Was soll das sein? - Toleranz Fabrik eV

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HIV
Was soll
das sein?
Die Roten Rebellen kämpfen im Würzburger Nachtleben
für Safer Sex. neun7 hat sich‘s angeschaut und wichtige
Informationen über das HI-Virus für dich zusammengestellt
E
s ist kurz nach ein Uhr nachts, die Luft schweiß- und rauchgeschwängert, das Licht grell. Nicole streift den Riemen ihrer Umhängetasche
über den Kopf und lässt das Ding kurzerhand neben sich auf den Boden
plumpsen. Hier, im erstaunlich schmucklosen Dachgeschoss der Würzburger
Odeon Lounge, verschiebt sich in just diesem Moment ein Weltbild. Die junge
Frau sitzt auf den Treppenstufen und seufzt. „Ich bin schockiert“, sagt sie:
„Der Typ hat gemeint, er braucht keinen Gummi, weil's mit Kondom keinen
Spaß macht. Ich fass' es echt nicht.“ Der Typ ist nicht Nicoles Typ. Und wenn,
wäre er es die längste Zeit gewesen, keine Frage. Trotzdem ist sie wie von der
Rolle. Zuerst erstaunt, dann fassungslos, schließlich sauer. Sie ist jedoch nicht
die Einzige, die an diesem Abend dämliche bis dumme Antworten kassiert.
Gemeinsam mit einem Dutzend anderer junger Leute tingelt sie durch das
Würzburger Nachtleben, verteilt kostenlos Kondome, klärt über HIV und
Geschlechtskrankheiten auf. Nicole gehört zu den Roten Rebellen, einer
Aktion, die für Verkehr mit Gummi wirbt: Safer Sex ist sexy.
AIDS steht für „Acquired Immune Deficiency
Syndrome“. Eine Immunschwächekrankheit, die durch das „Humane Immundefekt Virus“ (HIV) ausgelöst wird. Hat sich ein
Mensch mit HIV infiziert, befällt das Virus seine
Abwehrzellen – die T4-Helferzellen – und zerstört
sie. Bislang gibt es kein wirksames Mittel, das die
Viren bekämpft, sondern nur Medikamente, die seine
Ausbreitung hemmen. Ohne weitere Behandlung
bricht das Immunsystem nach einigen Jahren
zusammen. Der Organismus ist dann nicht
mehr in der Lage, ansonsten harmlose
Erreger abzuwehren und der
Mensch stirbt.
Typen wie Nicoles Kondom-Verweigerer sind Erklärung genug, weshalb sich
in einem (scheinbar) aufgeklärten Fleckchen Erde wie Deutschland Jahr für
Jahr erneut viele Hundert Menschen mit dem nach wie vor unheilbaren HIVirus infizieren. Und sie sind Erklärung genug, warum Aktionen wie die der
Roten Rebellen so wichtig sind. Der HI-Virus und Aids, die Schreckgespenster
der späten 80er Jahre – sie verblassen langsam in der Erinnerung oder sind
mangels Lebensalter gar nicht vorhanden. Dagegen kämpfen die Roten Rebellen. Nicole hat sich gesammelt, sie trinkt einen Schluck, bestückt ihre Umhängetasche mit neuen Kondomen, Flyern mit Logo und Internetadresse der
Rebellen und ein paar Kaugummis. Es geht weiter – auf in den nächsten Club.
Am Ende der Aktion werden die acht Jungs und Mädels
in ihren roten T-Shirts knappe vier Stunden
unterwegs gewesen sein, ehrenamtlich, für lau, für die gute Sache, für
das Leben und die Gesundheit
Das HIVirus überträgt sich
meist durch den Austausch
von Blut, Sperma oder Vaginalsekret. Nach Angaben des Robert
Koch-Instituts sind im Jahr 2009 rund
72 Prozent der Neuinfektionen bei Männern geschehen, die Sex mit Männern
haben, 20 Prozent durch heterosexuelle Kontakte, und acht Prozent durch Drogengebrauch.
Report: Daniel Staffen-Quandt; Fakten: Sophia Reimers; Fotos: Daniel Peter; Grafik: Thinkstock
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anderer. Als Blickfang haben sie je zwei Gogo-Tänzerinnen und -Tänzer dabei.
