Neue Zürcher Zeitung vom 23.10.2015, Seite 17: Jetzt kommt die Generation Gold Eine neue Studie beschreibt Risiken und Nebenwirkungen einer alterslosen Gesellschaft Die Babyboomer rücken ins Pensionsalter vor. Statt sich alt zu fühlen, bilden sie die Vorhut einer neuen Altersbewegung, die Stereotype vom Altsein auflöst und diese Lebensspanne neu definiert. Nadine Jürgensen «Bist du nicht ein bisschen zu alt dafür?», werden ältere Menschen in Zukunft mit einem achselzuckenden «Nein, warum?» beantworten. Der Begriff des Alters, so wie wir ihn kennen, wird für Leute vorbehalten sein, die dem Tode nahe sind. Das schreibt zumindest Jakub Samochowiec, Senior Researcher am Gottlieb-Duttweiler-Institut. Er ist einer der Autoren der am Freitag vorgestellten Studie «Digital Ageing – unterwegs in eine alterslose Gesellschaft», welche die Zukunft des Lebens im Alter ab 2030 untersucht hat. Die Perzeption des Alters hat sich allerdings schon heute gewandelt: Der Grund dafür ist, dass sich alle, auch jüngere Menschen, stets einige Jahre jünger fühlen, als sie sind, zumindest spätestens nachdem sie das 35. Altersjahr zurückgelegt haben, wie Jakub Samochowiec sagt. Gemäss einer für die Studie durchgeführten Umfrage fühlen sich 60bis 70-Jährige im Schnitt 12 Jahre jünger als ihr biologisches Alter. Unser Bild vom Altern sei noch bestimmt von jenem in einer industriellen Zeit – in dem wir uns heute nicht wiedererkennen würden. Ein neues Bild entwerfen Klischees vom Altern und von alten Menschen kennen wir alle. Sie sind bei den meisten von uns durch die eigenen Grosseltern und deren Generation geprägt. Graue Haare und körperliche Gebrechen lassen uns Menschen auf der Strasse als «alt» identifizieren. Ältere Menschen aber nur anhand ihres Aussehens einzuordnen, berge Tücken, erklären die Autoren der Studie. Wer den Klischees nicht entspreche, werde nicht als alter Mensch erkannt und könne folglich auch das Bild des Älterwerdens anderer nicht beeinflussen. Deshalb, folgern die Autoren der Studie, gingen jüngere Menschen von einem sehr konservativen Stereotyp des Älterwerdens aus. Generell würden sich junge Leute wenig Gedanken über die Zeit nach der Pensionierung machen. – Das ändert sich indes frappant, wenn man selbst kurz vor der Pensionierung steht. Für die Ältesten der Generation der Babyboomer (die Jahrgänge der zwischen 1946 und 1964 Geborenen) ist dieser Fall bereits eingetreten oder steht bald an. Da kommt manchem der Song von Udo Jürgens in den Sinn, der bereits 1977 sang: «Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an.» Erst wer die Pensionierung erreicht, entdeckt, wie viel Zeit und Geld noch bis ans Lebensende zur Verfügung stehen. Die Pensionäre haben viele Freiheiten, zu bestimmen, was sie damit noch anfangen wollen. Von Rebellen und anderen Tatsächlich könnte im 21. Jahrhundert der prägende Begriff «Generation Gold» sein, schreiben die Autoren, genauso wie im 19. Jahrhundert die Idee einer Kindheit und im 20. Jahrhundert die des Teenageralters auftauchte. Menschen, die im klassischen Sinne alt seien, würden, statt von der Bildfläche der Gesellschaft zu verschwinden, sich neu in ihrer Mitte etablieren können. Die gute Gesundheit der älteren Menschen und neue Technologien trügen dabei massgeblich zur Aufwertung des Lebensabends bei. In der Studie zeichnen die Autoren vier verschiedene Szenarien für das Altsein der Zukunft, die quasi die Eckpunkte oder Extreme darstellen, die denkbar sind, sich aber auch vermischen können: die konservativ, die rebellisch, die vorausschauend und schliesslich die niemals Alternden. Konservativ Alternde entsprechen am ehesten dem gängigen Klischee von älteren Menschen. Sie nutzen keine neuen Technologien, sondern lesen die gedruckte Zeitung und lassen alte Gegenstände und Geräte reparieren, statt neue zu kaufen. Sie legen eine