Griechische Metrik

Griechische Metrik
Der Sophist Gorgias definiert im 5. Jahrhundert v. Chr. Dichtung als Rede, die metrisch gebunden
ist (λόγος μέτρον ἔχων). Die Poesie zeichnet sich also vor allem dadurch vor der Prosa aus, dass
in ihr die Silben nach bestimmten Regeln angeordnet sind. Im D e u t s c h e n beruht diese Anordnung der Silben auf einer geregelten Abfolge von betonten und unbetonten Silben (dynamischer
Akzent → akzentuierende Metrik). Die Akzentsetzung innerhalb eines Verses erfolgt in Übereinstimmung mit dem natürlichen Wortakzent.
Sag, welche Arbeit übst du aus, sag, welch᾽ Gewerb᾽?
Den Herden folgt᾽ ich nach des Lebens längste Zeit.
An welchen Orten warst du meist mit ihn᾽n zusamm᾽n?
Mal im Kithairon, mal auf nachbarlicher Flur.
Ödipus
Hirte
Ödipus
Hirte
(Soph. König Ödipus, 1124 - 1127)
Für den g r i e c h i s c h e n Vers hingegen beruht die Anordnung der Silben auf einem geregelten
Wechsel von langen und kurzen Silben (→ quantitierende Metrik). Die Akzentsetzung erfolgt
unabhängig vom Wortakzent. Eine lange Silbe bezeichnet man als longum (−), eine kurze als
breve (∪). An manchen Stellen bestimmter Versmaße kann entweder eine Länge oder eine Kürze
stehen (anceps, ×).
ἔργον μεριμνῶν ποῖον ἢ βίον τίνα;
ποίμναις τὰ πλεῖστα τοῦ βίου συνειπόμην.
χώροις μάλιστα πρὸς τίσι ξύναυλος ὤν;
ἦν μὲν Κιϑαιρών, ἦν δὲ πρόσχωρος τόπος.
Οἰδίπους
Ποιμήν
Οἰδίπους
Ποιμήν
(Σοϕ. Οἰδίπους Τύραννος, 1124 - 1127)
Quantität der Silben
Eine Silbe gilt als kurz,
• wenn sie einen kurzen Vokal enthält und keine Positionslänge vorliegt (s.u.).
Eine Silbe gilt als lang,
• wenn sie einen langen Vokal oder einen Diphthong enthält (→ Naturlänge)
• wenn auf einen kurzen Vokal mindestens zwei Konsonanten bzw. ein Doppelkonsonant
(ζ, ξ oder ψ) folgen, da sich der Zeitaufwand verlängert, den man für die Artikulation der
Silbe benötigt (→ Positionslänge).
o
Silben mit einem kurzen Vokal vor einer der folgenden Konsonantenkombinationen („muta cum
liquida“→ „stumm mit flüssig“) können metrisch als kurz gelten, da λ, ρ, μ und ν als „Fließlaute“
vokalischen Charakter haben. Im klassischen lateinischen Vers bewirkt diese Kombination nur
selten Positionslänge, hingegen fast immer bei Homer1. Zu beachten ist, dass bei der Positionslänge
nicht der Vokal, sondern nur die Silbe lang wird.
muta cum liquida
π (Lippenlaute)
β
ϕ
τ (Zahnlaute)
δ
ϑ
κ (Gaumenlaute)
γ
χ
kombiniert mit
λ, ρ, μ oder ν ⇒
πλ
βλ
ϕλ
τλ
ϑλ
κλ
γλ
χλ
πρ
βρ
ϕρ
τρ
δρ
ϑρ
κρ
γρ
χρ
τμ
δμ
-
πν
ϑν
κν
γν
-
Eine lange Silbe gilt als doppelt so lang wie eine kurze.
1
Ausnahmen von dieser Regel nur in der Senkung vor einem muta-cum-liquida-Anlaut (z.B. πτερόεντᾰ προσηύδα)
Metrik, Griechische (07.09.2015)
Versbildung
Die kleinste Einheit innerhalb eines Verses ist die Silbe. Die nächst größere Einheit ist der
sogenannte Versfuß, der zwei- bis fünfsilbig sein kann. Außer beim Jambus (∪ −), Trochäus
(− ∪) und Anapäst (∪ ∪ −) ist der Versfuß mit der nächst größeren Einheit, dem Metron,
identisch. Bei den drei genannten Versfüßen bilden zwei Versfüße ein Metron. Innerhalb eines
Metrons gibt es jeweils rhythmisch hervorgehobene Silben, sog. Hebungen (die wir mit dem
Versakzent versehen), während man alle andere Silben als Senkungen bezeichnet.
Der Dialogvers der attischen Tragödie ist der jambische Trimeter:
∪ − ∪ −|∪ − ∪ −| ∪ − ∪ −
Der erste, dritte und fünfte Jambus des Trimeters kann auch durch eine Folge von zwei Längen,
einen sogenannten Spondeus (− −), ersetzt werden. Gelegentlich kommt es vor, dass zwei kurze
Silben an die Stelle einer langen treten. Die Endsilbe eines Verses kann auch kurz sein. Sie gilt
aber als lang, wenn sie geschlossen ist, d.h. wenn sie auf einen Konsonanten endet (z.B. τόπος in
Vers 1127).