Nur Gummis zu verteilen, das zieht nicht mehr.
Knappe drei Stunden zuvor, in den Büroräumen der Diskothek Airport in der
Gattinger Straße, nimmt die Aktion ihren Anfang. Die acht Promoter bepinseln die Tänzer mit dem Rebellen-Logo, Aidsschleife samt Fünfzackstern. Die
beiden Initiatoren Tobias Eppler und Markus Sieber geben dem Team letzte
Instruktionen. „Ihr müsst direkt auf die Leute zugehen, sie ansprechen, ihnen
dabei Flyer und Kondom in die Hand drücken“, sagt der 24-jährige Eppler. Nur
so kommen die Rebellen halbwegs zügig durch die vollen Discos und erreichen
viele Gäste.
Der Bedarf für die Aktion ist riesig, ist Eppler überzeugt. „Ich habe in Nürnberg
bei einer Party für die Aidshilfe ausgeholfen“, erinnert er sich. Dort habe es
eine ganz ähnliche Aktion gegeben. Anschließend nahm er Kontakt mit Markus
Sieber von der Toleranz-Fabrik auf, um so etwas auch in Würzburg auf die Beine zu stellen, erklärt der 24-Jährige. Dort rannte er offene Türen ein. „Schwule
bekommen auf jedem CSD, jeder Party überall Kondome“, sagt Sieber: „Das
Ende 2009 lebten
in Deutschland laut
dem Robert Koch-Institut
etwa 67 000 Menschen mit
HIV. Jedes Jahr kommen rund
3000 neu Infizierte hinzu. Die
meisten sind zwischen 25
und 45 Jahre alt.
ist bei Heteros nicht so und wir wollen das schnellstmöglich ändern.“ Die Aktionen der Roten Rebellen laufen deshalb unter dem Dach des Würzburger
schwul-lesbischen Vereins, finanziert werden die Kondome, Flyer, Kaugummis
und Gogo-Tänzer von den Erlösen des „fashion menue“, der jährlichen CharityGala in der Residenz am Welt-Aids-Tag. Richtige Aufklärung, räumt Eppler ein,
ist bei dieser Aktion kaum möglich. „Zu laut, zu viel Alkohol“, sagt er. Und zu
wenig Interesse bei den Feierwütigen. „Würde die Aidshilfe Würzburg in den
Clubs aufmarschieren, würde sie wahrscheinlich ignoriert“, ist Eppler sicher.
Also Rote Rebellen, ist eingängiger, bleibt auch
Angetrunkenen bis zum nächsten Tag
im Kopf, ist irgendwie kreativ, ungewöhnlich, sexy. Sagen jedenfalls die
Macher. Die insgesamt acht Promoter, Initiator Tobias Eppler
1988 riefen die Vereingeschlossen, machen sich
einten Nationen erstmals
auf den Weg ins Getümmel.
den Welt-Aids-Tag aus. Seitdem
Rund zwei Drittel aller HIV-Infizierten
leben in Afrika südlich der
Sahara. In einigen Regionen sind 20
bis 40 Prozent der Menschen zwischen 15
und 49 Jahren infiziert. Experten erwarten
jedoch, dass in wenigen Jahren in Asien noch
mehr Menschen infiziert sein werden als in
Afrika. Verschärft wird die Lage nach Angaben
der WHO dadurch, dass in armen Regionen
weniger als ein Viertel der Betroffenen
Zugang zu lebensverlängernden,
antiretroviralen Medikamenten hat.
Im Airport wummern die Bässe, aus jedem Winkel der
verschachtelten Diskothek hämmert andere Musik
auf die Besucher ein. Das Publikum, die meisten
zwischen 18 und 20 Jahre jung, reagiert wie gewünscht auf die Aktion. Es wird geguckt, gekichert, Gummi genommen.