gewisse Genügsamkeit an den Tag, sind Neuem gegenüber misstrauisch und sind gegen Ende ihrer Arbeitszeit auch nicht mehr sehr flexibel einsetzbar. Sie hüten ihre Enkel, sind gesellschaftspolitisch konservativ und könnten, falls sie in grosser Zahl aufträten, politisch den gesellschaftlichen Wandel bremsen. Ganz anders die Rebellen: Sie können sich mit dem Label «Alt» nicht abfinden und würden den Begriff am liebsten ganz aus ihrem Wortschatz verbannen. Die Zeit nach der Pensionierung nutzen sie, um in ihrem bisherigen Leben aufzuräumen und nochmals durchzustarten. Die Rebellen tragen keine unauffälligen beige-grauen Kleider, sondern gehen mit der Mode. Auch das neuste Smartphone zu besitzen, gehört für sie selbstverständlich dazu. Sie besuchen wieder die Universität oder bilden sich fort und haben eine ausgeprägte Reiselust. Plastische Chirurgie ist für sie eine Option, jedoch sollte diese flexibel, mobil und diskret sein. Die Rebellen unterscheiden nicht mehr klar zwischen Pensionierung und dem Leben danach und bringen noch lange nach dem Ruhestand neue Projekte ins Rollen, beispielsweise indem sie ein Bed and Breakfast leiten. Klassische Religionen haben für sie ausgedient, das Göttliche wird in einer anderen Spiritualität gesucht. Auch alternative Heilmethoden wie Homöopathie sprechen die Rebellen an. Sie sind offen für gesellschaftliche Neuerungen wie Drogenliberalisierung, Adoptionen durch gleichgeschlechtliche Paare oder vereinfachte Sterbehilfe. Die Vorausschauenden sind ähnlich wie die Konservativen, ausser dass sie bewusst neue Technologien für die Vermessung ihrer selbst anwenden, um ihre Gesundheit und damit ihre Lebensqualität zu bewahren. Sie nutzen ihre Gesundheit überwachende Apps auf mobilen Endgeräten. Dazu gehören auch Kontaktlinsen, die den Blutzuckerwert messen, Schmuck, Sensoren oder Implantate, die grosse Mengen an Gesundheitsdaten speichern. Diese werden an grosse Händler verkauft, die in gesammelten Datenpools Muster erkennen und individuelle Vorschläge zu Ernährung, Bewegung oder Medikamentendosierung machen. Der Gesundheitsmarkt werde boomen, sagen die Autoren voraus. Selbstschädigendes Verhalten wird geächtet, allenfalls auch von Versicherungen bestraft, worunter der Solidaritätsgedanke leiden wird. Da diese Gruppe sehr lange lebt, ohne ökonomisch produktiv zu sein, wird sie die Gesellschaft sehr viel Geld kosten. Damit könnte der Gesundheitsboom gedämpft werden, und ungesundes Verhalten, das zu einem früheren Tod führt, würde plötzlich wieder belohnt. «Forever young» Die letzte Gruppe will das Altern ganz umgehen und letztlich, falls möglich, unsterblich werden. Sie sind sogenannte Transhumanisten, das heisst, sie verwenden eine Vielzahl von technischen Hilfen und Erzeugnissen der regenerativen Medizin, um die Grenzen des menschlichen Körpers zu sprengen. Augen und Ohren würden besser sehen und hören als jemals zuvor, fehlende oder verbrauchte Gliedmassen würden durch Robotik ersetzt. Plastische Chirurgie, die das wahre Alter nicht mehr erkennen lässt, gehört dazu. Wer einmal den Begriff «Bodymodders» googelt, kann sich ungefähr eine Vorstellung davon machen, was bereits möglich ist. Hier, schreiben die Autoren der Studie, mische sich auch etwas Science-Fiction mit hinein. Technisch sei heute bereits vieles möglich, an dessen Realisierung noch gar niemand gedacht habe. In der Hymne «Forever young» von Alphaville antwortet der Refrain sich gleich selbst: «Willst du wirklich für immer leben?» Das Fehlen des Todes, wohin die Optimierung des Körpers letztlich führen würde, hat aus Sicht der Studie viele Nachteile, da alles im Leben eine gewisse Beliebigkeit bekommen würde. Gesendet aus der iPad-App der « Neuen Zürcher Zeitung » : https://itunes.apple.com/ch/app/nzz-e-paper/id394153179?mt=8
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