In den Versen 1124 - 1127 liegt folgende Silbenfolge vor:
Aufgaben:
1. Notieren Sie die Silbenfolge der Verse 8 - 11 in Kantharos 26.
2. Übersetzen Sie die Verse im jambischen Trimeter.
Hiat
In der Entwicklung der griechischen Dichtung hat man zunehmend versucht, das Aufeinandertreffen eines auslautenden Vokals mit einem anlautenden zu vermeiden (sog. Hiat, von lat.
hiātus, Kluft, offenstehender Mund). Bei Homer und Hesiod kommen bisweilen noch echte Hiate
vor. Die Dichter versuchen aber nach Möglichkeit, den Hiat zu vermeiden. Dazu gibt es die
folgenden Mittel:
1. Elision (elisio - Ausstoßung): Ein kurzer auslautender Vokal fällt weg. Dies ist im Schriftbild
durch einen Apostroph sichtbar gemacht (Hom. Od. 1.44: τὸν δ᾽ ἠμείβετ᾽ ἔπειτα).
2. Aphairese (ἀϕαίρεσις - Wegnahme): Ein kurzer anlautender Vokal fällt nach einem langen
auslautenden weg (Soph. Ant. 389: ψεύδει γὰρ ἡ ῾πίνοια1).
1 für ἐπίνοια - Plan
3. Hiatkürzung: Eine mit langem Vokal oder Diphthong schließende Silbe wird, wenn sie in der
Senkung des Daktylus steht, vor vokalischem Anlaut gekürzt (Hom. Od. 1.1: ἄνδρα μοῐ
ἔννεπε).
4. Krasis („Mischung“): Der auslautende und der folgende anlautende Vokal werden zu einer
einzigen Länge verschmolzen (καὶ ἔπειτα > κἄπειτα).
Bei Homer und Hesiod begegnet man zahlreichen scheinbaren Hiaten, die daher rühren, dass ein
ursprüngliches im Laufe der Sprachgeschichte ausgefallen ist und daher im Text nicht sichtbar
ist. Auch wenn Homer selbst das wohl nicht mehr gesprochen hat, hat er es aber in seiner metrischen Wirkung wie einen Konsonanten berücksichtigt, sodass es in Kombination mit einem
weiteren Konsonanten trotz seines Schwunds Positionslänge bewirkt.
Metrik, Griechische (07.09.2015)
Der daktylische Hexameter
Er ist der älteste Vers der griechischen Literatur und hat in der epischen Dichtung von
Homer (8. Jh. v. Chr.) bis ins späte Altertum keine wesentliche Änderung erfahren. Er
besteht aus 6 (ἑξα-) als Metren geltenden Daktylen (− ∪ ∪), deren letzter jedoch durch
Katalexe (Verkürzung) zweisilbig ist. Seine ersten vier Daktylen können durch Spondeen
(− −) ersetzt werden, der fünfte nur selten. So ergibt sich folgendes Schema:
(
)
—∪
∪∪ |—∪∪
∪∪|—∪∪
∪∪|—∪∪
∪∪|—∪∪
∪∪|—∪
∪
∪∪
∪∪
∪∪
∪∪
Aufgabe: Tragen Sie die Longa und Brevia über dem Text ein!
Ἄνδρα μοι ἔννεπε, Μοῦσα, πολύτροπον, ὃς μάλα πολλὰ
πλάγχϑη, ἐπεὶ Τροίης ἱερὸν πτολίεϑρον ἔπερσε·
πολλῶν δ᾽ ἀνϑρώπων ἴδεν ἄστεα καὶ νόον ἔγνω,
πολλὰ δ᾽ ὅ γ᾽ ἐν πόντῳ πάϑεν ἄλγεα ὃν κατὰ ϑυμόν,
ἀρνύμενος ἥν τε ψυχὴν καὶ νόστον ἑταίρων.
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ἀλλ᾽ οὐδ᾽ ὧς ἑτάρους ἐρρύσατο, ἱέμενός περ·
αὐτῶν γὰρ σϕετέρῃσιν ἀτασϑαλίῃσιν ὄλοντο,
νήπιοι, οἳ κατὰ βοῦς Ὑπερίονος Ἠελίοιο
ἤσϑιον· αὐτὰρ ὁ τοῖσιν ἀϕείλετο νόστιμον ἦμαρ.
τῶν ἁμόϑεν γε, ϑεά, ϑύγατερ Διός, εἰπὲ καὶ ἡμῖν.
10
ἔνϑ᾽ ἄλλοι μὲν πάντες, ὅσοι ϕύγον αἰπὺν ὄλεϑρον,
οἴκοι ἔσαν, πόλεμόν τε πεϕευγότες ἠδὲ ϑάλασσαν·
τὸν δ᾽ οἶον, νόστου κεχρημένον ἠδὲ γυναικός,
νύμϕη πότνι᾽ ἔρυκε Καλυψώ, δῖα ϑεάων,
ἐν σπέεσι γλαϕυροῖσι, λιλαιομένη πόσιν εἶναι.
Metrik, Griechische (07.09.2015)
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