Die 18-jährige Alena ist begeistert. „Die
halbnackten Männer sind schön“, sagt sie,
während sich ihre Freundin peinlich berührt
kichernd zur Seite dreht. „Und das mit den
Kondomen find' ich auch gut.“ Vor allem wegen der Jungs, die meistens dächten, Verhütung sei allein Frauensache. „Jetzt haben die
auch selbst mal eines dabei und können sich
nicht rausreden, sie wollten lieber mit, haben
aber keins“, sagt die junge Frau. Unterdessen
Eine HIV-Infektion
verläuft meist in drei
Stadien. Bis zu sechs Wochen
nach der Ansteckung bekommt
der Infizierte Beschwerden wie Fieber,
Übelkeit und Hautausschläge. Danach folgt
die Latenzphase, in der keine gravierenden
Symptome auftreten. Die kann mehrere Jahre
dauern. Die Diagnose Aids wird gestellt,
wenn das Immunsystem durch das Virus
so geschwächt ist, dass es ansonsten
harmlos verlaufende Infektionen
nicht mehr bewältigen
kann.
wird er in jedem Jahr am 1. Dezember
begangen. In Deutschland veranstalten
die Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung, das Bundesministerium für
Gesundheit, die Deutsche AIDS-Hilfe
und die Deutsche AIDS-Stiftung
die Aktion „Gemeinsam
gegen Aids“.
Jede Minute
infizieren sich zehn
Menschen mit HIV. Das sind
fünf Millionen pro Jahr. 2009
lebten mehr als 33 Millionen
HIV-Infizierte auf der Welt.
Täglich sterben rund 8000
Menschen an Aids.
kämpfen sich die Rebellen durchs Airport, die Kondome landen meist in den Hosentaschen, die Flyer
auf dem Boden.
Die beiden Gogo-Paare tanzen sich von Stange zu Stange durch die verschiedenen Räume
des Airport, die Jungs stehen mit riesengroßen Augen vor den zwei leichtbekleideten
Mädchen, die Münder weit aufgesperrt, die
Mädels schauen den beiden Tänzern mit
ihren babypopoglatten Brüsten lieber aus
einer sicheren Entfernung zu. Die Show
dauert keine 20 Minuten, dann sind alle Gäste mit Gummis versorgt, die acht Promoter
ziehen sich zurück, die Tänzer im Schlepptau.
Backstage werfen sie sich ihre Jacken und Taschen um und weiter geht's.
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Laut der
WHO gelten in 51
Staaten und Territorien der
Erde Einreiseverbote für HIV-infizierte Ausländer. Zum Beispiel in
Australien, Neuseeland und Kuba. In
die USA dürfen erst seit Anfang 2010
HIV-positive Ausländer einreisen. 23
Länder deportieren Landfremde,
deren Infektion nach der Einreise entdeckt wird.
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In der Odeon Lounge wiederholt sich das Prozedere: Backstage umziehen, einen Schluck trinken, Kondome in die Taschen packen, die Gogo-Tänzerinnen
stylen sich noch einmal, dann raus ins Getümmel. Auch die Gäste in der
Nobeldisko reagieren zunächst recht positiv, nehmen die Verhüterli, Flyer und Kaugummis von den Promotern an, die Tänzerinnen und Tänzer
räkeln sich im Scheinwerferlicht. „Cool“, sagt Diana, als man ihr einen Gummi in die Hand drückt: „Gestern hab’ ich mich von meinem
Freund getrennt, ich kann's brauchen.“
Auch Lisa ist zufrieden, sie hat gleich drei Kondome abgestaubt:
„Wenn man's in der Tasche hat, benutzt man's eher. Wenn du keines dabei, aber Bock hast, lässt du's auch mal weg – auch wenn du
eigentlich weißt, dass das vollkommen bescheuert und gefährlich
ist.“ Die 18-jährige Maria ist da vernünftiger: „Ohne Gummi geht
ja echt gar nicht, wenn das nicht der
eigene Freund ist und man ihn
kennt. Wer so etwas macht,
Beim
kostenlosen
HIV-Test wird das Blut auf
Antikörper untersucht, die sich
drei Monate nach der Infektion
bilden. In Deutschland muss
ein positives Ergebnis dem
Robert Koch-Institut
gemeldet.
