Richtung. Stück um Stück verlor sie ihre Bedeutung als klinische Methode, immer mehr wurde sie zu einer literarischen, künstlerischen und kulturellen Bewegung mit dem Bestreben, eine umfassende Deutung der Welt zu bieten. Jung hatte seine eigenen Gründe, sich über diese Entwicklung zu freuen, und trieb sie eifrig voran. Bleuler hingegen freute sich nicht und Einleitung 21
© Copyright 2025 ExpyDoc