oben und Unten Zwei Welten auf Lesbos Funktioniert besser: Hilfe von unten W enn ich nach meiner Nachtschicht zu Bett gehe, dann ziehen sie alle noch einmal an mir vorbei: die 20-köpfige Familie aus dem Iran, der Sprachstudent aus Kabul, das verängstigte Geschwisterpaar aus Syrien, die elegante Frau aus Eritrea, die wie eine Königin aus den Lumpen ragt, die beiden irakischen Kinder, die fröhlich singend Hand in Hand mit mir in die Unterkünfte marschieren. Sie alle und noch viele mehr begleite ich jeden Abend in das ehemalige Militärgefängnis, heute «Family Compound». Alte Männer und Frauen, Menschen im Rollstuhl, Intellektuelle, Bauern, wissbegierige Jugendliche und so viele Kinder. In jedes der 20 Zwölfbettzimmer legen wir 40 Menschen. Das von der griechischen Regierung und der UNHCR für 180 Menschen angelegte Flüchtlingslager Moria ist mit vielen tausend Menschen jede Nacht hoffnungslos überfüllt. Viele schlafen im Freien. Nach durchschnittlich fünf bis acht Tagen erhalten sie Papiere und reisen weiter nordwärts. Als Freiwillige musste ich oft schwere Entscheidungen blitzschnell treffen: Darf ich dem durstigen Kind Wasser geben oder wollen dann alle Wasser und die Reihe der 800 Wartenden löst sich in Chaos auf? Darf ich der kranken Frau eine zweite Decke geben und riskieren, dass später in der Nacht durchgefrorene Flüchtlinge leer ausgehen? Soll ich zuerst dem Baby Milch geben oder seiner Mutter aus den nassen Sachen helfen? Muss ich alle warten lassen und die schwangere Frau sofort ins Medizinzelt bringen? Manchmal könnte man schreien vor Verzweiflung, wie wenig man wirklich helfen kann! Und einige von uns tun es auch. In Stress und Überforderung brüllen sie verängstigte Flüchtlinge an. Wenn das geschieht, wird man von einem Kollegen ins Teamzimmer gebracht, kriegt einen Tee und hat Zeit, sich zu beruhigen. Ohne Freiwillige würde auf Lesbos fast nichts laufen: wir ziehen Menschen aus dem Meer, geben ihnen trockene Kleidung und zeigen Zeitpunkt 142 ihnen den Weg zu Bus und Fähre; wir geben ihnen so gut wie möglich medizinische Versorgung, ein Abendessen und manchmal einen trockenen Schlafplatz und räumen die Strände wieder auf – alles im Eiltempo, viele Stunden am Tag. Stunden des Wartens wechseln sich ab mit dem Wunsch, acht Hände zu haben. Für menschlichen Austausch keine Zeit, denn dahinter warten die nächsten. Immer wieder sage ich mir: Einigen konnte ich helfen. Einigen habe ich durch mein Lächeln, durch eine Handreichung, durch ein paar Socken oder eine Mahlzeit den Tag besser, leichter, sicherer gemacht. Das «Village of All-Together» ist ein Paradies verglichen mit Moria. Dieses kleine Camp einer Graswurzelinitiative von Griechen hat 150 Plätze in Holzbaracken und nimmt Menschen auf, die länger auf der Insel bleiben müssen. Weil sie einen Angehörigen verloren haben, weil sie verletzt oder traumatisiert sind, weil sie gerade geboren haben oder – was selten vorkommt – weil sie hierbleiben wollen. «Ob Flüchtlinge, Freiwillige oder Besucher, wir sind eine Gemeinschaft», erklärt LangzeitFreiwillige Mareike. «Ihr seid Teil davon, indem ihr eingetreten seid. Übernehmt Verantwortung, findet eine Aufgabe, ändert, was ihr nicht richtig findet, und vor allem: habt Spass dabei!» von Leila Dregger Andere legen Hügelbeete für den Gemüsegarten an. Fade, Familienvater aus Syrien, hat sich entschieden, auf Lesbos zu bleiben, möglichst nah der Heimat. «Meine Frau und ich wollen nicht dem Plastiktraum nach Deutschland folgen. Wir wollen zurück, wenn der Krieg vorbei ist. Solange helfen wir anderen Flüchtlingen.» Fade hat eine Anstellung im Camp gefunden, sein ältester Sohn geht auf Lesbos zur Schule. Fades Traum ist, dass das Village of All-together ein echtes Ökodorf wird, mit Biogasanlagen, Solarsystemen und Regenwasserspeicherung. «Wir brauchen diese Erfahrung, um Syrien nach dem Krieg wieder aufzubauen. Ich bin allen dankbar, die nach Lesbos kommen und ihr Wissen über Nachhaltigkeit mit uns teilen.» Mein Spass besteht im täglichen Kloputzen. Jeden Tag kommt jemand anderes zum Helfen, Bijau aus Algerien mit der eingeschlagenen Nase, Daghr aus Kurdistan, der immer sehnsüchtig «Alemania» ruft oder die elfjährige Muna aus Syrien. Sie sind hier gestrandet und warten: auf Angehörige, auf Papiere, auf das Kriegsende. Andere schälen Kartoffeln –das Village produziert täglich 700 Mahlzeiten für die grossen Camps – oder sortieren Kleiderspenden, die an den Stränden verteilt werden. Ein Team von Holländern und Syrern zerlegt Rettungswesten, von denen Tausende an den Stränden zu finden sind, bastelt daraus Isomatten oder näht Taschen: Upcycling nennt man das. 29
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