Seit das HI-Virus
in den 80er Jahren entdeckt wurde, suchen Forscher
nach einem Impfstoff. Die Schwierigkeit: Der Erreger wechselt ständig seine
Gestalt, indem er Eiweiße auf der Oberfläche
verändert. Immer wieder machten vielversprechende Meldungen Hoffnung auf Heilung und
brachten bisher nur Enttäuschungen. Die neueste stammt von Anfang Juli: Amerikanische
Forscher entdeckten zwei Antikörper,
die 90 Prozent aller bekannten HIViren-Stämme ausschalten.
bei dem ist doch Hopfen und Malz
verloren.“ Sie freut sich auch
deshalb über das GratisKondom, „weil die Dinger
so teuer sind“.
Doch nicht alle sind
so begeistert. Es gibt
tatsächlich Gäste, die
mit den Promotern
hitzig diskutieren,
wieso und warum
sie keine Gummis
annehmen wollen.
„Ihr habt doch eh' keine in XL dabei“, prollt
ein geschniegelter Typ
die Rebellen an. Zunächst. Als sie ihm Contra geben, sinniert er darüber, dass gen von den Hunderten Flyern und Kaugummis. Damit dürften sie einige unge„HIV bei den Gästen hier doch gar kein Thema ist“, sondern etwas, das „viel wollte Schwangerschaften und – noch viel wichtiger – so manche Ansteckung
eher arme und sozial schwache Menschen“ betrifft. Ah so. Bei solchen Typen mit einer Geschlechtskrankheit oder gar dem HI-Virus verhindert haben. Nur
versagen auch die sonst so schlagfertigen Roten Rebellen. Dumm geboren, gegen die hohlen Sprüche einiger Gäste helfen auch die kostenlosen Kondome
dumm gestorben. Punkt.
nicht. Oder besser gesagt: Nicht mehr.
Szenenwechsel, eine knappe halbe Stunde später in der „Bombe“. Das Publikum
etwas älter, etwas betrunkener, die Musik schwerer erträglich. Die Gogo-Tänzer erklimmen den Tresen und die Musikboxen, viel mehr Platz zum Tanzen
Du willst die „Roten
gibt es in dem Wohnzimmerwohlfühlatmosphärenclub ohnehin nicht. „Gute
Rebellen“
treffen? Sie
Aktion“, sagt ein Gast. Aber eigentlich sei das hier „wohl nicht so der richsind wieder unterwegs
tige Ort für Aids-Aufklärung“. Die Gäste seien schließlich gebildet genug, sagt er. Genau deshalb benutzen einige dieser Bildungsbürger
am Freitag, 15. Oktober,
die teuren Gummis auch just als Luftballons …
im Cineworld, im
Die Rote Schleife ist
Am Ende dieser Nacht, nach der vierten und letzten Station im
Airport,
im Odeon und
das Symbol für Solida„Kamikatze“, morgens gegen 2.30 Uhr, haben die Roten Rebellen
im Zauberberg.
rität mit HIV-Infizierten. Die
rund 2500 Kondome unters Partyvolk gebracht, ganz zu schweiFarbe Rot steht für Liebe und
Blut, aber auch für die Gefährlichkeit der Krankheit und die
mit ihr verbundenen sozialen Probleme.
26 Neuinfektionen
gab es 2009 in Unterfranken. Doch es sind sicher
nicht alle erfasst. Michael Koch
von der Aids-Beratung Unterfranken schätzt, dass 30 Prozent der
Infizierten nichts von ihrer
Infektion wissen.
Nur weniger als
ein Drittel (rund
29 Prozent) der Deutschen hält Aids für eine
der gefährlichsten Krankheiten der Welt.
Das einzige Mittel
gegen Aids ist Prävention.
Deshalb gibt es viele Aufklärungskampagnen, die in den letzten Jahren
einen Erfolg verbuchten: Seit 2007 benutzen 85 Prozent der von der Bundeszentrale
für gesundheitliche Aufklärung Befragten mit
mehreren Sexualpartnern regelmäßig Kondome. Das sind acht Prozent mehr als noch
im Jahr 2004. Auch die Kondomnutzung
zu Beginn neuer Beziehungen hat
sich seit 2004 von 70 auf 81
Prozent erhöht.